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Satiriker in der EU-Förder-Dystopie
Die freie Theatergruppe Qendra Multimedia organisierte als Flaggschiff des kosovarischen Theaters ihr erstes Festival
von Tom Mustroph
Prishtina. Ein Neubaublock am Rand der Altstadt. Die grüne Farbe an dieser dreißig Jahre alten Wohnmaschine ist verwittert, an einigen Stellen abgeplatzt, als wollte die Natur ein Camouflage-Muster auf die Fassade malen. In den 1990er Jahren waren die Einkaufspassagen auf der Rückseite des Wohnblocks der Hotspot der Jugend Prishtinas. „Punks und Heavy-Metal-Fans hielten sich hier den ganzen Tag auf. Wir tauschten CDs, hatten unsere Bars. Manchmal schloss die Polizei die Tore und zog prügelnd durch die Räume“, erzählt Arif Muharremi und lacht. Es ist schwer zu deuten, ob ihn die fröhliche Erinnerung an die eigene Jugend überwältigt, das Lachen einen bitteren Ton hat wegen der eingesteckten Prügel durch die (serbische) Polizei oder er zugleich die alten und neuen Schwierigkeiten von Europas jüngstem Staat verlachen möchte. Muharremi gehört zu Qendra Multimedia, einer Theatergruppe, die seit Jahren ihr Domizil in den Kellergelassen des grüngefleckten Neubaublocks hat.
Hier produziert die Crew um den Dramatiker Jeton Neziraj beachtliche und auch beachtete Arbeiten. „Bordel Balkan“ etwa, eine im letzten Jahr im Nationaltheater in Prishtina herausgekommene Adaption von Aischylos’ „Orestie“ auf kosovarische Verhältnisse. „Wir hatten einige Probleme bei dieser Produktion“, erzählt Jeton Neziraj lachend – und wieder bleibt unklar, zu welchem Anteil darin Freude, Sarkasmus und tiefste Bitterkeit steckt. „Zwei Schauspieler stiegen während der Proben aus. Einer von ihnen hatte sich anfangs durchaus wohlgefühlt, weil er annahm, der Hauptprotagonist Agamemnon sei ein serbischer Kommandeur, der Kriegsverbrechen begeht. Als er jedoch mitbekam, dass Agamemnon eher Albaner ist, ging er. Und so begannen die Gerüchte, dass im Nationaltheater ein antinationales Stück aufgeführt werde“, berichtet Neziraj. Die Organisation der Kriegsveteranen rief zum Boykott der Premiere auf. Es gab sogar Morddrohungen. Neziraj, einige Jahre selbst Leiter des Nationaltheaters, knickte jedoch nicht ein. Und am Ende löste das Stück eine Debatte über die Bewertung des Krieges aus. Sogar die Kriegsveteranen wurden zu einer anderen Art der Auseinandersetzung verleitet. „Sie verfassten eine Theaterkritik und setzten ihre Namen darunter“, sagt Neziraj, und dieses Mal ist sein Lachen vor allem heiter.
In diesem Kontext aus Tabubrüchen, Anfeindungen und gesellschaftlichen Lernprozessen operiert Qendra Multimedia. Für engagierte Theatermacher ist dies eine traumhafte Position. Und deshalb pilgern auch immer wieder Journalisten, Kuratoren und Dramaturgen nach Prishtina. Um diesen Kennenlernprozess zu vereinfachen, organisierte Qendra Multimedia im Oktober erstmals ein kleines Festival. Vier eigene Produktionen sowie ein Gastspiel albanischstämmiger Schauspielstars aus Frankreich waren zu sehen.
Aus Nezirajs Feder stammten „55 Shades of Gay“, „Peer Gynt aus Kosovo“, „Die Heuchler oder Der englische Patient“ sowie „Ein Theaterstück mit 4 Schauspielern ein paar Schweinen ein paar Kühen ein paar Pferden einem Ministerpräsidenten einer Milka-Kuh und ein paar einheimischen und internationalen Inspektoren“. „55 Shades of Gay“ und das „Theaterstück mit 4 Schauspielern …“ wurden von Blerta Neziraj als wilde Komödien mit zahlreichen musikalischen Einlagen inszeniert. „55 Shades of Gay“ spiegelt die Reaktionen einer homophob eingestellten Kleinstadtgesellschaft auf das Ersinnen eines italienischen Investors, seinen Geliebten heiraten zu wollen. Eine poetische Ebene wird durch den Baum vor dem Rathaus eingeführt, der das ganze Treiben beobachtet.