Heft 01/2016
Am Nullpunkt
Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Ich möchte heute Abend darüber sprechen, was am Freitag, dem 13. November, passiert ist. Was uns passiert ist, dieser Stadt, diesem Land, letztendlich der Welt, in der wir leben.“ Mit diesen Sätzen begann nur zehn Tage nach den Anschlägen in Paris eine Rede des französischen Philosophen Alain Badiou im La Commune – Centre dramatique national in Aubervilliers im Norden von Paris. Es war eine Rede, die der Angst und dem Schrecken, dem „Gefühl der unzumutbaren Ausnahme von der Alltagsordnung“ Raum gab. Vor allem aber daran appellierte, diesen Raum nicht denjenigen zu überlassen, die ihn sich zunutze machen: dem Staat, identitären Bewegungen, Rächern im Namen einer zweifelhaften Subjektivität. Im Versuch, „das, was geschehen ist, zu denken“, um „sich gegen das zu wehren, was man als undenkbar deklariert“, wie Badiou sagt, veröffentlichen wir Auszüge aus seiner Rede und lassen unsere Paris-Korrespondentin Lena Schneider zu Wort kommen, die mit den Theatermachern Philippe Quesne, Joël Pommerat und der Compagnie Du Zieu über gefährliche Kriegsrhetorik, Nationalismus und den Mut zur Selbstbefragung sprach.
Indes: „Die meisten tanzen weiter auf dem Vulkan.“ Diese grimmige Diagnose stellt unser Kolumnist Josef Bierbichler angesichts der offiziell als erfolgreich deklarierten Klimakonferenz in Paris. Warum? Weil die wenigsten momentan kritisieren, was im Hintergrund unbeirrt weiterwirkt. „Den roten Faden“ nennt der Berliner Soziologe Wolfgang Engler dieses Dahinter und erklärt im Gespräch mit Holger Teschke: Immer wieder gerate der rote Faden, der sich durch all diese Krisen ziehe, aus dem Blickfeld: das neoliberale Regime der westlichen Eliten in Wirtschaft und Politik. Nur in diesem Kontext lasse sich die Zunahme von Frustration, Hass und Gewalt angemessen diskutieren.
Die Bühnenbilder von Bettina Pommer, die wir im Künstlerinsert zeigen, scheinen ein Sinnbild dieser Dynamik zu sein. Für Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ in der Inszenierung von Johan Simons am Thalia Theater Hamburg entwarf sie eine hölzerne Spielfläche aus verschiedenen Schrägen, die zu allem Übel irgendwann auch noch anfangen zu kippen. „Die Geschichte“, sagt Pommer im Gespräch mit Gunnar Decker, „übt auf die handelnden Personen einen starken Druck aus, den wollte ich spürbar werden lassen. Mir ging es um den Körper, der sich an etwas abarbeiten muss, sich mit aller Kraft gegen einen starken Widerstand, den Raum, stemmen muss, um nicht unterzugehen.“
Darum geht es. Nicht unterzugehen. Widerstand zu leisten gegen Gewalt, Hass, Vereinnahmung. Um diesen Punkt kreist auch das Stück „Gott wartet an der Haltestelle“ der israelischen Dramatikerin Maya Arad, das wir in diesem Heft veröffentlichen. Es rekonstruiert die Geschichte eines Selbstmordattentats in einem israelischen Restaurant, beschreibt die Verstrickungen einer jungen israelischen Soldatin an einem Checkpoint mit der palästinensischen Attentäterin. „In Situationen, wo es um das Überleben geht, sind Empathie und Menschenrechte weniger wichtig oder präsent in den Gedanken der Menschen“, sagt Arad im Gespräch mit Mehdi Moradpour. Und doch ist es genau dies, worauf das Theater immer wieder verweist. Am Volkstheater Wien, wo die neue Intendantin Anna Badora Maya Arads Stück zur deutschsprachigen Erstaufführung bringen ließ, aber auch in Israel selbst, wie Kerstin Car vom Festival International Exposure of Israeli Theatre in Tel Aviv berichtet.
„Ein Träumer geht.“ Mit Luc Bondy hat sich Ende November einer der großen Liebenden des Theaters von der Bühne verabschiedet. Viel zu früh. Mit nur 67 Jahren. Lena Schneider gedenkt des Regisseurs und Leiters des Pariser Odéon-Théâtre de l’Europe. „Was ihn interessierte“, schreibt sie, „das waren die alles umspannenden Themen. Die Liebe. Der Trieb. Die Vergänglichkeit. Der Tod. (…) Er suchte den Menschen, das, was ihn als solchen ausmacht. Er hätte vermutlich keine Scheu gehabt, es ,Seele‘ zu nennen.“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Bühnenbildervon Bettina Pommer | Seite 4 |
Haltloser OrtDie Bühnenbildnerin Bettina Pommer schafft Räume, die kippen, schwanken oder radikal leer sind. Im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Bettina Pommer | Seite 8 |
Thema | |
Den Massenmord denkenvon Alain Badiou | Seite 11 |
Das ist nicht unser KriegDer Regisseur Philippe Quesne über den Einbruch der Angst im Gespräch mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Philippe Quesne | Seite 14 |
Am NullpunktDer Regisseur und Dramatiker Joël Pommerat über die Selbstbefragung der französischen Gesellschaft im Gespräch mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Joël Pommerat | Seite 16 |
Französisch, unter anderemIn Zeiten des aufbrausenden Patriotismus fordert die Compagnie Du Zieu mit ihrer Trilogie „Spectres de l’Europe“ das Unerhörte: sich endlich aus dem Klammergriff der eigenen Identität zu lösenvon Lena Schneider | Seite 18 |
Kolumne | Seite 21 |
Am Arschvon Josef Bierbichler | |
Abschied | Seite 22 |
Der TräumerZum Tod von Luc Bondyvon Lena Schneider | |
Protagonisten | |
Die WunderintendantinAnna Badora holt das Volkstheater Wien aus der Bedeutungslosigkeitvon Margarete Affenzeller | Seite 24 |
Fröhliche FassadeDas E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg startet unter Sibylle Broll-Pape neuvon Kerstin Car | Seite 26 |
Nichts zu machen?Wolfgang Engler, Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, über den roten Faden der andauernden Krisen: das neoliberale Gebaren der westlichen Welt im Gespräch mit Holger Tescvon Wolfgang Engler und Holger Teschke | Seite 28 |
Festival | Seite 34 |
Das NachleuchtenDas internationale Theater- und Tanzfestival euro-scene in Leipzig feiert 25 Jahre seines Bestehensvon Christian Horn | |
Protagonisten | Seite 36 |
Meister der MetaphernSeit über dreißig Jahren zählt Josef Nadj zu den führenden Tanztheatermachern in Europavon Mark Brown | |
Ausland | Seite 38 |
Gelebte AporienDas Theaterfestival in Havanna zeigt neben internationalen Produktionen vor allem reich wuchernde Besonderheiten kubanischen Theatersvon Harald Müller | |
Look Out | |
Rhythmischer StörfallDie Inszenierungen der Regisseurin Silke Johanna Fischer sind kompromisslose Exerzitien der inneren Zerrissenheitvon Gunnar Decker | Seite 40 |
Aus dem Wiener TransdanubienFiguren des klassischen Repertoires konfrontiert die Wiener Schauspielerin Katharina Klar mit einem Widerstand: sich selbstvon Margarete Affenzeller | Seite 41 |
Ausland | Seite 42 |
Brücken spinnenDas International Exposure of Israeli Theatre 2015 zeigt Theater, das die Konflikte des Landes spiegeltvon Kerstin Car | |
Stück | |
Solange es Checkpoints gibt …Die israelische Dramatikerin Maya Arad über ihr Stück „Gott wartet an der Haltestelle“ im Gespräch mit Mehdi Moradpourvon Mehdi Moradpour und Maya Arad | Seite 44 |
Gott wartet an der HaltestelleDeutsch von Matthias Naumannvon Maya Arad | Seite 46 |
Auftritt | |
Aarhus: Taxi and cigarettesAarhus Festival: „887“ von Robert Lepage Regie und Ausstattung Robert Lepagevon Renate Klett | Seite 61 |
Bielefeld: Yihaa!Theater Bielefeld: „Annie Ocean“ (UA) von Mario Salazar. Regie Tim Hebborn, Ausstattung Sophia Lindemannvon Mirka Döring | Seite 61 |
Bremen: Das is ja ois aansTheater Bremen: „Kauza Schwejk / Der Fall Šwejk“ nach dem Roman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ von Jaroslav Hašek. Text, Regie und Bühne Dušan David Parízek, Kostüme Kamila Polívkovávon Natalie Fingerhut | Seite 62 |
Dresden: Wenn Volk und Führer sich finden …Carola Reuther; „Morgenland“ (UA). Regie Miriam Tscholl, Ausstattung Belén Montoliú Garciavon Michael Bartsch | Seite 63 |
Hamburg: Die FirmaDeutsches Schauspielhaus Hamburg: „Söhne & Söhne“ (UA) von SIGNA. Regie Signa Köstler, Bühne Signa Köstler und Mona el Gammal, Kostüme Signa Köstler und Dirk Traufeldervon Natalie Fingerhut | Seite 65 |
Moskau: 62 Perspektiven eines PunktesElektrotheater Stanislawski: „Max Black oder 62 Arten, den Kopf mit der Hand zu stützen“ von Heiner Goebbels. Regie Heiner Göbbels, Bühne Klaus Grünberg, Kostüme Jasmin Andreaevon Olga Galachowa | Seite 66 |
München: Schön sauber hierMünchner Kammerspiele: „Mittelreich“ (UA) nach dem Roman von Josef Bierbichler in einer Fassung von Anna-Sophie Mahler und Johanna Höhmann. Regie Anna-Sophie Mahler, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Pascavon Christoph Leibold | Seite 67 |
Radebeul: Einsteins DealLandesbühnen Sachsen: „Irrtümer II – Utopien – Ein Theaterspektakel“von Michael Bartsch | Seite 69 |
Regensburg: Keinmal LebenTheater Regensburg: „pest“ (UA) von Konstantin Küspert. Regie Katrin Plötner, Bühne Anneliese Neudecker, Kostüme Lili Wannervon Christoph Leibold | Seite 70 |
Weimar: Ein Simplicissimus vom BauDeutsches Nationaltheater: „Luft nach oben“ (UA) von Dirk Laucke. Regie Enrico Stolzenburg, Ausstattung Katrin Hieronimusvon Gunnar Decker | Seite 71 |
Magazin | |
Nixe sein, Berg besteigenBei Fast Forward, dem Europäischen Festival für junge Regie in Braunschweig, betrachtet sich die Generation Y selbst im Spiegelvon Theresa Schütz | Seite 73 |
Landschaftsfraß im Namen des FortschrittsLutz Hillmann spitzt in Bautzen mit der deutschen Fassung von Jurij Kochs „Mein vermessenes Land“ die Folgen des Kohleabbaus für die Sorben empfindlich zuvon Michael Bartsch | Seite 74 |
Sissis SöhneDer bislang wohl politischsten Ausgabe des Spielart-Festivals in München wünscht man ein Trüffelschwein – und mehr durchgeknallte Alleskönner wie Simon Mayervon Sabine Leucht | Seite 76 |
Du Tier!Das Eurothalia-Festival am Deutschen Staatstheater im rumänischen Temeswar reibt sich an osteuropäischen Realitätenvon Kerstin Car | Seite 76 |
kirschs kontexte: Bücher lesen wie man Pilze liestDie Ordnung der Bibliothekenvon Sebastian Kirsch | Seite 77 |
Lasst uns einfach mehr Theater machen!60 Jahre ITI Deutschland und der neue Blick ins eigene Landvon Thomas Irmer | Seite 78 |
Holt den Narren zurück!Zum Tod von George Froscher, Leiter des Freien Theaters Münchenvon Petra Hallmayer | Seite 79 |
Das englische AugeElisabeth Leinslie und Anette Therese Pettersen (Hg.): The Other Eye. Germany versus Norway: interchanging theatrical strategies. Performing Arts Hub Norway, Oslo 2015, 191 S., 20 EUR.von Tone Avenstroup | Seite 80 |
Der japanische Arzt und die Berliner TänzerinMori Ogai: Das Ballettmädchen. Eine Berliner Novelle. be.bra verlag, Berlin 2014, 112 S. 9,95 EUR.von Ralf Stabel | Seite 80 |
Körper-DenkspieleJean-Luc Nancy: Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz. diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2015 (2010), 112 S., 14,95 EUR.von Gunnar Decker | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
PremierenJanuar 2016 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
Tdz on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Impressum/Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Mirko Schombert?von Mirko Schombert und Martin Krumbholz |
Margarete Affenzeller
Maya Arad
Tone Avenstroup
Alain Badiou
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Mark Brown
Kerstin Car
Gunnar Decker
Mirka Döring
Wolfgang Engler
Natalie Fingerhut
Olga Galachowa
Petra Hallmayer
Christian Horn
Thomas Irmer
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Mehdi Moradpour
Harald Müller
Bettina Pommer
Joël Pommerat
Philippe Quesne
Lena Schneider
Mirko Schombert
Theresa Schütz
Ralf Stabel
Holger Teschke
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren