Heft 11/2017
Die rote Revolution
Russland zwischen 1917 und der Gegenwart
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Am 7. November jährt sich zum einhundertsten Mal der Sturm auf den Winterpalast, der zum Symbol der Revolution der Bolschewiki in Russland wurde. Das Jahr 1917 war eine Epochenwende, ein stürmisches Fanal des „Zeitalters der Extreme“, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte. Theater und Film produzierten die ikonischen Bilder dazu. Der Theaterregisseur Nikolaj Jewrejnow inszenierte 1920 zum dritten Jahrestag der im Geltungsbereich des Gregorianischen Kalenders sogenannten Oktoberrevolution ein Massenspektakel mit über 10 000 Beteiligten. Ein Reenactment, das die Bilder erfand, welche die Revolution verbürgen sollten. 1928 schuf Sergej Eisenstein mit seinem Film „Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ nach dem Buch von John Reed weitere ikonische Bilder. Bei Hobsbawm ist zu lesen, dass während der Dreharbeiten zu „Oktober“ mehr Menschen verletzt wurden als bei dem historischen Sturm auf den Winterpalast. Die Oktoberrevolution ist ein von Bildern, Inszenierungen und Reinszenierungen überlagertes Ereignis.
Der Regisseur Milo Rau fügt sich in diese Reihe. Am 7. November ruft er zum Sturm auf den Berliner Reichstag auf. „Es ist Zeit für einen neuen politischen Universalismus“, sagt Rau. Neben dem Reenactment des Sturms auf den Winterpalast hat er deswegen das erste Weltparlament einberufen. An der Berliner Schaubühne feierte am 19. Oktober sein neuestes Stück mit dem Titel „Lenin“ Premiere. Die Schauspielerin Ursina Lardi, die den Theoretiker und Führer der Bolschewiki spielt, und Milo Rau erläutern im Gespräch ihre Auseinandersetzung mit Lenin, dem Jahr 1917 und dem Erstarren der Revolution. Im Kunstinsert stellen wir den Maler und Bühnenbildner Ezio Toffolutti vor. Zu Heiner Müllers Revolutionsstück „Zement“ in der Regie von Dimiter Gotscheff schuf Toffolutti Bühne und Kostüme, die tief in die Widersprüche der Jahre nach 1917, in den Bürgerkrieg und den Kriegskommunismus hineinführen – eine Blutspur der Geschichte zwischen großen Träumen und ihrem Scheitern, schreibt Gunnar Decker.
Neben dem Blick auf das Jahr 1917 haben wir uns auch der Gegenwart in Russland gewidmet. Die Spuren der Oktoberrevolution sind auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch zu spüren. Beim Kunstfest in Weimar bot der russische Regisseur Maxim Didenko mit „Tschapajew und Pustota“ einen Blick in die Wirren der russischen Geschichte der letzten einhundert Jahre – vom Neuen Menschen der Sowjetzeit bis zu den Neuen Russen der neunziger Jahre. In ihrer Reportage aus Moskau berichtet Maria Buzhor unter anderem von Didenkos Inszenierung von Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, aber auch von dem Fall des verhafteten Regisseurs Kirill Serebrennikow. So ergibt sich ein Bild des russischen Theaters, das sich im Räderwerk des Machtapparats zu behaupten versucht. Dass dieser im Zweifelsfall wenig zimperlich ist, zeigte der Umgang mit der Punkband Pussy Riot vor wenigen Jahren. Mitglieder wurden verhaftet und in Gefängnis und Arbeitslager gesperrt. Inzwischen fährt die Gruppe als Pussy Riot Theatre mit einer Bühnenshow um die Welt. Zeitgemäßes Agitprop-Theater, befindet Erik Zielke. Über den eigenartigen Umgang mit der Oktoberrevolution schreibt der Philosoph Frank Ruda. Zwischen Distanzierung und unwillkürlicher Wiederholung changiere der Blick auf das Jahr 1917. Um sich davon zu lösen, müsse man die Revolution – vor allem politisch – durcharbeiten.
Über den Wiederholungszwang und die Möglichkeit, ihm zu entgehen, berichtet in ihrer Kolumne auch Kathrin Röggla. Gegenüber den Wiedergängern der Realität habe die Wiederholung auf der Bühne jedoch etwas Heilsames. In solch möglicherweise heilsame Abgründe begibt sich das Berliner Ensemble unter dem neuen Intendanten Oliver Reese. Den furiosen Auftakt hat Gunnar Decker gesehen, der sich in die lichtlosen Gefilde des Wahnsinns geworfen fand. Geradezu klassisch und heiter ging es dagegen bei der Wiedereröffnung der Staatsoper Berlin zu. Angesichts der architektonischen Leistung zeigt sich Friedrich Dieckmann begeistert. In Berlin-Mitte spielten sich zum Start der Intendanz von Chris Dercon an der Volksbühne hingegen ganz andere Szenen ab: Im Rahmen einer Kunstaktion wurde das Theaterhaus am Rosa-Luxemburg-Platz kurzerhand besetzt. Zum weiteren Verlauf dieser Performance siehe unsere Glosse. Von seiner neuen Aufgabe im brasilianischen São Paulo erzählt Ismael Ivo im Gespräch, er ist künstlerischer Leiter des renommierten Balé da Cidade. Doch weg von den Dingen, die beginnen, zu denen, die enden: Die diesjährige Ruhrtriennale bildete unter dem Leitmotiv „Seid umschlungen“ den Abschluss der Intendanz von Johan Simons. Hohe Kunst und politischen Anspruch gedachte Simons in dem von sozialen Verwerfungen geprägten Ruhrpott zu verbinden – ob das gelungen ist, weiß Martin Krumbholz zu berichten. Im Stückabdruck präsentieren wir Max Messers Kriminalgeschichte „Der Tod ist kein Geschäft“. Im Interview erzählt Alexander Eisenach, wie ihn dieser Text bei der Arbeit für sein neuestes Stück „Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ beeinflusst hat. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Skizzen und Bühne von Ezio Toffolutti zu Heiner Müllers „Zement“ in der Regie von Dimiter Gotscheffvon Ezio Toffolutti | Seite 4 |
Blutspur der GeschichteWie der Maler, Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti zu Heiner Müllers „Zement“ Bilder der Revolution und der begrabenen Träume geschaffen hatvon Gunnar Decker | Seite 8 |
Thema | |
Heute, 1917Über die Oktoberrevolution und Formen der Wiederholung des Vergangenenvon Frank Ruda | Seite 11 |
Putsch in der PlastikweltMaxim Didenkos „Tschapajew und Pustota“ beim Kunstfest Weimar ist ein psychedelischer Trip durch hundert Jahre russischer Geschichtevon Jakob Hayner | Seite 13 |
Die erstarrte RevolutionDie Schauspielerin Ursina Lardi und der Regisseur Milo Rau über ihr Stück „Lenin“, das Jahr 1917 und den Sturm auf den Berliner Reichstag im Gespräch mit Jakob Haynervon Milo Rau, Jakob Hayner und Ursina Lardi | Seite 14 |
Russland, was willst du von mir?Das russische Theater im Räderwerk der Macht – eine Reportage aus Moskauvon Maria Buzhor | Seite 18 |
Wir existierenDas Pussy Riot Theatre als Agitprop im Geiste der Revolutionvon Erik Zielke | Seite 21 |
Die vergessene HungerhölleDas Stück „67/871“ vom Sankt Petersburger Teatr Pokoleniy über die Leningrader Blockadevon Thomas Irmer | Seite 22 |
Kolumne | Seite 23 |
Farce und TragödieAuf der Wiederholungsspurvon Kathrin Röggla | |
Protagonisten | |
Cosmopolis zwischen Rhein und RuhrZum Abschluss der Ruhrtriennale unter der Leitung von Johan Simonsvon Martin Krumbholz | Seite 24 |
Ich will den Mond!Am Berliner Ensemble werden unter dem neuen Intendanten Oliver Reese die lichtlosen Gefilde erkundet, in denen sich der Wahnsinn vor der Vernunft verbirgtvon Gunnar Decker | Seite 28 |
Glosse | Seite 31 |
Die Schule des BefremdensDie Berliner Volksbühne erlebt eine Performance der besonderen Art – ihre Besetzungvon Jakob Hayner und Erik Zielke | |
Protagonisten | |
Die neue LindenoperBerlin hat sein zentrales Opernhaus wiedervon Friedrich Dieckmann | Seite 32 |
Kannibale des OpernhausesDer Tänzer, Choreograf und Intendant des Balé da Cidade de São Paulo Ismael Ivo über die Herausforderungen für eine neue brasilianische Tanzkunst in einer zerrissenen Stadt im Gesprächvon Johannes Odenthal und Ismael Ivo | Seite 35 |
Look Out | |
Einer, der Träume fliegen lässtDer Karlsruher Schauspieler Meik van Severen schafft es, mit Stärken und Schwächen seiner Figuren zu jonglierenvon Elisabeth Maier | Seite 38 |
Akupunktur des PublikumsDas Kollektiv Salon Hybrid experimentiert mit einer Wissenschaftsästhetik – ohne Ausflüchte, ohne Hinterbühnevon Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 39 |
Auftritt | |
Basel: Die unendlich einsamen WeitenTheater Basel: „Woyzeck“ von Georg Büchner. Regie und Bühne Ulrich Rasche, Kostüme Sara Schwartzvon Christoph Leibold | Seite 41 |
Berlin: Ankunft in CharlottenburgSchaubühne am Lehniner Platz: „Rückkehr nach Reims“ nach Didier Eribon. Regie Thomas Ostermeier, Ausstattung Nina Wetzelvon Jakob Hayner | Seite 41 |
Bielefeld: Laute UrliebeTheater Bielefeld: „Das Knurren der Milchstraße“ (UA) von Bonn Park. Regie Bonn Park, Ausstattung Julia Nussbaumervon Christine Adam | Seite 42 |
Graz: Nonsens eines kalten HerrnSchauspiel Graz: „Faust :: Mein Brustkorb : Mein Helm“ (ÖEA) von Werner Schwab. Regie Claudia Bauer, Bühne Patricia Talacko, Kostüme Dirk Thielevon Christoph Leibold | Seite 43 |
Halle: Krieg und FriedenNeues Theater: „Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel. Regie Matthias Brenner, Ausstattung Nicolaus-Johannes Heysevon Dorte Lena Eilers | Seite 44 |
Heidelberg: Nationalismus mit UrwaldfeelingTheater Heidelberg: „Wo die Barbaren leben“ (DSE) von Pablo Manzi. Regie und Kostüme Luise Voigt, Bühne Peer Rudolphvon Björn Hayer | Seite 46 |
Leipzig: Vorhölle BahnhofshalleSchauspiel Leipzig: „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth. Regie Enrico Lübbe, Bühne Hugo Gretler, Kostüme Bianca Deignervon Lilli Helmbold | Seite 47 |
Paderborn: Dreimal TodTheater Paderborn: „In weiter Ferne“ von Caryl Churchill. Regie Robert Teufel, Ausstattung Rebekka Zimlichvon Sascha Westphal | Seite 48 |
Magdeburg: Die Theorie frisst ihre KinderTheater Magdeburg: „Hello. It’s me Democracy“ (UA) von Jan Koslowski. Regie Jan Koslowski, Bühne Maximilian Siebenhaar, Kostüme Svenja Gassenvon Paula Perschke | Seite 49 |
Schwerin: Tod und AuferstehungMecklenburgisches Staatstheater: „Vor dem Fest“ (UA) nach dem Roman von Saša Stanišic. Regie Martin Nimz, Bühne Sebastian Hannak, Kostüme Jutta Kreischervon Gunnar Decker | Seite 51 |
Stück | |
Europa kann nur als Kriminalgeschichte erzählt werdenAlexander Eisenach über sein Stück „Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Alexander Eisenach und Jakob Hayner | Seite 52 |
Der Tod ist kein GeschäftHörspiel von Max Messer (eigtl. Heiner Müller)von Heiner Müller | Seite 54 |
Magazin | |
Fiume oder Tod!Das Radiokollektiv Ligna untersucht in „Rausch und Zorn“ das Erstarken des Faschismusvon Dorte Lena Eilers | Seite 63 |
Überall Panik?Das Kinder- und Jugendtheaterfestival Wildwechsel in Dresden diskutiert, wie sich gesellschaftliche Veränderungen auch für ein junges Publikum aufbereiten lassenvon Michael Bartsch | Seite 64 |
Mein Feindbild und ichDas Festival Wunder der Prärie in Mannheim zeigt die geballte Innovationskraft der Off-Szenevon Björn Hayer | Seite 65 |
Wo die Herrin sich um die Dienstmagd drehtDas Grillo-Theater in Essen wird 125 Jahre alt und feiert sich als Begegnungsort von Bürgertum und Arbeiterklassevon Martin Krumbholz | Seite 66 |
Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu vielErst streicht die Stadt dem Autorentheaterprojekt Wiener Wortstätten die Förderung – dann droht ein EU-Projekt zu platzen. Mitgründer Bernhard Studlar im Gesprächvon Margarete Affenzeller und Bernhard Studlar | Seite 67 |
Ohnmächtige Zofe, ungnädige Frau?Der Intendantin des Bochumer Prinzregenttheaters Romy Schmidt wurde unerwartet gekündigt, nun soll ein Mediator den Machtkampf entschärfenvon Martin Krumbholz | Seite 68 |
SchaulustDas kleine theater Kammerspiele Landshut wird 25 Jahre altvon Hannelore Meier-Steuhl | Seite 69 |
Fluchtgeschichten und KulturzensurTheater&Philharmonie Thüringen gastiert mit einem Stück über die Judenverfolgung in Tel Aviv und gerät mitten hinein in die Konfliktevon Svea Haugwitz | Seite 70 |
Reisebüro Rinck: Grandhotel Gnosisvon Monika Rinck | Seite 71 |
Die kommende RevolutionUnsichtbares Komitee: Jetzt. Edition Nautilus Hamburg, 2017, 128 S., 14 EUR.von Jakob Hayner | Seite 72 |
Rekonstruktion revolutionärer BegehrenBini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. edition suhrkamp, Berlin 2017, 320 S., 18 EUR.von Joshua Wicke | Seite 72 |
Ungeschliffene MurmelnSasha Marianna Salzmann: „Außer sich“, Suhrkamp Berlin 2017, 365 Seiten, 22 Euro.von Lena Schneider | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenNovember 2017 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Tdz on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren November 2017/Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Dorotty Szalma?von Michael Bartsch und Dorotty Szalma |
Christine Adam
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Maria Buzhor
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Alexander Eisenach
Theresa Luise Gindlstrasser
Svea Haugwitz
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