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Weg von hier
Wie dem Berliner Gefängnistheater aufBruch in seinen zwei neuesten Produktionen der Ausbruch gelingt – als Aufbruch aus dem Gewohnten
von Mehdi Moradpour
Aufbrechen ist auseinanderbrechen. Es setzt eine Öffnung voraus. Es geht einher mit einem Bruch, einem Sich-Aufreißen, -Enthäuten und -Zerlegen. In Kafkas „Der Aufbruch“ möchte der Ich-Erzähler den Ort verlassen, in dem er wohnt. „Weg von hier“, sagt er, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme.“ Fortgehen und unterwegs sein, das ist sein Ziel, auf das Gewohnte verzichten, auf Diener und Privilegien. Die Gewohnheit ist eine Decke, sie deckt alles zu, so Vilém Flusser. Man muss aus dem Gewohnten heraustreten, will man das Gewöhnliche überhaupt erst sehen. Gefahren sind dabei produktive Kollateralschäden.
Utopien sind keine gewohnten Räume. Gewiss aber Heterotopien wie Gefängnisse, in denen die Freiheitsstrafe vollzogen wird. Das Bestrafungsritual soll laut Strafgesetzen präventiven Zwecken hinsichtlich des Täters und zugleich auch der Allgemeinheit dienen. Auch die exkludierte Gefängnisgemeinschaft kann sich eines Rituals wie Theater bedienen, um in die Räume des Utopischen zu tauchen, ins Ungewohnte im gewohnten Gefängnis.
Das Berliner Theaterprojekt aufBruch versucht, mit zwei neuen Projekten ordnungssystematische Prozesse und Kreisläufe in der Gesellschaft zu durchleuchten. Nach einem Schreibworkshop mit den Autoren Mariana Leky und Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion e.V.), in dem Gefangene in der JVA Plötzensee in Eigenverantwortung Texte entwickeln, entstand „Briefe an meine Katze Bébert. Ein experimentelles Theaterprojekt“ (Idee Adrian Figueroa und Marie Urban). Die Grundlage der Inszenierung bildet eine Dating-Show mit den Zuschauern; Brieffreundschaften sollen folgen. Im Schutz der (Auto-) Fiktion finden die Darsteller die eigene Ausdrucksform (performative/szenische Monologe, essayistische Gedankenprotokolle, Dialog oder Gesang), stellen sich selbst dar und erzählen von ihren Erinnerungen und Wunschvorstellungen: „Ich würde gerne Brunnen bohren in Ländern, wo Wasser gebraucht wird … Ich würde gern den Ozean überqueren“, sagt ein Gefangener.
Was zu Beginn wie ein gewöhnliches Potpourri aussieht (es gibt auch Texte von Louis-Ferdinand Céline, Max Frisch und Roland Barthes), gewinnt dank Darsteller und ihrer Texte eine neue Ebene. Man entkommt der semantischen Fragmentverwirrung, indem man sich auf die Vielfalt des Persönlichen und der menschlichen Intervalle in den einzelnen Geschichten konzentriert: Zwei Darsteller beschreiben ihre Gedanken, während sie auf die Zellenmauer schauen. Einer von ihnen schwärmt dabei von einem Farbenspektakel in der Chihuahua-Wüste, und der andere sagt: „Ich sitze in mei- ner Zelle, blicke gegen die Mauer und sehe die Gitter. Ich gehe näher und quetsche mei- nen Kopf zwischen die Gitter, in der Hoffnung, sie nicht mehr zu sehen. Aber was sehe ich dann? Einen Zaun mit Stacheldraht und eine riesige Mauer.“
Außerhalb der Mauern spielt das Außenensemble des Kollektivs, ein Team aus Exinhaftierten, Freigängern, Schauspielern und Berliner Bürgern. Inszeniert wird Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ in Serviceräumen, stillgelegten Küchentrakten und im Gebetsraum des vormaligen Offizierskasinos im Flughafengebäude Tempelhof. Unmittelbar nach der Einführung in einer Unterführung des Gebäudes ertönen die souveränen Stimmen der Mitglieder des Kommentarchors. Die Darsteller verschiedener kultureller und sozialer Herkünfte sind vielerorts verteilt und tragen teilweise holzschnittartig Stellen aus Darwins „Die Abstammung des Menschen“ vor. Das klingt in den von Nationalsozialisten gebauten monumentalen Räumlichkeiten schaurig. Der Regisseur Peter Atanassow sieht in Hauptmanns Werk Figuren beschrieben, die als Vorläufer der Nazis gesehen werden können. Zum Beispiel der Sozialforscher Alfred Loth als präfaschistischer Intellektueller, der Darwins Evolutionskonzept in physischer und psychischer Hinsicht, einschließlich emotionaler, moralischer und intellektueller Qualitäten, auf die Menschen anzuwenden versucht.
Es sind nicht nur die Eigenarten des Ortes und die Zusammensetzung des Ensembles – man wünscht sich allerdings diese Vielfalt auch in den Reihen der künstlerischen Leitung –, die den Abend zu einem Spezifikum machen. Besonders erwähnenswert ist auch der Einsatz der Chorarten (Kommentar- und szenischer Chor). Bei dem szenischen Chor sprechen mehrere Spieler aus inhaltlichen oder praktischen Gründen eine Figur, die sich vervielfacht hat, gemeinsam, teilweise auch einzeln. Damit werden unterschiedliche Seiten einer Figur und ihre Komplexität stärker wahrnehmbar. Die Chorarbeit formt auch den Ensemblekörper, schafft ein „wir“, so der Regisseur, „entscheidend für den Zusammenhalt, denn andere Probleme gibt es genügend“.
Im Dienste des Erfahrbarmachens überflutet aufBruch das Festland der Wahrnehmung durch mannigfaltige Mittel: Überlappung verschiedener Textsorten, Wiederholungen, skandierende Chöre, Gesänge in verschiedenen Sprachen, metallische Klänge, Schreie, Trommel- und Trampelgeräusche, Begegnungen mit den Zuschauern; es herrscht eine Ästhetik des Unsteten. Auch vom Zuschauer wird ein Bruch mit dem Gewohnten verlangt: das Verlassen seines Habitats. //