Heft 02/2015
Je suis Charlie
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- In memoriam Martin Linzer
In diesen Tagen ein Editorial für diese Zeitschrift zu schreiben ist schwer. Die Bilder haben sich eingebrannt. Unwiderruflich. Einschusslöcher in einer Redaktion. Zwei Tote auf der Straße. Vier weitere in einem Supermarkt. Redaktion, Straße, Supermarkt – Orte, die für Öffentlichkeit stehen. Für das Recht, öffentlich seine Meinung zu äußern. Für das Recht, diese öffentlich zu diskutieren. Für das Recht, sich frei zu bewegen. Ungeachtet von Geschlecht, Herkunft, Religion.
18 Menschen sind tot. Weil sie Öffentlichkeit erzeugten, oder mehr noch: herausforderten, oft schmerzlich, damit sie, indem sie über sich nachdenkt, wächst. Weil sie sich an öffentlichen Orten aufhielten. Weil sie öffentliche Orte bewachten. Die Pariser Attentate auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt sind Angriffe „auf die kulturellen Fundamente von Gesellschaft“, schreibt Johannes Odenthal. Nicht einer bestimmten Gesellschaft, sondern auf die Fundamente einer Gesellschaft generell. Auf die Ideale eines Zusammenlebens: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Grundsätze, die längst nicht verwirklicht sind, auf die sich aber jeder jederzeit berufen kann. Daher wird es jetzt das Wichtigste sein weiterzumachen. Auf diesem Zusammenleben zu beharren, dafür einzutreten, in den Zeitungen, auf der Straße, im Theater, im Dialog, im Diskurs, im Streit, trotz Verletzungen, Wut und Ärger – aber nie mit Gewalt. Dafür setzen sich die Künstler, die in diesem Heft zu Wort kommen, ein: der französische Theatermacher Philippe Quesne, die libanesische Schriftstellerin Etel Adnan, der französische Dramaturg Maurice Taszman sowie Johannes Odenthal in seinem Text über den libanesischen Künstler Rabih Mroué. Seid verantwortungsvoll, fordert Etel Adnan. Schaut auf die Vorstädte. Und man müsste fortsetzen: Auf Palästina. Auf Syrien. Auf den Irak. Auf Afghanistan. Auf die USA. Auf Europa. Auf die Drohnenkriege. Auf die Folterskandale. Auf den NSU … Die Liste ist lang. Doch Wegschauen zur „Wahrung des Scheins moralischer Vollkommenheit“, wie Josef Bierbichler in seiner Kolumne schreibt, ist keine Lösung.
Es ist schwer, in diesen Tagen ein Editorial für diese Zeitschrift zu schreiben. Weil jemand, mit dem wir gern unsere Sorgen und Ängste, unseren Schrecken über den Terror in Paris geteilt hätten, fehlt: Martin Linzer. Schweren Herzens, voll Trauer, aber auch – wie er es gewollt hätte – mit einem Glas Rotwein in der Hand, verabschieden wir uns in diesem Heft mit einem großen Schwerpunkt von unserem langjährigen, ja jahrzehntelangen „Mister Theater der Zeit“.
Wie viele andere Theater muss nun auch die Berliner Volksbühne ohne ihren schärfsten, aber auch liebevollsten Kritiker auskommen. Der graue Tanker am Rosa-Luxemburg-Platz ist vor kurzem 100 Jahre alt geworden. Gunnar Decker war bei den Feierlichkeiten ohne Feier dabei: „Castorf“, schreibt er, „scheint nicht begabt, auf gutbürgerliche Weise konservativ zu werden, wie wir alle im Alter. Er spielt lieber lustvoll mit dem Feuer.“ Doch wie das vererben? Das sei die eigentliche Frage nach hundert Jahren.
Glück mit der Volksbühne hatte der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak nicht. 2005 zeigte er dort im Rahmen von spielzeit’europa seine Shakespeare-Adaption „Romeo und Julia. Das Fragment“ – und fiel beim Publikum gnadenlos durch. Zehn Jahre später sieht das nun anders aus. Thomas Irmer berichtet von Zholdaks Comeback in Oberhausen – und der Leerstelle, die er in seinem Heimatland hinterlässt. Denn dort ist der einst Geschasste nicht mehr allzu häufig zu sehen. Die Tagebücher des Maidan von Natalia Voroschbit, unser Stückabdruck im Februar, erzählen von diesem Land, von einer Utopie, die mit den Massenprotesten auf dem Maidan begann, und der Zerrissenheit der dortigen Akteure.
Gratulieren wollen wir in diesem Monat Etel Adnan. Die Schriftstellerin und Malerin wird am 24. Februar 90 Jahre alt. „Was ich mir zu Etel Adnans 90. Geburtstag wünsche?“, fragt Klaudia Ruschkowski. „Dass die Leute ihre Zurückhaltung gegenüber Poesie über Bord werfen, dass sie Etels Gedichte lesen und sich von ihrer Neugier, ihrem Scharfsinn, ihrer Lebenslust anstecken lassen.“ Auch wir wünschen von Herzen alles Gute. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Thema: Paris | |
Was Menschsein bedeutetWarum die Kunst in Frankreich heute wichtiger ist denn je. Der Theaterleiter und Regisseur Philippe Quesne im Gespräch mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Philippe Quesne | Seite 4 |
Schaut auf die VorstädteDie libanesische Schriftstellerin und Malerin Etel Adnan über die Anschläge in Paris im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Etel Adnan | Seite 7 |
Das Lachen ist dem Menschen eigenvon Maurice Taszman | Seite 8 |
Abschied vom Kampf der KulturenWie der Künstler Rabih Mroué mit seiner Arbeit die Verwerfungen zwischen Europa und der arabischen Welt systematisch analysiertvon Johannes Odenthal | Seite 9 |
Kolumne | Seite 11 |
Im Jahr des Herrnvon Josef Bierbichler | |
Abschied: in memoriam Martin Linzer | Seite 12 |
Bewahrer der Maßstäbe, Fürsprecher des NeuenMartin Linzer zum Gedenkenvon Wolfgang Behrens, Gunnar Decker, Friedrich Dieckmann, Dorte Lena Eilers, Wolfgang Engel, Barbara Engelhardt, Joachim Fiebach, Frank Hörnigk, Nikolaus Merck, Harald Müller, Frank M. Raddatz, Lena Schneider, Kathrin Tiedemann, Thomas Irmer, Thomas Wieck, Hans-Dieter Schütt, Alexander Weigel, Sewan Latchinian, Dieter Görne, Manuel Soubeyrand, Maurice Taszman, Roland May, Lothar Scharsich, Maik Hamburger, Lutz Hillmann, Bert Koß, Christian Martin, Werner Buhss, Ingeborg Knauth, Carmen-Maja Antoni, Axel Werner, Simone von Zglinicki, Christian Grashof, Claudia Wiedemer, Mirka Döring, Horst Rehberg und Thomas Rühmann | |
Protagonisten | |
Vererbt den Skandal!Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin ist 100 gewordenvon Gunnar Decker | Seite 28 |
In der Höhle des Dra-Dra-DrachensHansgünther Heyme verlässt nach elf Jahren das Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen. Ein Rückblickvon Otto Paul Burkhardt | Seite 30 |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 33 |
Things that surround usvon Clément Layes | |
bodies in tubes und die squatting projectsvon Saskia Hölbling | |
Protagonisten | |
Aus Albträumen erwachenDer ukrainische Regisseur Andriy Zholdak hat in Oberhausen gezeigt, wer er ist – und dass er in seiner Heimat fehltvon Thomas Irmer | Seite 34 |
Ob es euch missfällt?Die Regisseurin Nora Schlocker gräbt in großen Stoffen nach kühnen Analogienvon Martin Krumbholz | Seite 36 |
Reise ist HerkunftSie reflektiert über Geschichte und Politik, eröffnet Blicke auf Natur und gibt Einblicke in ihr eigenes kosmopolitisches Selbst: Der Künstlerin Etel Adnan zum 90. Geburtstagvon Klaudia Ruschkowski | Seite 38 |
Look Out | |
Der ICE hält hier nichtDer Dramatiker Johannes Hoffmann erforscht in seinen Stücken den kleinstädtischen Raumvon Margarete Affenzeller | Seite 40 |
Die SeiltänzerinDie Schauspielerin und Sängerin Katrin Kaspar hält Körper und Geist leichtfüßig in Balancevon Mehdi Moradpour | Seite 41 |
Auftritt | |
Dresden: Vier Fäuste und kein HallelujaStaatsschauspiel Dresden: „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe. Regie Linus Tunström, Ausstattung Esther Bialasvon Michael Bartsch | Seite 43 |
Genf: Schreiben gegen / für das TheaterComédie de Genève / Théâtre du Loup: „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ von Heiner Müller. Regie Jean Jourdheuil, Ausstattung Jean-Claude Maretvon Maurice Taszman | Seite 44 |
Karlsruhe: Eurydike in der UnterweltBadisches Staatstheater: „Schatten (Eurydike sagt)“ (DEA) von Elfriede Jelinek. Regie Jan Philipp Gloger, Ausstattung Marie Rothvon Torsten Israel | Seite 45 |
Luzern: Heldin mit TunnelblickLuzerner Theater: „Antigone“ von Sophokles. Regie Wojtek Klemm, Bühne Mascha Mazur, Kostüme Julia Kornackavon Elisabeth Maier | Seite 46 |
Wien: Verratene und VerräterSchauspielhaus: „Johnny Breitwieser. Eine Verbrecher-Ballade aus Wien“ (UA) von Thomas Arzt (Text) und Jherek Bischoff (Komposition); Burgtheater: „die unverheiratete“ (UA) von Ewald Palmetshofervon Christoph Leibold | Seite 47 |
Zürich: Kammerspiel des GemetzelsTheater Neumarkt: „Macbeth“ von William Shakespeare. Regie Pedro Martins Beja, Bühne Nadia Fistarol, Kostüme Sabina Winklervon Dominique Spirgi | Seite 49 |
Stück | |
Der Text als AugenzeugeWojtek Klemm, Regisseur der Warschauer Uraufführung von „Tagebücher des Maidan“, im Gespräch mit Thomas Irmervon Thomas Irmer und Wojtek Klemm | Seite 50 |
Tagebücher des Maidanvon Natalia Voroschbit | Seite 52 |
Magazin | |
Die Enge des Festsaals„Dechovka – Blasmusik“ des tschechischen Theaters Vosto5 erinnert an das Schicksal der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkriegvon Mirka Döring | Seite 65 |
Weg von hierWie dem Berliner Gefängnistheater aufBruch in seinen zwei neuesten Produktionen der Ausbruch gelingt – als Aufbruch aus dem Gewohntenvon Mehdi Moradpour | Seite 66 |
kirschs kontexte: Ein Traum in WiFivon Sebastian Kirsch | Seite 67 |
„Eine Marionette – das ist Scheiße“Zum Tod der Schauspielerin Ruth Glössvon Stephan Suschke | Seite 68 |
Moderne TotentänzeKunstsammlungen Chemnitz (Hg.): Andy Warhol. Death and Disaster. Kerber Verlag, Bielefeld 2014, 136 S., 39,95 EUR.von Gunnar Decker | Seite 70 |
Leuchte, LaterneThéâtre du Soleil: Les Naufragés du Fol Espoir. F 2013, 3 DVDs, 37 EURvon Lena Schneider | Seite 71 |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Der Traum vom großen Glückvon Ralf Schenk | Seite 74 |
Literatur: Vom Paradies über die Straße bis nach Shanghaivon Katrin Schuster | Seite 74 |
Kunst: Durchs Weltall rasenvon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
Musik: Wechselwettervon Ulrike Rechel | Seite 75 |
Aktuell | |
PremierenFebruar 2015 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 77 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Jürgen Trittin?von Matthias Dell und Jürgen Trittin |
Etel Adnan
Margarete Affenzeller
Carmen-Maja Antoni
Michael Bartsch
Wolfgang Behrens
Josef Bierbichler
Werner Buhss
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Matthias Dell
Friedrich Dieckmann
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Wolfgang Engel
Barbara Engelhardt
Joachim Fiebach
Dieter Görne
Christian Grashof
Maik Hamburger
Lutz Hillmann
Saskia Hölbling
Frank Hörnigk
Thomas Irmer
Torsten Israel
Sebastian Kirsch
Wojtek Klemm
Ingeborg Knauth
Bert Koß
Martin Krumbholz
Sewan Latchinian
Clément Layes
Christoph Leibold
Elisabeth Maier
Christian Martin
Roland May
Nikolaus Merck
Mehdi Moradpour
Harald Müller
Ute Müller-Tischler
Johannes Odenthal
Philippe Quesne
Frank M. Raddatz
Ulrike Rechel
Horst Rehberg
Thomas Rühmann
Klaudia Ruschkowski
Lothar Scharsich
Ralf Schenk
Lena Schneider
Katrin Schuster
Hans-Dieter Schütt
Manuel Soubeyrand
Dominique Spirgi
Stephan Suschke
Maurice Taszman
Kathrin Tiedemann
Jürgen Trittin
Simone von Zglinicki
Natalia Voroschbit
Alexander Weigel
Axel Werner
Thomas Wieck
Claudia Wiedemer
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