Heft 06/2014
Mirco Kreibich: Brüchiger Zeitspieler
Broschur mit 124 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Abstecher. Das klingt nach Auszeit. Durchatmen. Mal runter von der Autobahn. „Hab Zeit und nimm Umwege“, schrieb Peter Handke in seinem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“. „Lass dich ablenken … Überhör keinen Baum und kein Wasser.“ Ja, wenn dafür mal Zeit wäre! Hätte man Zeit, so wären die 24 Landesbühnen in Deutschland das Paradies für jeden überarbeiteten Dramaturgen. Doch die sogenannten Abstecher sind harte Arbeit, wie Kay Metzger, Intendant des Landestheaters Detmold, zeigt. Als seine Inszenierung von Verdis „Otello“ – damals war er Oberspielleiter am Landestheater Coburg – in die Stadthalle Bayreuth abstechen sollte, gab es dort nicht nur keine Drehbühne, sondern auch so manch andere Überraschung. „In der Stadthalle angekommen“, beschreibt Metzger, „fand ich zu meinem Entsetzen am rechten Portal einen gewaltigen Weihnachtsbaum. Ob der dort bleibe, fragte ich irritiert. In tiefstem Fränkisch wurde mir versichert, dass der Weihnachtsbaum im Dezember dort immer stehe. Mein vorwitziger Assistent meinte, man könne ja zum ‚Ave Maria‘ von Desdemona die elektrischen Kerzen anknipsen.“
Der Abstecher ist per Bildungsauftrag Pflicht für die Landesbühnen, aber auch Folge der wirtschaftlichen Situation, wie in unserem Themenschwerpunkt deutlich wird. Der Gastspielmarkt ist durch den allgemeinen Finanzdruck hart umkämpft; Kunst droht zur schnöden Ware zu verkommen. Einerseits. Andererseits leben die Landesbühnen die Programmvielfalt, sind flexibel und spontan und unterwerfen sich keineswegs nur dem Publikumsgeschmack, wie unsere Blicke nach Dinslaken, Radebeul, Tübingen und Wilhelmshaven zeigen.
„Überhör keinen Baum und kein Wasser“, dieser Apell könnte auch von Mirco Kreibich kommen. Allerdings ins Dunkle gewendet. „Der Wald ist ein Thema, das Kreibich fasziniert“, schreibt Gunnar Decker über diesen einzigartigen „Zeitspieler“. Heiner Müllers „Herakles 2 oder Die Hydra“ sei darum auch einer seiner Lieblingstexte. „Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien und die Bäume wie Schlangen bewegte …“ Das ist der Maßstab, unter dem Kreibich gar nicht erst anfängt, sich durch das Buschwerk des Lebens zu kämpfen.
Ein Kämpfer in dunklen Zeiten, das ist ohne Frage auch der chinesische Künstler Ai Weiwei. Anlässlich seiner weltweit größten Einzelausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau widmen wir ihm unser Künstlerinsert, während Ute Müller-Tischler in ihrem Text sein Leben und seine provozierenden Aktionen vermisst, mit denen er beständig versucht, die Welt, wie sie ist, zu verändern. „‚Niemand will etwas in die Zukunft investieren.‘ Nichts sei aus der Vergangenheit geerbt worden: ‚Kein Land. Kein Besitz. Kein Geld. Jeder bewegt sich hin und her. Es gibt keine Nachbarschaften. Niemand spricht mit den Leuten nebenan.‘“
Leben im geschichtslosen Raum, dies ist ein Punkt, den auch das Berliner Ballhaus Naunynstraße kritisiert. Mit Wagner Carvalho und Tunçay Kulaoglu, dem neuen Leitungsteam des ehemals von Shermin Langhoff geführten Hauses, haben sich auch die theatralen Erkundungen in Sachen Postmigration erweitert. „Black Lux – Ein Heimatfest aus schwarzen Perspektiven“ hieß das Eröffnungsfest der neuen Intendanz, in dem es, wie Dorte Lena Eilers beschreibt, u. a. darum ging, was eine schlecht aufgearbeitete Kolonialgeschichte mit heutigen Alltagsrassismen zu tun hat.
Komplizierte Heimaterkundungen nehmen schließlich auch Melinda Nadj Abonji, Martina Clavadetscher und Philipp Löhle vor, die Autorinnen und Autoren des diesjährigen Stück Labor Basel, deren Stücke wir in diesem Heft veröffentlichen. Letzterer schrieb mit „Wir sind keine Barbaren!“ ein Stück, das durch die Volksabstimmung in der Schweiz „Gegen Masseneinwanderung“ fast von der Realität überholt wurde. „Es steht immer irgendwo ein Zaun, und der ist dicht“, sagt Löhle im Interview.
Da bleibt nur mit Horst Sagert, dem großen, am 8. Mai in Berlin verstorbenen Künstler, zu sagen: „Wachsen Sie, denken Sie gut nach, lesen Sie. Denken Sie ästhetisch und ein klein wenig originell.“ //
Die Redaktion
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Protagonisten | |
Künstlerinsert Ai Weiwei „Evidence“von Ai Weiwei | Seite 4 |
Die WirklichkeitsfabrikDer chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei will die Welt verändernvon Ute Müller-Tischler | Seite 8 |
Thema | |
Über die DörferZwischen Bildungsauftrag, Verwertbarkeit und künstlerischem Anspruch: Die Landesbühnen bringen Theater fernab der Metropolen in die Flächevon Kay Metzger | Seite 12 |
Die GrundversorgerThorsten Weckherlin, Intendant der Burghofbühne Dinslaken, über die Zukunft der Landesbühnen – wenn die Stadttheater längst aufgelöst sind. Ein Gespräch mit Martin Krumbholzvon Thorsten Weckherlin und Martin Krumbholz | Seite 15 |
Dresdens ArkadienDas Modell der Landesbühne zwingt im sächsischen Radebeul nicht nur zur Mobilität – sondern auch zur Vielfaltvon Gunnar Decker | Seite 18 |
Im DauerspagatNeun Jahre lang hat Simone Sterr das Landestheater Tübingen geleitet – zwischen Autorentheater und Abstecherfron, Weltgeist und Wanderlustvon Otto Paul Burkhardt | Seite 20 |
Der SatellitenexperteOlaf Strieb leitet mit der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven auch elf weitere „Stadttheater“von Alexander Schnackenburg | Seite 22 |
Protagonisten | |
Der WaldgängerDer Schauspieler Mirco Kreibich kämpft sich durch das Buschwerk des Lebens, was sehr komisch sein kann – und sehr traurigvon Gunnar Decker | Seite 24 |
Sprung in die TiefeZum Tod von Horst Sagertvon Stephan Suschke | Seite 28 |
HomestorysDas Ballhaus Naunynstraße in Berlin erzählt unter seinen neuen Leitern Wagner Carvalho und Tunçay Kulaoglu Geschichten aus der Riesen-WG Deutschlandvon Dorte Lena Eilers | Seite 30 |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 32 |
Das Studium der Katastrophevon Marita Tatari | |
Instabilität, Tragödie, Katastrophe – einige Argumente zum Theatervon Claudia Bosse | |
Apokalyptisches Denken. Apokalypse als zeitgenössisches Phönomenvon Kurt Appel | |
Kolumne | Seite 33 |
Ich ohne michThikwa-Regisseur Gerd Hartmann erhält den höchsten russischen Theaterpreisvon Ralph Hammerthaler | |
Look Out | |
Durchs Gehirn gefegtDas brodelnde Spiel der Schauspielerin Seyneb Saleh springt die Zuschauer unmittelbar anvon Christoph Leibold | Seite 34 |
In den Geist eintauchenDie Bochumer Regisseurin Lisa Nielebock schält mit großem Respekt das Zeitgenössische aus historischen Stoffenvon Martin Krumbholz | Seite 35 |
Auftritt | |
Baden: Wenn der Bugatti im Schatten stehtKurtheater Baden / Theater Marie: „Der große Gatsby“ von Rebekka Kricheldorf nach F. Scott Fitzgerald. Regie Olivier Keller, Ausstattung Tatjana Kautsch, Erik Noorlander und Dominik Steinmannvon Elisabeth Feller | Seite 37 |
Göttingen: Femme fatale stocksteDeutsches Theater Göttingen: „Lou Andreas-Salomé“ (UA) von Tine Rahel Völcker. Regie und Ausstattung Lutz Keßlervon Joachim F. Tornau | Seite 37 |
Karlsruhe: Ihr, die erblasst und bebt ...Badisches Staatstheater Karlsruhe: „Rechtsmaterial. Ein NSU-Projekt“ (UA) von Jan-Christoph Gockel und Konstantin Küspert. Regie Jan-Christoph Gockel, Bühne Julia Kurzweg, Kostüme Sophie du Vinagevon Otto Paul Burkhardt | Seite 40 |
Köln: Theateresoterischer MummenschanzSchauspiel Köln: „Andrej Rubljow“ nach Andrej Tarkowski. Regie und Bühne Robert Borgmann, Kostüme Minki Warholvon Martin Krumbholz | Seite 41 |
Münster: Suspekter DreifachserviceTheater Münster: „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ (UA) von Liao Yiwu. Spielfassung und Regie Max Claessen, Ausstattung Mirjam Benknervon Martin Krumbholz | Seite 42 |
Schwerin: Pap(p)ierene WirklichkeitsspieleMecklenburgisches Staatstheater Schwerin: „König Ubu“ von Alfred Jarry. Regie Christian Weise, Bühne Julia Oschatz, Holger Syrbe Kostüm Andy Besuchvon Theresa Schütz | Seite 43 |
Wien: Von Katastrophen und Containerntanzquartier wien: „What about catastrophes?“ (UA) von Claudia Bosse / theatercombinatvon Sebastian Kirsch | Seite 44 |
stück labor basel | |
Bericht eines VerstummtenDie Autorin Melinda Nadj Abonji über ihr Stück „Schildkrötensoldat“ im Gespräch mit Ingo Starzvon Melinda Nadj Abonji und Ingo Starz | Seite 47 |
Schildkrötensoldatvon Melinda Nadj Abonji | Seite 48 |
Was bedeutet es, am Leben zu sein?Martina Clavadetscher beschäftigt sich in ihrem Stück „My only friend, the end“ mit dem Tabuthema Suizid unter Jugendlichen. Ein Gespräch mit Elisabeth Maiervon Elisabeth Maier und Martina Clavadetscher | Seite 61 |
My only friend, the endvon Martina Clavadetscher | Seite 62 |
Der Zaun ist dichtDer Autor Philipp Löhle über sein Stück „Wir sind keine Barbaren!“ im Gespräch mit Mirka Döringvon Phillipp Löhle und Mirka Döring | Seite 68 |
Wir sind keine Barbaren!von Phillipp Löhle | Seite 69 |
Magazin | |
Es war einmal ein Pole ...Das Kontrapunkt-Festival im polnischen Szczecin ist ein fiebriger Abgesang auf Recht und Würde des Einzelnen in Zeiten einer alles diktierenden Ökonomievon Dorte Lena Eilers | Seite 87 |
Über schwankende PlankenDie Seebühne Hiddensee wird mit Shakespeares „Sturm“ und der neuen Homunkulus-Figurensammlung immer mehr zu einer Insel auf der Inselvon Holger Vonberg | Seite 89 |
Bürger on AirIn „Broadcasting Eriwan“ erinnert das Intermedia Orkestra in der Bremer Schwankhalle an die subversive Kraft des Radiosvon Alexander Schnackenburg | Seite 90 |
kirschs kontexte: Kaffeehaus und TragödieKurzer Versuch über eine Wiener Institutionvon Sebastian Kirsch | Seite 91 |
Als Gott sich im Wald verliefDer Heidelberger Stückemarkt zeigt, dass auch klassisches Autorentheater den Apparat lustvoll zu überfordern weißvon Otto Paul Burkhardt | Seite 92 |
In Blade Runner CityEin Gespräch zum 80. Geburtstag des Theaterwissenschaftlers Hans-Joachim Fiebach von Antje Budde und Katka Schrothvon Joachim Fiebach, Antje Budde und Katka Schroth | Seite 93 |
Hamburger West EndDas Ernst Deutsch Theater in Hamburg importiert regelmäßig neue britische Dramatikvon Mirka Döring | Seite 94 |
Mit wachem politischen InstinktIm Gedenken an die Schauspielerin und Regisseurin Irmgard Langevon Martin Linzer | Seite 95 |
EndspielZum Tod des Schriftstellers Urs Widmervon Stephan Müller | Seite 96 |
Polens jüngster KlassikerZum Tod von Tadeusz Rózÿewiczvon Martin Linzer | Seite 98 |
Linzers Eck: Zwischen Aufbruch und AgonieVerstreute Rückblicke auf die Berliner Spielzeit 2013/14. Fragmentarischvon Martin Linzer | Seite 99 |
Sprachen der Beunruhigungsteirischer herbst / Florian Malzacher (Hg.): Truth is Concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics. Sternberg Press, Berlin 2014, 336 S., 19 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 100 |
Raumaneignung in den KünstenBarbara Büscher, Verena Elisabeth Eitel, Beatrix von Pilgrim (Hg.): Raumverschiebung: Black Box – White Cube. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2014, 222 S., 38 EUR.von Tom Mustroph | Seite 101 |
Mach’s doch alleene!Karlheinz Braun (Hg.): „MonoDramen“. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2014, 376 S., 22 EUR.von Mirka Döring | Seite 101 |
Aktuell | Seite 102 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Wenn Gebäude sprechen könntenvon Ralf Schenk | Seite 104 |
Hörspiel: Mitlieben, nicht mithassevon Gerwig Epkes | Seite 104 |
Kunst: An der Hundeleinevon Ute Müller-Tischler | Seite 105 |
Musik: Schönheiten am Randevon Ulrike Rechel | Seite 105 |
Aktuell | |
Premieren: Juni 2014 | Seite 106 |
tdz on tour | Seite 110 |
Impressum/Vorschau | Seite 111 |
Gespräch | Seite 112 |
Was macht das Theater, Samuel Finzi?von Gunnar Decker und Samuel Finzi |
Melinda Nadj Abonji
Kurt Appel
Claudia Bosse
Antje Budde
Otto Paul Burkhardt
Martina Clavadetscher
Gunnar Decker
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Elisabeth Feller
Joachim Fiebach
Samuel Finzi
Ralph Hammerthaler
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Martin Linzer
Phillipp Löhle
Elisabeth Maier
Kay Metzger
Stephan Müller
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Frank M. Raddatz
Ulrike Rechel
Ralf Schenk
Alexander Schnackenburg
Katka Schroth
Theresa Schütz
Ingo Starz
Stephan Suschke
Marita Tatari
Joachim F. Tornau
Holger Vonberg
Thorsten Weckherlin
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