Heft 10/2019
Deutsche Zustände
Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis
Broschur mit 92 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg wird am 27. Oktober nun auch in Thüringen, das bis dato rot-rot-grün regiert wird, ein neues Parlament gewählt. Es ist zu befürchten, dass im Land von Björn Höcke auch Vertreter des sogenannten AfD-„Flügels“ Mandate erlangen werden. Zurzeit laufen zwischen Thüringer Verfassungsschutz und AfD zwei Gerichtsverfahren, in denen geklärt wird, ob die Partei vom Verfassungsschutz als „Prüffall“ bezeichnet werden darf. Im Zweifelsfall landen also ultrarechte AfDler im Landtag, die dann im Prüffall nicht nur Büros, sondern auch Verfassungsschützer vor die Tür gestellt bekommen. Um Steuergelder zu sparen, wäre allerdings zu wünschen, dass der Verfassungsschutz gleich das Büropersonal stellt.
Die paradoxe Erleichterung, die nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg eintrat – Stimmverlierer sahen sich als Gewinner, weil eine Regierungsbeteiligung der AfD abgewendet werden konnte – weicht nun schweren Koalitionsverhandlungen. Holk Freytag, der Präsident der Sächsischen Akademie der Künste und ehemals Intendant des Staatsschauspiels Dresden, brachte es in einem MDR-Interview auf den Punkt: Man sei noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Der MDR hatte im Sommer unter allen Intendantinnen und Intendanten Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens eine Umfrage zur Situation und zum Selbstverständnis der Theater in politisch angespannten Zeiten unternommen. Stefan Petraschewsky vom MDR resümiert für uns: Die Theater haben gelernt, mit Hassmails und Störfeuern der AfD umzugehen, versuchen künstlerisch und institutionell auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu reagieren, verteidigen die Kunstfreiheit, setzen auf kulturelle Bildung. Allein 24 der 32 Theater haben eine Bürgerbühne etabliert. Theater der Zeit hat mit zwei der Intendanten sowie einer Intendantin aus dem Wahlland Brandenburg ausführlich gesprochen. Bettina Jahnke vom Hans Otto Theater in Potsdam, Roland May vom Theater Plauen-Zwickau und Steffen Mensching vom Theater Rudolstadt ordnen mit Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker die politischen Entwicklungen in den dreißig Jahre alten (!) neuen Bundesländern historisch ein, finden ihre Erklärungen aber auch jenseits aller Ostspezifik in der Krise der Demokratie, der Verunsicherung durch neoliberale Politik. Als Theaterfrau sieht sich Jahnke vor der Aufgabe, den abgerissenen Dialog mit den Bürgern auch im Theater wiederherzustellen.
Auch Lukas Rietzschel hat in seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ die rechte Radikalisierung zweier Brüder in der ostsächsischen Provinz nicht als simplen Kurzschluss aus ostdeutschem Milieu und Pegida erzählt, wie das derzeit gerne geschieht. Im Gespräch mit Anja Nioduschewski betont er, dass die tiefe Verunsicherung angesichts des politischen Systems auch im Westen des Landes radikalisierte Kräfte freisetze. „Interessant wird es jedoch, wo diese Themen spezielle ostdeutsche Berührungspunkte haben.“ Wir drucken die von Rietzschel mitverfasste Bühnenadaption, die gerade in Dresden uraufgeführt wurde.
Die Missverständnisse zwischen Ost und West enden allerdings nicht an der Oder-Neiße-Grenze. „Die neokolonialistische Attitüde der EU Osteuropa gegenüber ist unübersehbar. Ich kann im Moment nichts Positives an Europa entdecken“, sagt die moldawische Dramatikerin und Theatermacherin Nicoletta Esinencu und zeigt es uns mit ihrem Teatru Spălătorie. Renate Klett hat diese durch und durch politische Künstlerin, die sich genauso kritisch mit ihrem eigenen Land auseinandersetzt, porträtiert.
Was Steffen Mensching im Intendantengespräch als „Zustand eines Gesellschaftmodells, das kapitalistische Demokratie heißt“ kritisiert, kann man in seinen vollends pervertierten Auswüchsen in der Gefangenenstadt Palmasola in Bolivien betrachten, aus der sich der Staat zurückgezogen hat. Hugo Velarde analysiert in einem aufschlussreichen Essay die Gesetze von Palmasolas „neoliberalen Vollzug“, der en miniature vielleicht für ganz Bolivien Modell steht und den der Schweizer Regisseur Christoph Frick in einem Dokumentartheaterstück lesbar gemacht hat.
Theater als eine immer auch politische Kunst – dafür stand seit ihrer Gründung und zuletzt unter der Intendanz von Frank Castorf mit ihrem dezidierten „OST“ über dem Portal die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Nicht verstanden als eine irgendwie szenisch drapierte Agenda, Moral usw. Es ging um Kunst! Auch beim Lichtdesign. Weshalb der plötzliche Tod von Torsten König, der als Leiter der Beleuchtungsabteilung viele Inszenierungen szenisch ins Licht setzte, einen großen Verlust darstellt. Der Bühnenbildner Mark Lammert verabschiedet sich von ihm – in unserem Künstlerinsert. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Lichtdesignvon Torsten König | Seite 4 |
Es gibt LichtdramaturgieIn Erinnerung an den Lichtdesigner Torsten Königvon Mark Lammert | Seite 8 |
Thema | |
Mit blauem Auge davongekommenIntendantinnen und Intendanten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen über das Selbstverständnis der Theater in politisch angespannten Zeiten – Ergebnisse einer Umfrage von MDR Kulturvon Stefan Petraschewsky | Seite 13 |
Nicht das Tischtuch zerschneidenDie Wahlen und ihre Folgen – Die Intendanten Bettina Jahnke (Potsdam), Roland May (Plauen-Zwickau) und Steffen Mensching (Rudolstadt) im Gespräch mit Gunnar Decker und Dorte Lena Eilersvon Gunnar Decker, Dorte Lena Eilers, Steffen Mensching, Bettina Jahnke und Roland May | Seite 16 |
Protagonisten | |
Aus dem Jammertal namens Welt„Ich kann nichts Positives an Europa entdecken“ – Die moldawische Dramatikerin Nicoleta Esinencu wütet gegen die Ausbeutung Osteuropasvon Renate Klett | Seite 22 |
Den Fluss der Zeit anhaltenDie Schauspielerin Julia Koschitz bringt ihr Publikum im Kleinen Theater Kammerspiele Landshut zum Frösteln und zum Träumenvon Christoph Leibold | Seite 26 |
Kolumne | Seite 29 |
Fahrstuhlmusikvon Kathrin Röggla | |
Protagonisten | Seite 30 |
Traurige Tropen im neoliberalen VollzugDie bolivianische Gefangenenstadt Palmasola und ihre Inszenierungen – Über ein Theaterprojekt von Christoph Frickvon Hugo Velarde | |
Look Out | |
Feministische ÖkonomieRegisseurin Bérénice Hebenstreit will durch ihr Theater Gesellschaft verändern und ist Aktivistin bei Attacvon Margarete Affenzeller | Seite 34 |
Kompromisslose RäumeRobin Metzer gestaltet Bühnen, die ihrer eigenen Dramaturgie folgen – Inspiration bekommt er aus der bildenden Kunstvon Jakob Hayner | Seite 35 |
Auftritt | |
Berlin: Nachts auf dem FlughafenTheater Aufbruch: „Die Schauspieler“ von Einar Schleef. Regie Peter Atanassow, Bühne Holger Syrbe, Kostüme Thomas Schustervon Jakob Hayner | Seite 39 |
Berlin: Sag was, Bühne!Deutsches Theater: „Lear“ nach William Shakespeare und „Die Politiker“ (UA) von Wolfram Lotz. Regie und Bühne Sebastian Hartmann, Kostüme Adriana Braga Peretzkivon Jakob Hayner | Seite 39 |
Hamburg / Potsdam: Der Sieg der Frauen über den kleinen großen MannThalia Theater: „Die Katze und der General“ (UA) von Nino Haratischwili; Hans-Otto-Theater: „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwilivon Dorte Lena Eilers | Seite 40 |
Lübeck: Das Spiel der MachtTheater Lübeck: „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht, Könige“ (UA) von und nach William Shakespeare in einer Fassung von Pit Holzwarth. Regie Pit Holzwarth, Ausstattung Werner Brennervon Jakob Hayner | Seite 43 |
Müheim an der Ruhr: Postkoloniale TotenwacheRinglokschuppen Ruhr: „Hamletmaschine“ von Heiner Müller. Regie Martin Ambara, Choreografie Moada Yakana, Bühne und Licht Thierry Fotso Mbateng, Kostüme Anne Bentgensvon Frederike Juliane Jacob | Seite 44 |
Oslo: Schwebendes TraumaDet Norske Teatret: „Trilogie“ von Jon Fosse. Regie Luk Perceval, Bühne Annette Kurz, Kostüme Ilse Van den Buschevon Thomas Irmer | Seite 45 |
Stendal: Welch überlaute StilleTheater der Altmark: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz. Regie Wolf E. Rahlfs, Ausstattung Mark Späthvon Gunnar Decker | Seite 46 |
Zollbrücke / Oderbruch: Die Kokosnussknacker vom RandeTheater am Rand: „Kabakon oder Die Retter der Kokosnuss“ nach dem Roman „Imperium“ von Christian Kracht. Regie und Bühne Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern, Kostüme Aenne Plaumannvon Tom Mustroph | Seite 47 |
Stück | |
Stille ErosionDer Autor Lukas Rietzschel über die Theateradaption seines Romans „Mit der Faust in die Welt schlagen“ im Gespräch mit Anja Nioduschewskivon Anja Nioduschewski und Lukas Rietzschel | Seite 50 |
Mit der Faust in die Welt schlagenEine Spielfassung von Lukas Rietzschel, Liesbeth Coltof und Julia Weinreichvon Lisbeth Coltof, Julia Weinreich und Lukas Rietzschel | Seite 52 |
Magazin | |
Hier darf man auch was an die Wand fahrenDas Roxy in Birsfelden bei Basel ist ein leuchtendes Beispiel für die Förderung junger Gruppen – Jetzt wird das Theaterhaus 25 Jahre altvon Mathias Balzer | Seite 71 |
Heilige, queere MariaDie Emanzipation einer Jungfrau – Das Festival ImPulsTanz Wien unterzieht religiöse und kulturelle Traditionen einer feministischen und postkolonialen Relektürevon Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 72 |
Liebes Sommerfestival, wir müssen reden!Zu Händen: Kampnagel Hamburgvon Natalie Fingerhut | Seite 73 |
Dirty RichDas Wagner-Festival Berlin is not Bayreuth von glanz&krawall fragt in einem lässigen Mix aus Oper, Schlager und Pop, wie Musik auch heute die Menschen manipuliertvon Patrick Wildermann | Seite 74 |
Mythos WeimarDas Kunstfest in Weimar eröffnet unter seinem neuen Leiter Rolf C. Hemke mit einem langatmigen „Reichstags-Reenactment“ am historischen Ortvon Jakob Hayner | Seite 75 |
Der neue Mensch in alter HülleDas Spieltriebe-Festival am Theater Osnabrück erforscht die Grenzgebiete zwischen Organismus und Maschinevon Lina Wölfel | Seite 76 |
Narrentum und RevolutionIn Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Robert Weimannvon Joachim Fiebach | Seite 77 |
„Dystopien sind realistischer“Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit. Szenen einer Erinnerungvon Felix Ensslinzum Online-Extra: „Dystopien sind realistischer“. Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit – Szenen einer Erinnerung | Seite 78 |
Geschichten vom Herrn H.: Klassikerschändung und Zwergenaufstandvon Jakob Hayner | Seite 79 |
Auf den Spuren eines georgischen ModernistenPetre Otskheli: In Flammen der Zeit. Georgien, Theater, Moderne. Hg. von George Kalandia, ciconia ciconia, Berlin 2019, 192 S., 39,90 EUR.von Erik Zielke | Seite 80 |
(Das) Ich und der EselMaximilian Haas: „Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance“, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2018, 334 Seiten, 26,90 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
TdZ on Tour | Seite 83 |
Premieren Oktober 2019 | Seite 84 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Autoren Oktober 2019 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Sewan Latchinian?von Gunnar Decker und Sewan Latchinian |
Margarete Affenzeller
Mathias Balzer
Lisbeth Coltof
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Felix Ensslin
Joachim Fiebach
Natalie Fingerhut
Theresa Luise Gindlstrasser
Jakob Hayner
Thomas Irmer
Frederike Juliane Jacob
Bettina Jahnke
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Torsten König
Mark Lammert
Sewan Latchinian
Christoph Leibold
Roland May
Steffen Mensching
Tom Mustroph
Anja Nioduschewski
Stefan Petraschewsky
Lukas Rietzschel
Kathrin Röggla
Hugo Velarde
Julia Weinreich
Patrick Wildermann
Lina Wölfel
Erik Zielke
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Magazin | Seite 78 |
„Dystopien sind realistischer“Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit. Szenen einer Erinnerungvon Felix Ensslinzum Online-Extra: „Dystopien sind realistischer“. Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit – Szenen einer Erinnerung |
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