Kolumne

Das Herz von SO 36

Wird der Buchladen Kisch & Co. auf die Straße gesetzt?

von

Ralph Hammerthaler auf einer Solidaritätsveranstaltung für den Buchladen Kisch & Co. Foto Besim Kadriu
Ralph Hammerthaler auf einer Solidaritätsveranstaltung für den Buchladen Kisch & Co. Foto Besim Kadriu

Es gibt auch Nächte im Buchladen, dann, wenn die Bücher schlafen und nur ein bisschen Licht in eine Ecke fällt, dorthin, wo wir sitzen, vor und hinter dem Tisch, an dem tagsüber die Geschäfte laufen. Jetzt ist der Tisch voller Flaschen, und bald muss wieder einer los und Bier holen gehen, beim Späti nebenan oder, für ausgefallene Sorten, beim Späti gegenüber, ein paar entscheidende Schritte weiter. Thorsten und Ulla sind eigentlich immer da, manchmal auch Jürgen; alle drei haben im Laden zu tun. Da­rum reden wir auch über Bücher, alte und neue, welche übersehen worden sind und welche man gern übersehen darf. Dass Bücher nachts im Buchladen schlafen, ist an sich ein Schmarren. Denn sie umgeben uns und wispern pausenlos Text. Es kommt vor, dass ­Peter in der Runde sitzt, Stahlwerker aus dem Ruhrgebiet, ein echter Unternehmer. Ganze Pakete lässt er sich nach Dortmund schicken, wispernde Bücher, weil er dem Kiez und dem Laden verbunden ist. Ich glaube, er raucht nicht. Wir anderen aber rauchen und trinken so viel, dass das Gespräch heller und fast hellsichtig wird. Wer sich morgen daran erinnert, ist selber schuld.

Kisch & Co. liegt in Berlin, in der Oranienstraße, wo das Herz von SO 36 schlägt. Alle kennen den Laden, und wenn es mehr gibt als alle, dann gibt es sie jetzt. Gerade nämlich ist diese Buchhandlung in allen ­Medien, sogar im heute journal. Weil es sie seit ein paar Monaten schon nicht mehr geben dürfte, der Mietvertrag ist abgelaufen und wird, wie es ausschaut, nicht mehr verlängert. Aber wie schaut es schon aus? Wie schaut ein Immobilienfonds aus, der sich das ganze Gebäude unter den Nagel gerissen hat? Wie spricht man ihn an, und wo ist er zu Hause? Herr oder Frau Fonds? Hat der Fonds ein Gesicht? In das man notfalls spucken könnte? Tja, so leicht ist es nicht. Wenigstens aber ist heraus­gekommen, dass Tetra-Pak-Erbinnen, die Rausing-Sisters, hohe Anteile daran halten. Beide gelten als ebenso profitorientiert wie wohltätig; wohltätig, weil auf moralische Hygiene bedacht. Eine der Rausings hat über das unglückliche Leben ihres Vaters ein Buch geschrieben, ferner gibt sie mit Granta ein englischsprachiges Literaturmagazin heraus – bipolare Störung, würde ich sagen.

Thorsten & Co. haben, als Kreuzberg nicht hip, sondern schmuddelig war, die Lange Buchnacht in der Oranienstraße aufgezogen, zwei Jahrzehnte lang immer wieder. Einmal habe ich mit ihm Deniz Yücel gelesen für Deniz Yücel, der damals in der Türkei einsaß. Bringt nichts, dachte ich mir, um kurz darauf das Gegenteil zu denken: Was ist wichtiger für einen Autor, als dass seine Texte gehört werden? Überhaupt ist dieser Laden auch ein Schriftstellerladen, Ulrich Peltzer geht ein und aus, Thomas Melle schaut vorbei, Rainald Goetz …

In dem durch Frau Fonds gekaperten Gebäude befindet sich auch ein junges Architekturbüro. Im heute journal wird gemeldet, dass Frau Fonds auch sprechen kann, und zwar durch einen Anwalt: Weil Sie es sind, statt der bisherigen zwölf Euro für den Quadrat­meter in Zukunft 38 Euro. So buchstabiert man Gentrifizierung.

Wenn Thorsten etwas Ruhe hat, bringt er Kaffee, und wir gehen nach draußen und rauchen. Mal haben wir Einfälle, mal nicht. Vor drei Jahren, als der Eigentümer noch ein Gesicht hatte, hatten wir gute Einfälle. Auf eine Demo für den Buchladen kamen mehr als zweitausend Leute. Und auch sonst passierte allerhand. So sprang noch mal ein Dreijahresvertrag heraus.

Auch diesmal muss die Chance, die der Laden eigentlich nicht mehr hat, genutzt werden. Eine Fülle von Youtube-Videos ist bereits online. Und jeden zweiten Mittwoch sperrt die Polizei die Straße für eine Kundgebung. Weil viele Initiativen von Räumung bedroht sind, hören die Reden lange nicht auf. Einer vom Kneipenkollektiv Syndikat hat den Termin schon vor Augen, ohne dass er wüsste, dass am Samstag darauf seine Fans in Neukölln randalieren.

Noch wird für Kisch & Co. nicht randaliert. Noch verläuft alles friedlich. Politische Reden, Musik, Literatur. Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag hat uns, vier seiner Autoren, mitgebracht, auch Manja Präkels. Ich lese aus „Kurzer Roman über ein Verbrechen“, vor allem die Stellen, in denen der Buchladen vorkommt. Erstaunlich ist, wie schnell sich die Menge auf eine andere Ton­lage einstimmt. Jörg trägt eine schwer ausgebeulte Tasche an der Schulter. Ich stelle mir vor, dass unsere Bücher darin stecken. Aber dann kommt er her und schlägt sie auf, und ich sehe, dass er Bierflaschen schleppt. Mir wird klar, warum dieser Mann so erfolgreich ist.

Wieder Mittwoch, da sitzt Meret Becker vorm Laden und sitzt gerade richtig, weil als „Tatort“-Kommissarin am Tatort. Dann gibt Max Müller mit seiner so alten und so jungen Band Mutter ein Konzert auf der Straße. Es gibt nur eine Zeit, ja, die neue Zeit, die alte Zeit ist tot, ja. Die Sonne scheint, die Gitarre kracht. Und wir alle fühlen uns gut. Nur wer einen jähen Impuls zulässt, bedenkt, dass unser Gutfühlen mit einer Illusion verschwistert sein könnte. Aber wir sind viele. Und im Rücken stehen tausend wispernde Bücher. //

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