Heft 05/2014
Für eine kurze, lange Minute
Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa
Broschur mit 120 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Wenn im Mai in Berlin das traditionelle Theatertreffen der Berliner Festspiele über die Bühne geht, sind wir dabei. Zwar nicht richtig, also nicht drinnen, nicht in der Jury, wie Igor I. Karamasow weiß: „Wir müssen draußen bleiben.“ Von da aus steuern wir aber gerne noch Material zur Leistungsschau bei, unveröffentlichtes Material, wie etwa die Reflexionen über Kunst und Theater, die Dimiter Gotscheff wenige Monate vor seinem Tod mit Wolfram Koch, Samuel Finzi und Michael Eberth teilte. Dort, in Gotscheff’s Last Tape, spricht er zum Beispiel über die Vorbereitungen für die zum Theatertreffen eingeladene Inszenierung von Heiner Müllers „Zement“ am Münchner Residenztheater. Die Rolle der Njurka spielt hier die Schauspielerin Valery Tscheplanowa. „Sie spricht, singt, ja tanzt diese Texte, als seien sie ihr in den Körper gefahren, der über dem Boden zu schweben scheint. Es ist dies einer jener Momente, in denen alles möglich ist. Sagenhaft, in jeder Hinsicht. Und beglückend“, schreibt Christoph Leibold in seinem Porträt über den Shootingstar des diesjährigen Theatertreffens. Dass Geschichte nach wie vor relevant ist, behauptete nicht nur Gotscheff mit seiner Suche nach den vergessenen Ahnen, sondern zeigt auch Luk Percevals Hamburger Inszenierung „Front“ zum 100-jährigen Gedenken an den Ausbruch der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler den Ersten Weltkrieg nennt. In packenden Bildern schildert Gunnar Decker eine erschütternde Inszenierung: „Wir sind gefangen im Graben der großen Maschine Krieg, die vor hundert Jahren wie ein mythisches Untier ihren Verwüstungszug antrat. Es ist etwas Modriges in dieser mechanischen Welt des Grabens. Tod liegt in der Luft! Die Ratten sind hier größer und aggressiver als anderswo.“
Zu den Regisseuren, die aus der Geschichte kamen, gehörte auch Einar Schleef. Patrick Schlösser, ehemaliger Assistent Schleefs und jetzt Oberspielleiter in Kassel, enthüllt, was Schleef ihm vererbt hat: „Die Bilder, die während der Inszenierung entstehen, kommen im Grunde immer aus der Sprache. Da bin ich Schleefs Schüler. Das habe ich bei ihm begriffen.“
Darauf, dass die Dinge, auch die Kunstwerke, eine Geschichte haben, basiert auch die Philosophie des bildenden Künstlers Tobias Rehberger, dem sich unser Künstlerinsert im Mai widmet. Gegenüber Ute Müller-Tischler erklärte er: „Es gehört einfach zur Definition meiner Arbeit, dass alle Umstände, die dazu geführt haben, eben Teil dieser Arbeit sind. Dieser Mythos, zu behaupten, wenn man nur intensiv und ehrlich genug ein Bild betrachtet, dass sich deswegen die Kunst schon irgendwie von selbst erklärt. Das halte ich für einen Riesenhumbug. Ich sage ja, dass alles Mögliche, was damit zu tun hat, natürlich ein Mehr-Wissen und ein Mehr-Verknüpfen und ein Mehr an Differenzierungsmöglichkeiten, auch ein Mehr an Erkenntnis bringt.“
Dorte Lena Eilers und Tom Mustroph diskutierten mit Rimini Protokoll nicht nur die während des Theatertreffens auswärtige Produktion „Situation Rooms“, sondern auch Vorschläge zur „Systemfrage“, die Thomas Oberender im Dezember 2013 in unserem Heft stellte: „Es wäre ja wunderbar, wenn Theaterinstitutionen eine solidarische Gemeinschaft wären: ein sicherer und stabiler Apparat – hier kann der Bühnentechniker mit Bandscheibenvorfall im Haus bleiben und den Pförtnerjob übernehmen. (…) Wir haben uns für einen sehr schlanken Apparat entschieden.“
Ein Gespräch mit Ulrich Peltzer beendet die Reihe „Zurück in die Zukunft“. Der Schriftsteller erläutert gegenüber Frank Raddatz, was es heißt, wenn wir zu Konsumenten unserer selbst werden: „Man ist nicht mehr Teil einer größeren Gruppierung. Von daher erlebt man Zukunft nur noch als persönliche, individuelle Bedrohung. Jeder ist auf einen Konsumenten geschrumpft worden.“
Vielleicht sollten wir uns doch nicht nur an der Sinnlichkeit des Spiels erfreuen, sondern mal fragen, warum manchen Leuten Fußballvereine gehören und andere kaum das Geld für einen Stehplatz zusammenbekommen. Wem das nocht nicht kompliziert genug ist, der kann mit Juri Andruchowytsch über die vertrackte Lage in der Ukraine nachdenken. Ralph Hammerthaler ließ sich erzählen, warum ein föderatives System dort nichts taugt. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
„Home and Away and Outside”von Tobias Rehberger | Seite 4 |
Ästhetik des UnentscheidbarenTobias Rehberger denkt seine Arbeiten aus offenen Systemen heraus – denn die totale Autonomie der Kunst wäre ein Irrenhaus. Ein Gespräch von Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Tobias Rehberger | Seite 8 |
Protagonisten | Seite 12 |
Pure PräsenzValery Tscheplanowa erschafft in ihrem Spiel magische Momente, in denen alles möglich scheintvon Christoph Leibold | |
Kommentar | Seite 15 |
Wir müssen draußen bleibenNoch nie saß einer von uns in der Jury des Berliner Theatertreffensvon Igor Karamasow | |
Protagonisten | |
Cooperation RoomsRimini Protokoll über den veralteten Dualismus von Stadttheater und freier Szene und das kreative Produzieren auf dem Terrain dazwischen im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Tom Mustrophvon Dorte Lena Eilers, Tom Mustroph, Rimini Protokoll und Dominic Huber | Seite 16 |
Letzte Wortevon Michael Eberth | Seite 20 |
Gotscheff’s Last TapeEin Gespräch mit Dimiter Gotscheff, Samuel Finzi und Wolfram Koch von Michel Eberthvon Dimiter Gotscheff, Michael Eberth, Wolfram Koch und Samuel Finzi | Seite 22 |
Kolumne | Seite 35 |
Unter dem großen N sollt ihr marschieren!von Nis-Momme Stockmann | |
Abschied | Seite 36 |
A.M.D.G.Zum Tod des Intendanten Gerard Mortiervon Sven Hartberger | |
Zurück in die Zukunft | Seite 38 |
#7: Konsument des eigenen LebensDer Schriftsteller Ulrich Peltzer über die Herrschaft der Gegenwart und das totale Vergessen jener Optionen, die einst Zukunft eröffneten im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Ulrich Peltzer | |
Insert | Seite 41 |
Schweiz: Gipfeltreffen. Das 1. Schweizer Theatertreffen 2014 in Winterthurvon Dorte Lena Eilers, Simone von Büren, Armin Kerber, Ueli Jäggi, Christoph Leibold, Boris Nikitin, Sophie-Thérèse Krempl, Antonio Mariotti, Corinne Jaquiéry, Anne Fournier, Massimo Furlan, Omar Porras und Andreas Tobler | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 42 |
Hörstück der TotenLuk Percevals Inszenierung „Front“ bringt am Thalia Theater in Hamburg die menschenzermalmende Maschine des Ersten Weltkriegs zum Klingenvon Gunnar Decker | |
Protagonisten | Seite 44 |
Patrick, mach dein Ding!Wie der Regisseur Patrick Schlösser von Einar Schleef zum Ritter geschlagen wurde. Eine Wiederbegegnungvon Frank M. Raddatz | |
Ausland | |
Der Maidan-KomplexDie Deutschen kommen, die Russen kommen – der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch über die vertrackte Lage seines Landes im Gespräch mit Ralph Hammerthalervon Ralph Hammerthaler und Juri Andruchowytsch | Seite 46 |
Theater als DialogHjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, Aktivist des Theaters der Unterdrückten, über seine Arbeit in der Ukrainevon Tom Mustroph und Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn | Seite 49 |
Protagonisten | |
DreiländerspielDas Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau bekommt mit Schauspielintendantin Dorotty Szalma eine neue, kampfeslustige Trainerinvon Michael Bartsch | Seite 50 |
Dialektik ohne DogmaDem Schriftsteller Volker Braun zum 75. Geburtstagvon Gunnar Decker | Seite 52 |
Look Out | |
Die BrückenbauerinDie Münchner Regisseurin Ana Zirner sucht unnachgiebig die Balance von politischem Inhalt und künstlerischer Formvon Sabine Leucht | Seite 54 |
Tiere sehen dich anDas Düsseldorfer Kollektiv LUKAS UND untersucht Blickordnungen – zum Beispiel zwischen Mensch und Hundvon Anna Teuwen | Seite 55 |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 57 |
Das szenische Nicht(s)tun oder Der blinde Seekrebsvon Krassimira Kruschkova | |
dream and walk aboutvon Barbara Kraus | |
Auftritt | |
Braunschweig: Ich habe nur heulen!Staatstheater Braunschweig: „Polnische Perlen“ (UA) von werkgruppe2. Regie Julia Roesler, Bühne Julia Schiller, Kostüme Dorothea Hoffmannvon Mirka Döring | Seite 59 |
Cottbus: Unspektakuläres SpektakulumStaatstheater Cottbus: „Don Quijote“ frei nach Motiven des Romans von Miguel de Cervantes. Regie Martina Eitner-Acheampong; „Im Abseits“ von Sergi Belbel. Regie Alexandra Wilkevon Theresa Schütz | Seite 60 |
Dresden: Mörder Macht SchlagzeilenStaatsschauspiel Dresden: „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Regie Wolfgang Engel; „Antigone“ von Sophokles. Regie Sebastian Baumgartenvon Gunnar Decker | Seite 61 |
Kaiserslautern: Griechen in der PfalzPfalztheater Kaiserslautern: „Iphigenie in Aulis“ von Christoph Willibald Gluck; „Die Orestie“ von Aischylos; „Kassandra“ nach Christa Wolfvon Torsten Israel | Seite 63 |
Luzern: Leichenrede der UntotenLuzerner Theater: „Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer oder Wer putzt dir die Trauerränder weg?“ (UA) von Katja Brunner. Regie Marco Štorman, Bühne Viola Valsesia, Kostüme Silvana Arnoldvon Dominique Spirgi | Seite 64 |
St. Pölten: Liebe hinter MaschendrahtLandestheater Niederösterreich: „Meine Mutter, Kleopatra“ (DSE) von Attila Bartis. Regie Róbert Alföldi, Bühne Anni Füzér, Kostüme Martin Warthvon Margarete Affenzeller | Seite 66 |
Magazin | |
Get up, stand upGehen oder bleiben? Wie zwei Dokumentartheaterprojekte in Sofia die gesellschaftliche Realität ihres Landes auf die Bühne bringenvon Dorte Lena Eilers und Mirka Döring | Seite 71 |
Brecht, Chaplin und das FBIGeorge Tabori zum 100. Geburtstagvon Holger Teschke | Seite 73 |
Schweig – und schaffe!Das Go West Festival am Staatstheater Oldenburg geht in die vorerst letzte Rundevon Andreas Schnell | Seite 74 |
kirschs kontexte: Also stotterte Zarathustravon Sebastian Kirsch | Seite 75 |
Wo verläuft die Front?Das internationale Projekt „Völkerschlachten“ folgt in Leipzig den Fährten zwischen Krieg und Nichtkriegvon Christian Horn | Seite 76 |
Linzers Eck: Aufs Land!Das theater 89 feiert mit Maibowle seinen 25. Geburtstag und verabschiedet sich aus Berlinvon Martin Linzer | Seite 77 |
Das flüchtige KollektivKai van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013, 557 S., 59,00 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 78 |
Noch ist Frühling!Mariette Navarro: Wir Wellen. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 72 S., 10 EUR.von Kerstin Car | Seite 79 |
Kampf auf verlorenem Posten?Juliane Zellner: Theaterszene Istanbul. Türkisches Theater im urbanen Raum. Tectum Verlag, Marburg 2013, 142 S., 24,95 EUR.von Theresa Schütz | Seite 79 |
Aktuell | Seite 80 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Zeit der Gaunervon Ralf Schenk | Seite 82 |
Hörspiel: Ja, das Glück ...von Gerwig Epkes | Seite 82 |
Kunst: Alles Tuttivon Ute Müller-Tischler | Seite 83 |
Musik: Käptn Peng, Klangfahrräder und Konzertexzessevon Otto Paul Burkhardt | Seite 83 |
Aktuell | Seite 84 |
Premieren: Mai 2014 | |
TdZ on Tour | Seite 86 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Olivier Pyvon Lena Schneider und Olivier Py |
Margarete Affenzeller
Juri Andruchowytsch
Michael Bartsch
Otto Paul Burkhardt
Kerstin Car
Gunnar Decker
Mirka Döring
Michael Eberth
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Samuel Finzi
Anne Fournier
Massimo Furlan
Dimiter Gotscheff
Ralph Hammerthaler
Sven Hartberger
Christian Horn
Dominic Huber
Torsten Israel
Ueli Jäggi
Corinne Jaquiéry
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn
Igor Karamasow
Armin Kerber
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Wolfram Koch
Barbara Kraus
Sophie-Thérèse Krempl
Krassimira Kruschkova
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Martin Linzer
Antonio Mariotti
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Tom Mustroph
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