Kolumne
Der Raum einer Kolumne ist unendlich
von Ralph Hammerthaler
„Sex Göttin Zensur“ hieß meine erste Kolumne in dieser Zeitschrift. Damals ging es um Alexeij und sein Projekt „Reine Pornografie“, noch dazu um einen verstimmten Oberbürgermeister in München, die aufgeschreckte Lokalpolitik und eine Drohung am Telefon durch eine CSU-Stadträtin: HörenS, wollenS nicht lieber verzichten auf Ihr Theater mit der Pornografie? Weil sonst schaut es nicht gut aus mit dem Geld von der Stadt, da wir mit Steuergeldern, verstehenS, keine Pornografie fördern können. Indem…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2021
Kolumne
Wau Wau Wau, die sprühendste Frau der Balkanliteratur
von Ralph Hammerthaler
In Prishtina, auf dem Polip-Festival, hab ich Alida Bremer kennengelernt, das ist jetzt bald zehn Jahre her. Gerade haben wir uns wiedergetroffen, wieder in Prishtina, wieder auf Polip, aber dieses Jahr ist vieles anders, weil dem Virus eingefallen ist, das kleine Land Kosovo bevorzugt heimzusuchen, ohne doppelt Geimpfte zu verschonen. Im Oda Theater versammelt sich die Literarische Internationale wie eine verschworene Gemeinschaft, alle maskiert und mit leuchtenden Augen; nur beim Vorlesen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2021
Kolumne
Frank Mario Castorf soll ja jetzt siebzig sein
von Ralph Hammerthaler
Als ich mich das erste Mal mit Frank Castorf verabredete, war er kurz davor, die Berliner Volksbühne zu eröffnen. Es war im August 1992. Durch den Bühneneingang betrat ich das Gebäude, es roch nach Farbe, und ich stellte mich so blöd an, dass ich mit einem Schritt auf einen frischen Estrich trat. Erschrocken zog ich das Bein zurück und erblickte meinen Schuhabdruck auf dem Boden. In den folgenden Jahren wollte ich immer mal wieder überprüfen, ob es diesen Abdruck noch gab, aber wahrscheinlich…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2021
Kolumne
Hochsicherheitsdrama um den Kreuzberger Buchladen Kisch & Co.
von Ralph Hammerthaler
„Sitzungspolizeiliche Anordnung“ ist ein schönes Wort, selbst wenn ich mich unausgeschlafen frage, ob es nicht eher polizeiliche Sitzungsanordnung heißen müsste. Sie werden es sich schon gut überlegt haben. Dieses Anordnungsdeutsch jedoch entwickelt einen gewissen Sog, und je weiter ich lese, desto weniger kann ich mich entziehen. Mit Blick auf die Kontrolle in der Eingangsschleuse steht unter V.3.d: „Die Untersuchung ist auf das Schuhwerk zu erstrecken“; unter V.3.e: „Das Kopieren der Ausweise…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2021
Kolumne
Warum die Kritik an „kultureller Aneignung“ in Aberwitz verdampft
von Ralph Hammerthaler
Einmal hab ich mir eine fremde Sprache angeeignet, das Spanische, weil ich mit Menschen in Mexiko und Kolumbien direkt sprechen wollte, ohne aufs Englische auszuweichen. Und weil ich Bolaño im Original lesen wollte. Irgendwann hat es leidlich geklappt. Als sie „Schnappräuber“ in Mexico City aufführten, hielt ich in der Universität einen Vortrag, über mein Stück und Tendenzen der deutschen Dramatik. Ich sprach auf Spanisch, was, wenn auch nicht perfekt, gut ankam. Nicht ganz so gut an kam mein…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2021
Kolumne
Ein Mann trinkt Wodka, ein anderer schaut zu
von Ralph Hammerthaler
Gut ist es, wenn du jemanden kennst, der ein Theater hat. Und der dich in diesen Tagen hineinlässt. Gut, dass ich Czesław kenne. Hinten im Hof liegt das Kammerspielchen, wie er es nennt, und das Wort Kammerspielchen steht auch rechts vom Eingang. Aber oben, auf der roten Fassade, steht groß und auf Polnisch: TEATR. Siehst du, sagt Czesław, so haben wir zwei Buchstaben eingespart.
Jedes Mal, wenn ich im Ruhrgebiet bin, steige ich im Gdańska ab, am Altmarkt im Zentrum von Oberhausen. Es ist auch…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2021
Kolumne
Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzählt
von Ralph Hammerthaler
Applaus tut gut, aber nicht immer. Die demütigendste Art des Applaudierens habe ich in Visar Morinas Film „Exil“ gesehen, als der Beifall von Kollegen über den aus Kosovo stammenden Ingenieur Xhafer niedergeht. Seit einiger Zeit schon hat Xhafer den Eindruck, dass in der Firma alles gegen ihn läuft, ja, dass er gemobbt wird. Woher kommen Sie, aus Kroatien?, fragen sie immer wieder. Und auch der Chef fragt ihn danach, ehe er seine selbstgefällig weltläufige Rede mit einer Pointe versieht. Die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021
Kolumne
Verpatztes Timing von Nachrufen
von Ralph Hammerthaler
Nachrufe lese ich gern. Ich mag das milde Licht, in das die Spanne eines ganzen Lebens getaucht wird, ganz so, als hätte es nie Streit, keine Gemeinheit und keine Enttäuschung gegeben, obwohl es von allem mehr als genug gab. Ich mag den leisen Ton, der unter dem Eindruck eines erlittenen Verlusts angeschlagen wird, vor allem, wenn der Verfasser dem Verstorbenen und seinem Werk nahesteht. Und ich mag die vielen kleinen Details, die eine solche Würdigung auszeichnen. Ein guter Nachruf ist keine…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021
Kolumne
Kurzer Lebenslauf mit Polizei
von Ralph Hammerthaler
Das erste Mal, dass ich einen Polizisten nicht nur auf der Straße, sondern auch in einer Wohnung sah, war leider bei mir zu Hause. Meine Mutter wollte meinen Vater anzeigen; wenig später zog sie die Anzeige zurück. Damals war ich noch klein, und ich war auch noch nicht groß, als ich von einem Polizeiwagen gestoppt wurde, ich auf meinem Fahrrad, unvorteilhaft auf der linken Spur der Straße. Der Polizist auf dem Beifahrersitz kurbelte das Fenster herunter, und weil mir auf die Schnelle nichts…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2020
Kolumne
Lazy Hazel, wer? Über die Schauspielerin Susanne Jansen
von Ralph Hammerthaler
Gerüchte, pff. Darauf gebe ich nichts. Aber interessant sind sie schon. Zum Beispiel: Wer Susanne Jansen die Hand gibt, erhält einen elektrischen Schlag. Ehrlich gesagt, dieses Gerücht habe ich gerade erfunden, um sie, die Schauspielerin und Sängerin, einzufangen. Die Begegnung, der Stromstoß, kurzzeitige Erleuchtung, dann Blackout. Das alles erklärt leider gar nichts oder höchstens ein wenig – zu wenig, wenn du mich fragst. Aber zum Erklären bin ich nicht da. Für mich heißt sie von jeher und…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2020
Kolumne
Wird der Buchladen Kisch & Co. auf die Straße gesetzt?
von Ralph Hammerthaler
Es gibt auch Nächte im Buchladen, dann, wenn die Bücher schlafen und nur ein bisschen Licht in eine Ecke fällt, dorthin, wo wir sitzen, vor und hinter dem Tisch, an dem tagsüber die Geschäfte laufen. Jetzt ist der Tisch voller Flaschen, und bald muss wieder einer los und Bier holen gehen, beim Späti nebenan oder, für ausgefallene Sorten, beim Späti gegenüber, ein paar entscheidende Schritte weiter. Thorsten und Ulla sind eigentlich immer da, manchmal auch Jürgen; alle drei haben im Laden zu…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2020
Kolumne
Videoschalte mit Stephan Lessenich und Kornelius Heidebrecht
von Ralph Hammerthaler
Lessenich sagt, dass achtzig bis neunzig Prozent der Antibiotika, die unser gutes Leben am Laufen halten, in China und Indien hergestellt werden. Und dass diese Herstellung unter Bedingungen erfolgt, die hierzulande undenkbar wären. Dort unten aber, in China und Indien, schädigen sie ihre Umwelt zum Wohl des globalen Nordens, scheiden unverträgliche Stoffe aus, die das Trinkwasser vergiften und die Menschen gleich mit. Und wir, sagt Lessenich, sehen es als selbstverständlich an, dass auf so…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2020
Kolumne
Klimawandel: Aufforderung zum Diskurs-Pogo
von Ralph Hammerthaler
Das Stück der Stunde stammt aus dem Jahr 1978, eine Komödie in 33 Gesängen von Hans Magnus Enzensberger, „Der Untergang der Titanic“. Gerade läuft es, schwindelerregend inszeniert von Philipp Preuss, im Theater an der Ruhr in Mülheim. Dort sitzt das Publikum auf der Drehbühne und wird den unterschiedlichsten Perspektiven ausgesetzt. Was kommt als Nächstes und wer? Im Prinzip eine kreisende Fahrt mit der Geisterbahn. Es spuken Utopien mit integriertem Verfallsdatum, Ungerechtigkeiten der Welt…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2020
Kolumne
Das Theater ist von Moral umstellt – wenn das mal gut geht
von Ralph Hammerthaler
Moral macht der Kunst zu schaffen, nicht weil die Kunst unmoralisch wäre, sondern weil sie moralische Fragen lieber umspielt als beantwortet, lieber in tausend Teile zerlegt als in eindeutige (und damit einfältige) Botschaften kleidet. Letztes Jahr war in München im Haus der Kunst eine große Jörg-Immendorff-Ausstellung zu sehen, „Für alle Lieben in der Welt“, darunter Gemälde aus dem Zyklus „Café Deutschland“. Weil sich der Künstler nicht mehr wehren konnte, ließen die Kuratoren ihrem moralisch…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2019
Kolumne
Rudern hilft – der Opernkomponist Detlev Glanert
von Ralph Hammerthaler
Einmal gestand ich ihm, dass es nur eine Sache gibt, die ich für größer halte als die Literatur, ich sagte: Ich wäre gerne Komponist.
Bei mir ist es umgekehrt, gab Detlev zur Antwort, ich wäre gerne Schriftsteller.
Letztens, als ich in der Deutschen Oper in Berlin die Uraufführung von „Oceane“ sah, der schon elften Oper von Detlev Glanert, kurz, Oceane Eleven, fiel mir dieses Gespräch wieder ein, und zwar in dem Moment, als gegen Ende das Orchester zu toben anfing, mit Windmaschine und allem,…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2019