Heft 02/2017
Schauspiel oder Performance?
Walter Hess und Matthias Lilienthal über die Debatte um die Münchner Kammerspiele
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
„Kammerspiele? Jammerspiele!“ So stand es am 11. November 2016 in großen Lettern auf Seite 1 des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung. Ein Startsignal zum Abschuss? Oder Ausdruck einer berechtigten Sorge? Im zweiten Jahr der Intendanz von Matthias Lilienthal sind die Münchner Kammerspiele zum Gegenstand einer großen Debatte geworden. Nachdem mit Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler drei Schauspielerinnen angekündigt hatten, das Theater zu verlassen, wurde Kritik an der künstlerischen Ausrichtung des Hauses laut. Lilienthal wolle keine Schauspielvirtuosen mehr, sondern nur noch Performer. Doch stimmt das überhaupt?
Wir haben Matthias Lilienthal zum Gespräch gebeten und als Gegenüber dazu auch den langjährigen Kammerspiele-Schauspieler Walter Hess eingeladen – mit dem Ergebnis, dass aus dem Gegenüber eher ein Miteinander wurde. Beide differenzieren im Gespräch mit Christoph Leibold zwar zwischen Performance und Schauspiel, interessieren sich aber viel mehr für die Zwischenbereiche. In eben dieser Verbindung von identifikatorischem Spiel und performativen Elementen sieht Regisseur Jan Philipp Gloger den Kern seiner Arbeit. Im Sommer 2018 wird er als Schauspieldirektor ans Staatstheater Nürnberg gehen. Für sein dortiges Ensemble wünscht er sich beide Fähigkeiten. Der Kammerspiele-Schauspieler Samouil Stoyanov wäre wahrscheinlich so ein Gloger’scher Wunschkandidat. Fasziniert beschreibt Christoph Leibold in seinem Porträt, wie dieser Schauspieler nicht in Rollen schlüpft, seine Figuren schlüpfen vielmehr in ihn.
An ähnlichen Allianzen zwischen Schauspiel und Performance, Ensemble und Freie-Szene-Künstlern arbeitet auch das BANDEN!-Projekt am Oldenburgischen Staatstheater. Mit der Schwankhalle Bremen und dem HochX in München haben wir zudem zwei Orte der freien Szene im Heft, die unter neuer Leitung die performativen Künste neu vermessen.
Problematischer indes sieht Bernd Stegemann den Einbruch der Performance in das Theater. In seinem soeben bei Theater der Zeit erschienenen Buch „Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie“ schlägt der Berliner Dramaturg den Bogen von einem politischen Populismus hin zu einem ästhetischen, den er vor allem im Drang des postdramatischen Theaters zur „authentischen Darstellung“ sieht. Die Welt ohne Repräsentation auf die Bühne zu stellen, bedeute, die vermittelnde Instanz aufzuheben, schreibt er in seinem Essay für dieses Heft. Ähnlich beruhe der Erfolg populistischer Politiker auf der Forderung, der Wille des Volkes solle ohne störende Vermittlung Gehör finden.
Papa kümmert sich – um alles, sagt Peter Wawerzinek. Der Berliner Schriftsteller war drei Monate lang Stadtschreiber in Dresden und bekam es gleich, wie TdZ-Kolumnist Ralph Hammerthaler schildert, mit den „Followern“ der Pegida-Bewegung zu tun. „P.-Führer“ Lutz Bachmann echauffierte sich vor seinem Schimpfmobil über eine Kolumne dieses „Walatschinek“. „Läuft doch, Peter“, lobt unser Kolumnist.
Weiter im Norden, in Mecklenburg-Vorpommern, beginnen derweil die Vorbereitungen zu einer großen Fusion. Ab 2018 soll durch den Zusammenschluss des Theater Vorpommern mit den Spielstätten in Stralsund, Greifswald, Putbus auf der einen und Neustrelitz-Neubrandenburg auf der anderen Seite ein Theaterkombinat entstehen. Staatstheater Nordost wird es genannt. Politischer und künstlerischer Nutzen, schreibt Gunnar Decker, seien indes mehr als unklar.
„Das große Welttheater“ – so hieß 2011 eine Produktion am Theater Freiburg. Regie-Berserker Calixto Bieito hatte Calderons Werk zur Musik von Carles Santos auf die Bühne gebracht. Das monumentale Bühnenbild kam von Rebecca Ringst. Gunnar Decker porträtiert die Künstlerin in unserem Künstlerinsert. In ihren Bühnen geht es um werdende und vergehende Welten. Ganz so, wie es auch der Dramatiker Thomas Freyer beschreibt, dessen jüngstes Stück „kein land. August“ wir in diesem Heft drucken. „Kunst ist ja in den seltensten Fällen etwas, das die konkreten Dinge des Lebens verändern kann“, sagt Freyer im Gespräch mit Jakob Hayner. Aber in ihrer Kraft könne doch etwas Tröstliches liegen.//
Die Redaktion
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Bühnenräumevon Rebecca Ringst | Seite 4 |
Magie der KlangräumeDie Räume der Bühnenbildnerin Rebecca Ringst wirken wie Organismen – sie atmen ein und aus, wachsen und sterben abvon Gunnar Decker | Seite 8 |
Thema | |
Wir machen nur Schauspielertheater!Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, und der Kammerspiele- Schauspieler Walter Hess über die Unterschiede von Schauspiel und Performance im Gespräch mit Christoph Leiboldvon Matthias Lilienthal, Christoph Leibold und Walter Hess | Seite 10 |
Experten für Spiel und WirklichkeitWarum die Diskussion „Schauspielertheater versus Performance“ falsche Fronten schafftvon Jan Philipp Gloger | Seite 16 |
Der DaseinsschauspielerDer Kammerspiele-Schauspieler Samouil Stoyanov schlüpft nicht in Rollen – sondern sie schlüpfen in ihnvon Christoph Leibold | Seite 18 |
Essay | Seite 20 |
Der Populismus der Mittevon Bernd Stegemann | |
Protagonisten | |
Resetting StaatstheaterIn Oldenburg stiftet das Projekt BANDEN! neue performative Allianzen zwischen Institution und freier Szenevon Natalie Fingerhut | Seite 24 |
Mehr Kunst!Mit dem HochX eröffnet in München ein vielversprechender Spielort der freien Szenevon Christoph Leibold | Seite 26 |
Nichts geht mehr?Wie die Schwankhalle in Bremen unter der neuen Leitung von Pirkko Husemann die ersten Startschwierigkeiten meistert – auch dank eines außergewöhnlichen Solidarpakts der Stadtvon Natalie Fingerhut | Seite 28 |
Die große FusionIn Mecklenburg-Vorpommern soll ab 2018 das „Staatstheater Nordost“ fünf Standorte vereinigen – politischer und künstlerischer Nutzen sind jedoch unklarvon Gunnar Decker | Seite 30 |
Kolumne | Seite 33 |
Bachmann gegen BachmannDas Schimpfmobil von Pegida stänkert gegen Peter Wawerzinekvon Ralph Hammerthaler | |
Look Out | |
Der DoppeltbegabteBei dem Regisseur Alexander Eisenach wissen Schriftsteller ihre Romane in guten Händen – weil er selbst ein gefragter Autor istvon Shirin Sojitrawalla | Seite 34 |
Das wilde SchafDie Schauspielerin Lisa Klabunde begeistert am Theater Rudolstadt mit Überzeugungskraft und Verwandlungskunstvon Gunnar Decker | Seite 35 |
Auftritt | |
Basel: Wohnen hinter GlasTheater Basel: „Drei Schwestern“ von Simon Stone nach Anton Tschechow. Regie Simon Stone, Bühne Lizzie Clachan, Kostüme Mel Pagevon Christoph Leibold | Seite 39 |
Berlin: Dialog im Eisschrank und der Blick der RatteBerliner Ensemble: „Endspiel“ von Samuel Beckett. Regie und Bühne Robert Wilson, Kostüme Jacques Reynaudvon Andrzej Tadeusz Wirth | Seite 39 |
Berlin: Die Austreibung des HumanismusDeutsches Theater: „Kuffar. Die Gottesleugner“ (UA) von Nuran David Calis. Regie Nuran David Calis, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Amélie von Bülow und Carina von Bülow-Conradivon Gunnar Decker | Seite 40 |
Berlin: Tragikomödie des EigensinnsSchaubühne: „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler. Regie Thomas Ostermeier, Bühne Jan Pappelbaum, Kostüme Nina Wetzelvon Jakob Hayner | Seite 41 |
Dortmund: Der nächste Winter kommt bestimmtTheater Dortmund: „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ von Bertolt Brecht. Regie Sascha Hawemann. „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“ von Franz Xaver Kroetz. Regie Wiebke Rütervon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Hannover: Die Sprengung des KontinuumsSchauspiel Hannover: „Macht und Widerstand“ (UA) nach dem Roman von Ilija Trojanow. Regie und Bühne Dušan David Parízek, Kostüme Kamila Polívkovávon Dorte Lena Eilers | Seite 44 |
Karlsruhe: Ich will nicht sterbenBadisches Staatstheater: „Sterben helfen“ (UA) von Konstantin Küspert. Regie Marlene Schäfer, Ausstattung Marina Stefanvon Björn Hayer | Seite 46 |
Marburg: Im Griff der Schwarzen JohannaHessisches Landestheater Marburg: „Schluckspecht“ (UA) nach dem Roman von Peter Wawerzinek. Regie Simon Meienreis, Ausstattung Mirella Oestreichervon Joachim F. Tornau | Seite 47 |
Potsdam: Radikal weiblichHans Otto Theater: „Die schönen Dinge“ (UA) nach dem Roman von Virginie Despentes. Regie Wojtek Klemm, Bühne Anton Unai, Kostüme Anika Buddevon Lena Schneider | Seite 48 |
Stück | |
„Über eine Welt schreiben, in der es keine sicheren Orte mehr gibt“Der Dramatiker Thomas Freyer über sein Stück „kein Land. August“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Thomas Freyer und Jakob Hayner | Seite 50 |
kein Land. Augustvon Thomas Freyer | Seite 52 |
Magazin | |
EinheizenIn Dresden wurde mit dem Kraftwerk Mitte ein einzigartiger Spielstättenkomplex eröffnetvon Thomas Irmer | Seite 67 |
Vive la DifférenceFrausein, Schwarzsein, Anderssein – Das Festival der afropäischen Künste am Frankfurter Mousonturm dekonstruiert Rollenbildervon Shirin Sojitrawalla | Seite 68 |
Ein Buch auf einer Reise durch die ZeitIn Reykjavik überführt Regisseurin Yana Ross einen Jahrhundertroman der isländischen Literatur in ein Panorama des Inselstaats nach der Bankenkrisevon Thomas Irmer | Seite 70 |
kirsch kontexte: Vom Hundertsten ins Tausendste reisenOder: Wie sieht man im Getümmel?von Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Könnte ich doch das Schreiben aufgebenSamuel Beckett: Wünsch Dir nicht, daß ich mich ändere. Briefe 1957–1965. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 900 S., 58 EUR.von Holger Teschke | Seite 72 |
Da hilft kein SpekulierenHonoré de Balzac: Mercadet oder Warten auf Godeau. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Erika Tophoven. Verbrecher Verlag, Berlin 2017, 122 S., 16 EUR.von Jakob Hayner | Seite 73 |
Meldungen | Seite 74 |
Aktuell | |
TdZ on Tour | Seite 75 |
Premieren Februar 2017 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren Februar 2017/Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Nicola Bramkamp?von Nicola Bramkamp und Martin Krumbholz |
Nicola Bramkamp
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Natalie Fingerhut
Thomas Freyer
Jan Philipp Gloger
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Jakob Hayner
Walter Hess
Thomas Irmer
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Matthias Lilienthal
Rebecca Ringst
Lena Schneider
Shirin Sojitrawalla
Bernd Stegemann
Holger Teschke
Joachim F. Tornau
Andrzej Tadeusz Wirth
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