Heft 02/2021
Vorwärts immer, rückwärts nimmer
Schwerpunkt Klassismus
Broschur mit 72 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Als wir vergangenes Jahr das Novemberheft zuklappten, waren wir uns sicher, ihn endgültig los zu sein: Ja; über Donald Trump, der während seiner Amtszeit auch auf den Theaterbühnen überdurchschnittlich präsent gewesen war – als Karikatur vom Dienst mit gelber Perücke –, würden wir definitiv zum letzten Mal berichtet haben. Er war abgewählt!
Dann kam der Januar – und mit ihm der bis dato undenkbare Sturm auf das Kapitol. „Das alles ist symbolisch aufgeladene, gefährliche Realität. Und vor den Fernsehern erleben wir es wie ein Stück Theater“, schreibt Alexander Kluge in diesem Heft über das gewaltsame Eindringen der Trump-Anhänger in das Parlamentsgebäude in Washington D. C. – und analysiert dessen dramatische Dimension in einem Bildessay sowie einem Brief an die Redaktion.
Die Vereinigten Staaten – auch dieses Phänomen zeigte sich exemplarisch in Trumps Amtszeit – sind die Gesellschaft der großen Polarisierungen. In keinem anderen Industrieland ist das Geld so ungleich verteilt; Verschärfungstendenz steigend. Jetzt, während der Pandemie, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich allerdings auch anderswo rasant. Die spezifische Stigmatisierung, die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala erfahren, hat einen Namen: Klassismus. Während andere Formen der Diskriminierung wie Rassismus und Sexismus im öffentlichen Diskurs inzwischen reflektiert werden, ist von dieser Form der sozialen Benachteiligung bisher allerdings vergleichsweise selten die Rede. Das gilt auch – und vielleicht sogar in gesteigerter Form – für die Theater, mit denen viele Menschen nach wie vor die Hochkulturtempel par excellence assoziieren. Selbst in der freien Szene, die ihrem Selbstverständnis nach besonders stark für Inklusion und Diversität eintritt, stehe die Auseinandersetzung mit dem Thema noch „ganz am Anfang“, erklärt die Klassismusforscher*in Francis Seeck im Gespräch mit der Kuratorin Pirkko Husemann in unserem Schwerpunkt zum Thema Klassismus und ergänzt: „Erwerbslose werden im freien Theater gar nicht so anders dargestellt als in RTL-2-Dokus wie ,Hartz und herzlich‘.“ Der französische Schriftsteller und Soziologe Édouard Louis, der selbst aus dem Arbeitermilieu stammt, glaubt zwar nicht daran, „dass sich das Denken der Bourgeoisie über Nacht ändert, nur weil man ihr ein Stück über das Leiden der Arbeiterklasse vorführt“. Aber zumindest zwinge man sie „preiszugeben, wie sie wirklich über die Arbeiterklasse denkt“. Und genau darin liege für ihn die Kraft der Kunst, sagt Louis im Gespräch mit dem Regisseur und Intendanten der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier. Im Moment allerdings steht die „Distinktionsmaschine Theater“ bekanntermaßen pandemiebedingt still. Vielleicht sei das „eine Chance, die Routine der feinen Unterschiede zu hinterfragen“, hofft die Autorin und Dramatikerin Daniela Dröscher in ihrem Essay über das „Theater der 99 %“.
Christoph Leibold hat diesen dramatischen Stillstand – am Beispiel der bayerischen Theaterregion – einmal ganz konkret unter die Lupe genommen und eine paradoxe Situation vorgefunden. Die Zuschauersäle sind leer, denn Aufführungen dürfen nirgends stattfinden – aber geprobt wird fleißig weiter: Wenn die Vorhänge irgendwann endlich wieder hochgehen, dürfte eine regelrechte Premierenschwemme folgen, prognostiziert er.
In China sieht das anders aus. Dort sind die Theater geöffnet – jedenfalls für alle, die sich am Eingang die Temperatur messen lassen und Masken tragen. Drinnen werden in Propagandastücken die Heroen der Pandemie gefeiert – zumindest auf den staatlichen Bühnen. Die freien Theater, schreibt Chen Tian in ihrer Reportage, üben sich hingegen in leiser Subversion.
Hierzulande schwingt sich unterdessen die Hybridkunst des Theater-Films zu neuen ästhetischen Höhen auf – was dem Theater durchaus guttut, wie Fritz Göttler anhand von Milo Raus utopischer Dokumentation „Das neue Evangelium“ beobachtet. Auch unser Kolumnist Ralph Hammerthaler beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Zelluloid- und Live-Kunst. Der Videokünstler Sébastien Dupouey, dessen Arbeiten fürs Theater wir im Künstlerinsert vorstellen, fand den hiesigen Bühnenbetrieb stilistisch übrigens schon immer erfreulich „crossoverbereit“.
Dennoch bleibt natürlich zu hoffen, dass die Theater bald wieder öffnen können. Schon allein deshalb, damit nicht in größerem Stil ein surreales Albtraumszenario droht wie in Michel Decars Stück „Nachts im Ozean“, das wir in dieser Ausgabe drucken. Dort reist der Autor Moskowitz zu seiner eigenen Uraufführung nach Montevideo – und findet trotz minutiöser Google-Maps-Koordinaten partout das Theater nicht. Nein, tatsächlich: Es ist einfach nicht da. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Videoarbeitenvon Sébastien Dupouey | Seite 4 |
Im Zeitalter der SelbstdarstellungDer Videokünstler Sébastien Dupouey mag es, Dinge schnell entstehen und wieder verschwinden zu lassen – Ein Porträtvon Patrick Wildermann | Seite 8 |
Thema | |
Die Marx-BrilleDer Schriftsteller Édouard Louis und der Regisseur Thomas Ostermeier über Herkunft, Väter und darüber, wer die Arbeiterklasse auf der Bühne repräsentieren darf, im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Thomas Ostermeier, Patrick Wildermann und Édouard Louis | Seite 11 |
Ein Theater der 99 %Sexismus und Rassismus sind zentrale Themen auf der Bühne. Warum tut sich das Theater so schwer, auch über Klassismus zu sprechen?von Daniela Dröscher | Seite 16 |
Feinripp-TheaterKlassismusforscher*in Francis Seeck und Kuratorin Pirkko Husemann über Prekariatsklischees in der freien Szene im Gesprächvon Pirkko Husemann, Sabine Leucht und Francis Seeck | Seite 20 |
Kolumne | Seite 23 |
Na, wieder nüchtern?Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzähltvon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | Seite 24 |
Unheimliches Zwielicht zwischen „wirklich“ und „unwirklich“Ein Bildessay und ein Brief anlässlich der Erstürmung des Kapitols in Washingtonvon Alexander Kluge | |
China | Seite 28 |
Chinas Theater im Jahr der EpidemieWährend die Staatsbühnen des Landes die Helden der Pandemie in Propaganda-Stücken feiern, üben unabhängige Künstler leise Kritik – Eine Reportagevon Chen Tian | |
Protagonisten | Seite 32 |
Mal schauen, ob die Premiere stattfindetLandauf, landab proben die Bühnen im Lockdown auf Halde – Ein exemplarischer Corona-Theater-Report aus Bayernvon Christoph Leibold | |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 35 |
Exklusiver Vorabdruck: On EcstasyAus dem Englischen von Ulrich Lenz Hardcover mit 104 Seiten ISBN 978-3-95749-342-2 EUR 15,00 (print) / 11,99 (digital)von Barrie Kosky | |
Look Out | |
Der Sozialismus lebt – im Wiener UntergrundDas österreichische Performancekollektiv Nesterval verstrickt sein Publikum in kluge Mitbestimmungsspielevon Theresa Schütz | Seite 38 |
Eine Heilige der AusschweifungenDie Bochumer Schauspielerin Jing Xiang übersetzt Emotionen in Bewegungvon Sascha Westphal | Seite 39 |
Auftritt | |
Berlin: Marie gehtDeutsches Theater: „Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner. Regie Amir Reza Koohestani, Bühne Mitra Nadjmabadi, Kostüme Lea Søvsøvon Christine Wahl | Seite 41 |
Berlin: Wenn der Freitag sein Kleid in die Wolken schlägtTheater Thikwa: „Vertigo“ von Max Edgar Freitag und Frank Schulz. Regie Gerd Hartmann; Rambazamba Theater: „Superforecast“. Idee und Fassung Steffen Sünkel. Regie Jacob Höhnevon Dorte Lena Eilers | Seite 41 |
Freiburg: Kids und CoronaTheater im Marienbad: „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. Regie Sascha Flocken, Ausstattung und Video Jens Dreskevon Bodo Blitz | Seite 43 |
Mannheim: Endlose ErschöpfungNationaltheater Mannheim: „Land ohne Worte“ von Dea Loher. Regie Dominic Friedel und Annemarie Brüntjenvon Björn Hayer | Seite 44 |
Osnabrück: Ewige OdysseenTheater Osnabrück: „Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque. Regie Dominique Schnizer, Ausstattung Christin Treunertvon Jens Fischer | Seite 45 |
Wien: GeschichtääähBurgtheater Wien: „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ (DSE) von Dead Centre und Mark O’Connel; Schauspielhaus Wien: „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ von Lydia Haidervon Margarete Affenzeller | Seite 46 |
Stück | |
Der Mann, der zu wenig wussteMichel Decar über sein Stück „Nachts im Ozean“ im Gespräch mit Jens Fischervon Michel Decar und Jens Fischer | Seite 48 |
Nachts im Ozeanvon Michel Decar | Seite 50 |
Magazin | |
Klick und das Kreuz steht daWarum Milo Rau das Kino mit seiner Mischung aus Emotion und Analyse nicht nur für seine utopische Dokumentation „Das neue Evangelium“ besser brauchen kann als das Theatervon Fritz Göttler | Seite 61 |
Das Prinzip VolksbühneRevolution und Zweifel – Die wunderbar anarchische Webserie „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ von Christian Filips und Luise Meiervon Erik Zielke | Seite 62 |
Stimmen aus der Ferne der ZeitenDer Podcast „Lost & Sound“ lädt dank wiedergefundener Magnettonbänder zu einer Reise in das heimlich-unheimliche Ton- und Geräuscharchiv des Düsseldorfer Schauspielhausesvon Martin Krumbholz | Seite 63 |
Meine Erinnerung an Herrn SchuchÜber den langjährigen Leiter des Henschel Schauspiel Theaterverlagsvon B. K. Tragelehn | Seite 64 |
Der NebenrollenmeisterIn Gedenken an den Schauspieler Harald Warmbrunnvon Thomas Irmer | Seite 65 |
Ethnologin der SchamAnnie Ernaux: Die Scham. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2020, 110 S., 18 EUR.von Lara Wenzel | Seite 66 |
In der Zeitkapsel OsteuropasWolfgang Kröplin: Spiel- Zeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten. Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, 444 S., 58 EUR.von Thomas Irmer | Seite 66 |
Draußengrün und BinnenweltHarald Metzkes, Gero Troike: Maler und Modell. Bilder und Texte. Hg. von Dorit Litt, Kunstverein Soest. Pigmentar Verlag, Bad Sassendorf 2020. 68 S., 20 EUR.von Hans-Dieter Schütt | Seite 67 |
Aktuell | Seite 68 |
Meldungen | |
Impressum/Vorschau | Seite 71 |
Autorinnen und Autoren Februar 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 72 |
Was macht das Theater, Angela Richter?von Tom Mustroph und Angela Richter |
Margarete Affenzeller
Bodo Blitz
Michel Decar
Daniela Dröscher
Sébastien Dupouey
Dorte Lena Eilers
Jens Fischer
Fritz Göttler
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Pirkko Husemann
Thomas Irmer
Alexander Kluge
Barrie Kosky
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Édouard Louis
Tom Mustroph
Thomas Ostermeier
Angela Richter
Hans-Dieter Schütt
Theresa Schütz
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Christine Wahl
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