Heft 12/2018
Feier des Absurden
Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Die Waschmaschine exakt auf Kante unter dem Herd, gleich daneben Staubwedel und Spülschwämme in schönster Geometrie. Wäre die Welt derart geordnet wie in dem Bühnenbild von Marie Roth zu Jan Philipp Glogers Ionesco-Abend „Ein Stein fing Feuer“, wäre alles, so glauben es zumindest die Bewohner dieses Interieurs, in bester Ordnung. Gloger hat, wie Christoph Leibold berichtet, zu seinem Einstand als neuer Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg eine Feier des Absurden zelebriert, die wirkte, als habe Ionesco den heutigen Irrsinn vorweggenommen. Zu erleben gewesen sei eine in sinnentleerten Sprach- und Verhaltensroutinen gefangene Spießbürgerlichkeit, zu der sich absurde Aussagen von Zeitgenossen wie Donald Trump gesellten. Ein bemerkenswerter Neustart.
„Wenn die Regierung versagt, dann müssen wir es selbst machen!“ Auch in Jena startete mit dem niederländisch-flämischen Kollektiv Wunderbaum ein neues Team am Theaterhaus. Mit den Eröffnungsabenden „Jena macht es selbst“ und „Hallo Jena“ plädierte es in Zeiten des Politikversagens für ein fröhlich-anarchisches Do-it-Yourself, während am Hessischen Landestheater Marburg die neuen Leiterinnen Eva Lange und Carola Unser ihr Haus mit einem Zitat von Erwin Piscator schmückten: „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“ Paula Perschke und Joachim F. Tornau waren bei den ersten Premieren dabei.
An Erwin Piscator erinnert auch Jakob Hayner in diesem Heft. Der „Kämpfer für die revolutionäre Bühnenkunst“ wäre am 17. Dezember 125 Jahre alt geworden. Mit seinem lebenslangen Einsatz für ein politisches Theater wäre er ein guter Schirmherr für das Festival Politik im Freien Theater (PiFT) in München gewesen, doch die Jury legte das Festivalmotto „reich“ eher großzügig aus, sodass nicht alle gezeigten Arbeiten überzeugten. Ja, München ist reich – aber eben auch reich an schnelllebigen Festivals. Parallel zum PiFT fand dort das IETM-Meeting statt, wenige Wochen zuvor versammelte sich Münchens freie Szene beim Festival Rodeo. Wie viel Festivalitis verträgt eine Stadt? Das fragten unsere München-Korrespondenten Sabine Leucht und Christoph Leibold.
Das Mittelsächsische Theater Freiberg-Döbeln sieht sich derzeit mit sehr konkreten politischen Auseinandersetzungen konfrontiert. Mit Slogans wie „Migrationspakt stoppen“ bekam die AfD bei der Bundestagswahl 2017 im Wahlkreis Mittelsachsen so viele Stimmen, dass ihr Direktkandidat Heiko Hessenkemper nun im Bundestag sitzt. Er sei, wie Gunnar Decker schreibt, ein Mann für markige Sprüche, spreche offen von der „Umvolkung“, die die „politischmediale Klasse“ betreibe, mit dem Ziel, durch massenhafte Zuwanderung den linken Wählerkreis zu vergrößern. „Das klingt nach Verschwörungsszenario, hat aber offenbar einen starken Resonanzboden, nicht nur in Sachsen.“ RalfPeter Schulze, seit 2011 Intendant des Theaters in Freiberg-Döbeln, setzt sich gemeinsam mit seiner Schauspieldirektorin Annett Wöhlert dafür ein, mit anspruchsvollem Theater jenseits ideologischer Schlagworte Brücken zwischen verschiedenen Parteiungen in der Region zu bauen, ohne sich dabei künstlerisch zu verleugnen.
Die digitale Ausgabe im Original-Layout
Als Stückabdruck veröffentlichen wir in diesem Heft das Libretto von Durs Grünbein zu Johannes Maria Stauds Oper „Die Weiden“, die am 8. Dezember in der Regie von Andrea Moses an der Wiener Staatsoper uraufgeführt wird. Grünbein hatte vor ein paar Monaten auf einer Podiumsdiskussion mit dem Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp selbst Erfahrung damit gemacht, wie viele Brücken bereits eingestürzt sind. Er habe nicht damit gerechnet, dass solche starken und aggressiven Statements von einem Schriftsteller seiner Zeit kommen würden, sagt er im Gespräch mit Jakob Hayner. „Von Anfang an war jeder Dialog aufgekündigt.“ Diese Begegnung wie auch die Ereignisse in Freital, Clausnitz, Chemnitz, Kandel und Köthen sind in die Oper mit eingeflossen. Sie spielt an einem Fluss – „einem Strom, ,von Geschichte schwer‘“.
Erinnern wollen wir in unserem Künstlerinsert an den Maler und Bühnenbildner Eduardo Arroyo, der am 14. Oktober im Alter von 81 Jahren verstarb. Ellen Hammer schreibt über diesen kämpfenden Ästheten, der legendäre Bühnen für die Inszenierungen von Klaus Michael Grüber geschaffen hat. „Die Energie schöpfte er aus seinen Lebenserfahrungen, seinem Exildasein, das ihn aus der Entfernung schärfer sehen und beurteilen ließ, seiner Abscheu vor Diktatur und Unfreiheit, … seiner Offenheit anderen Kulturen gegenüber.“ Leitmotive, die wir in Gedenken an diesen einzigartigen Künstler gerne mit ins neue Jahr nehmen.
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern geruhsame Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Bühnenvon Eduardo Arroyo | Seite 4 |
Der kämpfende ÄsthetZum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyovon Ellen Hammerzum Online-Extra: Der kämpfende Ästhet. Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo | Seite 8 |
Thema | |
Feuer und FlammeJan Philipp Gloger entfacht bei seinem Start als Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg nicht nur Begeisterung für Ionesco, sondern auch für das neue Teamvon Christoph Leibold | Seite 11 |
Haus der tausend ProbebühnenDas niederländisch-flämische Theaterkollektiv Wunderbaum entert das Theaterhaus Jena – „Thüringen? Kein Problem!“ lautet ihr Mottovon Paula Perschke | Seite 14 |
Die ExperimentiererEva Lange und Carola Unser leiten das Hessische Landestheater in Marburg seit dieser Spielzeit als Doppelspitze – und wirbeln sogleich viel Staub aufvon Joachim F. Tornau | Seite 16 |
Protagonisten | Seite 18 |
Die rettende Insel?Das Mittelsächsische Theater Freiberg-Döbeln will sich in der politischen Auseinandersetzung mit der AfD künstlerisch nicht verleugnenvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 21 |
Du, SudabehSchauspiel Dortmund: Wollen Sie für den Frieden nicht aufstehen?von Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | |
Vornehm geht die Welt zugrundeUnter dem Motto „reich“ zeigt das Festival Politik im Freien Theater in München engagiertes Theater, jedoch oftmals ohne überzeugende künstlerische Formvon Christoph Leibold | Seite 22 |
Grab, wo du stehst!Beim Rodeo Festival und beim IETM-Meeting in München probte die freie Szene die Selbstverortung und den Brückenschlagvon Sabine Leucht | Seite 25 |
Kommentar | Seite 27 |
Mütter! Courage!Über mangelnden Nichtverlängerungsschutz in der Elternzeit und unsoziales Personalmanagement an der Theater, Oper und Orchester GmbH Hallevon Dorte Lena Eilers | |
Look Out | |
Kriegsschutt zu KunstDie Installationen und Projekte von Julian Hetzel sind provozierend schamlos und stellen gesellschaftliche Normen auf den Prüfstandvon Theresa Schütz | Seite 28 |
Musikalische ZügeDie Inszenierungen des Regisseurs Marius Schötz beeindrucken nicht nur durch großen Einfallsreichtum, sondern auch durch die von ihm selbst komponierten Liedervon Jakob Hayner | Seite 29 |
Auftritt | |
Baden-Baden: Der Schwachsinn liegt im SystemTheater Baden-Baden: Herzsprünge (DSE) von Terence Rattigan. Regie Benjamin Hille, Ausstattung Hannes Hartmann und Leonie Mohrvon Elisabeth Maier | Seite 33 |
Chemnitz: Der Blick zurückTheater Chemnitz: „Aufstand der Dinge. Ein Generationenprojekt zur Nachwendezeit“ (UA). Regie und Ausstattung Mirko Winkelvon Gunnar Decker | Seite 34 |
Cottbus: Die Würde der KumpelStaatstheater Cottbus: „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ nach dem gleichnamigen Film von Mark Herman. Regie Jörg Steinberg, Bühne Fred Pommerehn, Kostüme Stephanie Dornvon Thomas Irmer | Seite 35 |
Göttingen: Multimediale MaterialschlachtDeutsches Theater Göttingen: „Schwanengesang“ nach Franz Schubert. Regie Christian Friedel, Bühne Alexander Wolf, Kostüme Ellen Hofmannvon Joachim F. Tornau | Seite 36 |
Heidelberg: Unsichtbare MörderTheater Heidelberg: „Im Schatten kalter Sterne“ (UA) von Christoph Nußbaumeder. Regie Bernhard Mikeska, Bühne Steffi Wurster, Kostüme Romy Springsguthvon Björn Hayer | Seite 37 |
Konstanz: Wie viel wiegt eine Lüge?Theater Konstanz: „Eine Art Liebeserklärung“ von Neil LaBute, Regie Oliver Vorwerk; „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett. Regie Christoph Nixvon Bodo Blitz | Seite 38 |
München/Berlin: Zurück zur ÜbergrößeMünchner Kammerspiele: „Dionysos Stadt“ (UA); Berliner Ensemble: „Eine griechische Trilogie“ (UA)von Christoph Leibold | Seite 39 |
Tübingen: Das SommermärchenLandestheater Tübingen: „Die letzte Karawanserei“ von Ariane Mnouchkine. Regie Christoph Roos, Ausstattung Katrin Buschingvon Günther Heeg | Seite 41 |
Weimar: Zeit der MonsterDeutsches Nationaltheater Weimar: „November 1918“ (UA) nach Alfred Döblin. Regie André Bücker, Bühne Jan Steigert, Kostüme Suse Tobischvon Jakob Hayner | Seite 42 |
Stück | |
Ein Gleichnis für trübe ZeitenDer Dichter Durs Grünbein über sein Libretto für Johannes Maria Stauds Oper „Die Weiden“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Durs Grünbein und Jakob Hayner | Seite 44 |
Die WeidenOper in sechs Bildern. Musik von Johannes Maria Staudvon Durs Grünbein | Seite 46 |
Magazin | |
Widerstand und WiedergängerUnter dem Motto „Volksfronten“ positioniert sich der steirische herbst in Graz unter der neuen Leitung von Ekaterina Degot konsequent gegen rechtsvon Hermann Götz | Seite 63 |
Der Ölwert der DemokratieDas internationale Theaterfestival Unidram lud zu seinem 25. Jubiläum in die Potsdamer Schiffbauergasse einvon Sabine Schmidt | Seite 64 |
Obwohl der Tee längst getrunken istDas TheaterFest des Agora Theaters im belgischen St. Vith ruft dazu auf, sich in schwierigen Zeiten wieder der eigenen Handlungsspielräume zu vergewissernvon Christel Hoffmann | Seite 65 |
Geschichtsschreibung in kleinen BuchstabenEinhundert Jahre vereintes Rumänien: Während der Staatsfeierlichkeiten erkundet die Internationale Theaterplattform in Bukarest die Lage des Privatenvon Renate Klett | Seite 66 |
Ausweitung der KonfliktzoneDas Festival Divadelná Nitra in der Slowakei erweitert seine Ost-West-Austauschplattform für Rabih Mroués Entgrenzungenvon Thomas Irmer | Seite 67 |
Satiriker in der EU-Förder-DystopieDie freie Theatergruppe Qendra Multimedia organisierte als Flaggschiff des kosovarischen Theaters ihr erstes Festivalvon Tom Mustroph | Seite 68 |
Geschichten vom Herrn H.: Das Balkontrauerspielvon Jakob Hayner | Seite 69 |
Ein Kämpfer für die revolutionäre BühnenkunstÜber Erwin Piscator anlässlich seines 125. Geburtstagesvon Jakob Hayner | Seite 70 |
Zwischen Abschied und ErwartungZum Tod des Schauspielers Horst Schulzevon Gunnar Decker | Seite 71 |
Postrepräsentative BühnenJanina Audick: Talent. Edition Patrick Frey, Zürich 2018, 220 Seiten, 58 EUR.von Anna Opel | Seite 72 |
Auf den Trümmern des NeoliberalismusChantal Mouffe: Für einen linken Populismus. edition suhrkamp, Berlin 2018, 109 Seiten, 14 EUR.von Jakob Hayner | Seite 73 |
Meldungen | Seite 74 |
Aktuell | |
PremierenDezember 2018 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren Dezember 2018 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Antje Thoms?von Antje Thoms und Joachim F. Tornau |
Eduardo Arroyo
Bodo Blitz
Gunnar Decker
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Hermann Götz
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Ralph Hammerthaler
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Jakob Hayner
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Paula Perschke
Sabine Schmidt
Theresa Schütz
Antje Thoms
Joachim F. Tornau
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Der kämpfende ÄsthetZum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyovon Ellen Hammerzum Online-Extra: Der kämpfende Ästhet. Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo |
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