Magazin

Weg von hier

Wie dem Berliner Gefängnistheater aufBruch in seinen zwei neuesten Produktionen der Ausbruch gelingt – als Aufbruch aus dem Gewohnten

von

Aufbrechen ist auseinanderbrechen. Es setzt eine Öffnung voraus. Es geht einher mit einem Bruch, einem Sich-Aufreißen, -Enthäuten und -Zerlegen. In Kafkas „Der Aufbruch“ möchte der Ich-Erzähler den Ort verlassen, in dem er wohnt. „Weg von hier“, sagt er, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme.“ Fortgehen und unterwegs sein, das ist sein Ziel, auf das Gewohnte verzichten, auf Diener und Privilegien. Die Gewohnheit ist eine Decke, sie deckt alles zu, so Vilém Flusser. Man muss aus dem Gewohnten heraustreten, will man das Gewöhnliche überhaupt erst sehen. Gefahren sind dabei produktive Kollateralschäden.

Außerhalb der Mauern - Ex-Inhaftierte, Freigänger, Schauspieler und Berliner Bürger in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. Foto Thomas Aurin
Außerhalb der Mauern - Ex-Inhaftierte, Freigänger, Schauspieler und Berliner Bürger in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. Foto Thomas Aurin

Utopien sind keine gewohnten Räume. Gewiss aber Heterotopien wie Gefängnisse, in denen die Freiheitsstrafe vollzogen wird. Das Bestrafungsritual soll laut Strafgesetzen präventiven Zwecken hinsichtlich des Täters und zugleich auch der Allgemeinheit dienen. Auch die exkludierte Gefängnisgemeinschaft kann sich eines Rituals wie Theater bedienen, um in die Räume des Utopischen zu tauchen, ins Ungewohnte im gewohnten Gefängnis.

Das Berliner Theaterprojekt aufBruch versucht, mit zwei neuen Projekten ordnungssystematische Prozesse und Kreisläufe in der Gesellschaft zu durchleuchten. Nach einem Schreibworkshop mit den Autoren Mariana Leky und Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion e.V.), in dem Gefangene in der JVA Plötzensee in Eigenverantwortung Texte entwickeln, entstand „Briefe an meine Katze Bébert. Ein experimentelles Theaterprojekt“ (Idee Adrian Figueroa und Marie Urban). Die Grundlage der Inszenierung bildet eine Dating-Show mit den Zuschauern; Brieffreundschaften sollen folgen. Im Schutz der (Auto-) Fiktion finden die Darsteller die eigene Ausdrucksform (performative/szenische Monologe, essayistische Gedankenprotokolle, Dialog oder Gesang), stellen sich selbst dar und erzählen von ihren Erinnerungen und Wunschvorstellungen: „Ich würde gerne Brunnen bohren in Ländern, wo Wasser gebraucht wird … Ich würde gern den Ozean überqueren“, sagt ein Gefangener.

Was zu Beginn wie ein gewöhnliches Potpourri aussieht (es gibt auch Texte von Louis-Ferdinand Céline, Max Frisch und Roland Barthes), gewinnt dank Darsteller und ihrer Texte eine neue Ebene. Man entkommt der semantischen Fragmentverwirrung, indem man sich auf die Vielfalt des Persönlichen und der menschlichen Intervalle in den einzelnen Geschichten konzentriert: Zwei Darsteller beschreiben ihre Gedanken, während sie auf die Zellenmauer schauen. Einer von ihnen schwärmt dabei von einem Farbenspektakel in der Chihuahua-Wüste, und der andere sagt: „Ich sitze in mei- ner Zelle, blicke gegen die Mauer und sehe die Gitter. Ich gehe näher und quetsche mei- nen Kopf zwischen die Gitter, in der Hoffnung, sie nicht mehr zu sehen. Aber was sehe ich dann? Einen Zaun mit Stacheldraht und eine riesige Mauer.“

Außerhalb der Mauern spielt das Außenensemble des Kollektivs, ein Team aus Exinhaftierten, Freigängern, Schauspielern und Berliner Bürgern. Inszeniert wird Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ in Serviceräumen, stillgelegten Küchentrakten und im Gebetsraum des vormaligen Offizierskasinos im Flughafengebäude Tempelhof. Unmittelbar nach der Einführung in einer Unterführung des Gebäudes ertönen die souveränen Stimmen der Mitglieder des Kommentarchors. Die Darsteller verschiedener kultureller und sozialer Herkünfte sind vielerorts verteilt und tragen teilweise holzschnittartig Stellen aus Darwins „Die Abstammung des Menschen“ vor. Das klingt in den von Nationalsozialisten gebauten monumentalen Räumlichkeiten schaurig. Der Regisseur Peter Atanassow sieht in Hauptmanns Werk Figuren beschrieben, die als Vorläufer der Nazis gesehen werden können. Zum Beispiel der Sozialforscher Alfred Loth als präfaschistischer Intellektueller, der Darwins Evolutionskonzept in physischer und psychischer Hinsicht, einschließlich emotionaler, moralischer und intellektueller Qualitäten, auf die Menschen anzuwenden versucht.

Es sind nicht nur die Eigenarten des Ortes und die Zusammensetzung des Ensembles – man wünscht sich allerdings diese Vielfalt auch in den Reihen der künstlerischen Leitung –, die den Abend zu einem Spezifikum machen. Besonders erwähnenswert ist auch der Einsatz der Chorarten (Kommentar- und szenischer Chor). Bei dem szenischen Chor sprechen mehrere Spieler aus inhaltlichen oder praktischen Gründen eine Figur, die sich vervielfacht hat, gemeinsam, teilweise auch einzeln. Damit werden unterschiedliche Seiten einer Figur und ihre Komplexität stärker wahrnehmbar. Die Chorarbeit formt auch den Ensemblekörper, schafft ein „wir“, so der Regisseur, „entscheidend für den Zusammenhalt, denn andere Probleme gibt es genügend“.

Im Dienste des Erfahrbarmachens überflutet aufBruch das Festland der Wahrnehmung durch mannigfaltige Mittel: Überlappung verschiedener Textsorten, Wiederholungen, skandierende Chöre, Gesänge in verschiedenen Sprachen, metallische Klänge, Schreie, Trommel- und Trampelgeräusche, Begegnungen mit den Zuschauern; es herrscht eine Ästhetik des Unsteten. Auch vom Zuschauer wird ein Bruch mit dem Gewohnten verlangt: das Verlassen seines Habitats. //

Meistgelesene Beiträge

Alle

auf theaterderzeit.de

Extrem unwahrscheinlich

Haslach und Finkenschlag – Die Langzeit bespielung eines Stadtteils und der nicht zu ersetzende menschliche Faktor

Tanz fördern

Wann beginnt eine Tänzerkarriere? Sehr früh. Die meisten Menschen haben tänzerische…

Geheimnistheater

Im Netz des GeheimnissesDen Kopfhörer aufgesetzt, werde ich von der Stimme des…

Theater-News

Alle

auf theaterderzeit.de

Autorinnen und Autoren des Verlags

A - Z

Bild von Lutz Hübner

Lutz Hübner

Bild von Dirk Baecker

Dirk Baecker

Bild von Milo Rau

Milo Rau

Bild von Dorte Lena Eilers

Dorte Lena Eilers

Bild von Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmann

Bild von Joachim Fiebach

Joachim Fiebach

Bild von Michael Schindhelm

Michael Schindhelm

Bild von Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Bild von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann

Bild von Heiner Goebbels

Heiner Goebbels

Bild von Hans-Thies Lehmann

Hans-Thies Lehmann

Bild von Bernd Stegemann

Bernd Stegemann

Bild von Falk Richter

Falk Richter

Bild von Christine Wahl

Christine Wahl

Bild von Josef Bierbichler

Josef Bierbichler

Bild von Gunnar Decker

Gunnar Decker

Bild von Etel Adnan

Etel Adnan

Bild von Friedrich Dieckmann

Friedrich Dieckmann

Bild von Wolfgang Engler

Wolfgang Engler

Bild von Ralph Hammerthaler

Ralph Hammerthaler