Heft 01/2019
Edgar Selge: Der helle Wahnsinn
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Eine Frau tippt hektisch eine Nachricht in ihr Smartphone. Schon wenige Sekunden später erscheint die Antwort auf ihrem Bildschirm. Es geht um ihren Sohn, im Gespräch ist sie mit ihrem Mann, aber wirklich geredet haben die beiden schon lange nicht mehr. Die Ehe zwischen Nora und Torwald findet in Timofej Kuljabins Inszenierung von „Nora oder Ein Puppenhaus“ am Schauspielhaus Zürich vornehmlich über WhatsApp oder Facebook statt. Die Blicke starr auf die kleinen Bildschirme gerichtet, verhandeln die Menschen ihr Leben, ohne sich real gegenüberzustehen. Für Schauspielerlegende Jürgen Holtz sind das Bilder einer fortschreitenden Versklavung des Einzelnen, wie er im Gespräch mit Gunnar Decker erklärt. „Eine kafkaeske Situation, in der die Menschen nicht einmal bemerken, dass sie immer unfreier werden.“ Zum dreihundertsten Mal stand Holtz am 28. Dezember 2018 als Bettlerkönig Peachum in Robert Wilsons „Dreigroschenoper“ auf der Bühne des Berliner Ensembles. Der Satz „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ ist für ihn nach wie vor zentral. Wir seien nicht nur dazu da, zwischen Produkten, die man uns vorsetzt, zu wählen, sagt er, „sondern können selbst etwas erschaffen. Dazu brauchen wir Fantasie und Zeit. Das also, wovon die Kunst lebt.“
Die Januarausgabe von Theater der Zeit ist eine Ausgabe, die auf vielfältigste Art die Kraft des Theaters beschreibt. Als Befreiung des Individuums durch das Spiel. Das Gefängnis, also das, aus dem es sich zu befreien gilt, ist für den großen Schauspieler Edgar Selge – er selbst wuchs als Sohn eines Gefängnisdirektors auf – eine Metapher für die menschliche Existenz schlechthin. „Eingesperrt sind wir alle“, schreibt Gunnar Decker in seinem Porträt, „in unseren sterblichen Körper sowieso, aber auch in unsere Träume und Erinnerungen, schlimmer noch: Ängste.“ Revolte oder Resignation? Selge suche immer ein Drittes. Dies präge sein Spiel auf der Bühne. Als König Lear ist er derzeit in der Regie von Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg zu sehen. Dort stand er auch als François in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ auf der Bühne, oder besser gesagt: kämpfte sich in einem mannshohen rotierenden Kreuz von Plateau zu Plateau. Das Bühnenbild zu dieser Inszenierung stammt von Olaf Altmann, dem wir in diesem Heft unser Künstlerinsert widmen.
Die digitale Ausgabe im Original-Layout
Die Vielfalt von Autoren-, Schauspieler- und Regietheater zeigt der neue Intendant des Schauspiels Stuttgart Burkhard C. Kosminski. Während sein Vorgänger Armin Petras das Who’s who deutschsprachiger Regisseure aufgefahren habe, so unser Korrespondent Otto Paul Burkhardt, stelle sich Kosminski mit Robert Icke, Oliver Frljić (der ein Europa-Ensemble gründen wird), Mateja Koležnik, Milo Rau und Calixto Bieito internationaler auf. Der Akzent liege zudem in zehn von 24 Premieren auf Texten lebender Autoren. Der Bergarbeiter in Sachen Romanadaptionen, Johan Simons, steckt das Feld seiner Premieren bei seinem Start am Schauspielhaus Bochum anders ab: Angefangen bei seiner eigenen Inszenierung „Die Jüdin von Toledo“ bis hin zu Lies Pauwels’ „Der Hamiltonkomplex“ suche er die goldene Mitte zwischen Ensembletheater, Performance und Diskurs, wie Martin Krumbholz berichtet.
Mit unserem Stückabdruck „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz schließt sich der Kreis zu Kuljabins Kreaturen des Digitalen. Hübners und Nemitz’ Protagonist, der 29-jährige Paketbote Jerome, sei der Prototyp eines Wutbürgers mit Netzanschluss, schreibt Marcus Hladek in seiner Kritik über die Uraufführungsinszenierung von Anselm Weber am Schauspiel Frankfurt. „Als argwöhnischer Verschwörungstheoretiker ist er angespitzt vom Internet und seinen trüben Quellen“, mittels derer er zuverlässig sein rechtes Denken bewässert. In einer kammerspielartigen Druckraumsituation lassen Hübner und Nemitz ihn auf den Politiker Braubach treffen, der versucht, sich gegenüber Jerome für das Elend des Prekariats empathisch zu zeigen. Wie in jedem guten Stück haben beide dabei auch gute Argumente – die Frage ist nur, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. „Wenn es eine Moral des Stücks gibt“, sagen die Autoren im Gespräch mit Jakob Hayner, „dann: weiterreden, auch wenn es schwerfällt.“
Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem Schauspieler Rolf Hoppe und dem litauischen Regisseur Eimuntas Nekrošius. Zwei Bühnengrößen, die auf je eigene Art das Theater mit ihrer eindringlichen und intensiven Kunst geprägt haben. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Bühnenvon Olaf Altmann | Seite 4 |
Im WiderstandsraumDie Bühnen von Olaf Altmann sind nicht illustrativ, sondern schaffen Energien, die Regie und Ensemble herausfordernvon Thomas Irmer | Seite 8 |
Thema | Seite 10 |
Der helle WahnsinnGefangener und Bewacher, Intellektueller und Narr: Der Schauspieler Edgar Selge treibt seinen Körper über die Grenzen dessen, was man allgemein für zuträglich hältvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 15 |
Totensonntagvon Kathrin Röggla | |
Protagonisten | |
Alles Konsens, oder was?Burkhard C. Kosminski zeigt bei seinem Start am Schauspiel Stuttgart ambitioniertes Autorentheater, aber auch markante Regiehandschriftenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 16 |
Der BergarbeiterJohan Simons, der neue Intendant am Schauspielhaus Bochum, positioniert sein Haus in der goldenen Mitte zwischen Ensembletheater, Performance und Diskursvon Martin Krumbholz | Seite 20 |
Dunkelheit und NebelEinar Schleef als Lyrikervon Erik Zielke | Seite 23 |
Theater im GrenzgebietBraunkohleabbau, Hambacher Forst, ein marodes Atomkraftwerk im benachbarten Belgien – das Theater Aachen widmet sich so manchem Zündstoff in der Regionvon Günter H. Jekubzik | Seite 24 |
Altes Haus, vitales HerzBarockarchitektur und Videoschnipsel: Das Theater Erlangen feiert seinen 300. Geburtstag und denkt über das Stadttheater der Zukunft nachvon Christoph Leibold | Seite 26 |
Der Reichtum der EinfachheitZum Tod des großen litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrošiusvon Thomas Irmer | Seite 28 |
Tanz in den WolkenEnde diesen Jahres wird der bekannteste Choreograf Asiens, Lin Hwai-min, in den Ruhestand gehen – undenkbar, dass er dann nur noch Geschirr spülen wirdvon Renate Klett | Seite 30 |
Kommentar | Seite 33 |
Die letzte MacheteÜber das Aus der Sendung „Kulturpalast“ als bitterer Abschluss der Marginalisierung von Theater im öffentlich-rechtlichen Fernsehenvon Thomas Irmer | |
Look Out | |
Heilige IronieDie Kritiker liegen ihr zu Füßen, denn die Düsseldorfer Schauspielerin Lieke Hoppe weiß, was auf dem Spiel stehtvon Martin Krumbholz | Seite 34 |
Fragend geht’s voranDie Berliner Schauspielerin Maike Knirsch will nicht einfach nur auf der Bühne stehen, sie will auch wissen, warumvon Jakob Hayner | Seite 35 |
Auftritt | |
Berlin: Jagdszenen aus NiederbayernSchaubühne am Lehniner Platz: „Italienische Nacht“ von Ödön von Horváth. Regie Thomas Ostermeier, Bühne Nina Wetzel, Kostüme Ann Poppelvon Dorte Lena Eilers | Seite 39 |
Berlin: Mit formidablem rechten HakenBerliner Ensemble: „Der Lebenslauf des Boxers Samson- Körner“ (UA) von Bertolt Brecht. Regie Dennis Krauß, Ausstattung Johanna Meyervon Jakob Hayner | Seite 39 |
Bonn: „Les Bonnes“ in BonnTheater Bonn: „Die Zofen“ von Jean Genet. Regie Claudia Bauer, Bühne Franz Dittrich, Kostüme Vanessa Rustvon Martin Krumbholz | Seite 41 |
Frankfurt am Main: Troll gegen SisyphusSchauspiel Frankfurt: „Furor“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Regie Anselm Weber, Bühne Lydia Merkel, Kostüme Irina Bartelsvon Marcus Hladek | Seite 42 |
Kiel: Revolution im ReisebusTheater Kiel: „Neunzehnachtzehn“ von Robert Habeck und Andrea Paluch. Regie Michael Uhl, Ausstattung Thomas Rumpvon Matthias Schumann | Seite 43 |
Magdeburg: Im LeichenfeldTheater Magdeburg: „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett. Regie Stas Zhyrkov, Ausstattung Sophie Lenglachnervon Thomas Irmer | Seite 44 |
Münster: Tod zum NulltarifTheater Münster: „Tot sind wir nicht“ (UA) von Svenja Viola Bungarten. Regie Maik Priebe, Ausstattung Susanne Maier-Staufenvon Uta Biestmann-Kotte | Seite 45 |
Oldenburg: Zwischen dornigen RosenOldenburgisches Staatstheater: „Russian Boy“ (UA) von Dmitri Sokolow. Regie Elina Finkel, Ausstattung Elena Bulochnikovavon Jens Fischer | Seite 46 |
Stuttgtart: Ich morde, also bin ich?Nomad Theatre Ensemble / Theaterhaus Stuttgart: „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ (UA) von Boris Sawinkow. Regie Daniel Klumpp, Ausstattung Gesine Mahrvon Otto Paul Burkhardt | Seite 47 |
Zürich: Nora oder Ein ChatroomSchauspielhaus Zürich: „Nora oder Ein Puppenhaus“ nach Henrik Ibsen. Regie und Konzept Timofej Kuljabin, Ausstattung Oleg Golovkovon Dominique Spirgi | Seite 48 |
Stück | |
Die nächste EskalationsstufeRechtes Denken, Wutbürger und der Abbruch der Kommunikation – Lutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neues Stück „Furor“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Lutz Hübner, Sarah Nemitz und Jakob Hayner | Seite 50 |
FurorSchauspielvon Lutz Hübner und Sarah Nemitz | Seite 52 |
Magazin | |
Von Volksfreunden und VolksfeindenDer Europäische Theaterpreis geht in diesem Jahr an den Regisseur Valery Fokin. Ein falsches Signal?von Christoph Leibold | Seite 65 |
Ändere die Welt, sie braucht es!Durch seine Bemühungen um den Transfer von Theorie und Praxis bringt das Centre of Competence for Theatre frischen Wind in die Theaterwissenschaft Leipzigvon Paula Perschke | Seite 66 |
Geschichten von Herrn H.: Bertolt Brecht, Meister der Unzucht und Führer der Konterrevolutionvon Jakob Hayner | Seite 67 |
Beunruhigung auf allen SeitenDas Ballhaus Naunynstraße in Berlin feiert unter der Leitung von Wagner Carvalho zehn Jahre „postmigrantisches“ Theatervon Theresa Schütz | Seite 68 |
Die Situierung des BetrachtersBeim PAP-Branchentreff im Theaterdiscounter Berlin diskutieren die freien darstellenden Künste den schillernden Begriff der Qualitätvon Patrick Wildermann | Seite 69 |
König des ZwielichtsZum Gedenken an den großen Schauspieler Rolf Hoppevon Gunnar Decker | Seite 70 |
Wo der Tod allgegenwärtig istSteffen Mensching: Schermanns Augen. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 820 Seiten, 28 EUR.von Christian Baron | Seite 72 |
Unheilvolle KontinuitätenPeter Jammerthal und Jan Lazardzig (Hg.): Front – Stadt – Institut: Theaterwissenschaft an der Freien Universität 1948–1968. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 272 Seiten, 24 EUR.von Jakob Hayner | Seite 73 |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenJanuar 2019 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren Januar 2019 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Jürgen Holtz?von Gunnar Decker und Jürgen Holtz |
Olaf Altmann
Christian Baron
Uta Biestmann-Kotte
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Jens Fischer
Jakob Hayner
Marcus Hladek
Jürgen Holtz
Lutz Hübner
Thomas Irmer
Günter H. Jekubzik
Renate Klett
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sarah Nemitz
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