Heft 12/2020
Der Lieblingsfeind steht links
Über Theater und Polizei
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Enthält bisher unentdecktes Drehbuch-Exposé von Heiner Müller
Dass der November noch nie zu den Wonnemonaten gehörte, steht außer Frage, und dass er diesmal besonders unerbittlich zugeschlagen hat, auch. Der zweite Corona-Lockdown zwingt die Theater wieder in den Stand-by-Modus – wie all die anderen potenziell stimmungsaufhellenden Institutionen, die Menschen in ihrer Freizeit gern aufsuchen.
Moment. „Freizeit“? Denkt der gemeine Bürger da nicht eher an Spaßbäder? Wettbüros? Spielhallen? Am Ende gar an Bordelle? Welch ein Kategorienfehler, die hochkulturellen Theatertempel mit diesen Vergnügungsschuppen in einen Topf zu werfen, schimpft ein großer Teil der Kulturschaffenden: Willkommen in Runde zwei der dramatischen Systemrelevanz-Diskussion! Den Überblick behält dort am ehesten, wer es schafft, das Virus und seine Gegenspieler selbst als Theater aufzufassen – wie Dorte Lena Eilers in ihrer Kulturbetriebs- und Pandemieanalyse empfiehlt. (Wobei hier, selbstverständlich, von der episch-dialektischen Brecht-Variante die Rede ist.)
Jenen, denen dieser beobachtende Blick womöglich nicht so leicht fällt – zum Beispiel, weil Covid-19 ihnen den Intendanzstart erschwert hat wie der neuen Münchner Kammerspiele-Chefin Barbara Mundel oder der frisch angetretenen Schauspielleitung am Theater Basel – sei ersatzweise das Leitmotiv aus Bonn Parks neuem Stück „Die Räuber der Herzen“ zugerufen, das wir in diesem Heft drucken: „Alles wird gut, was soll es auch sonst werden, es ist ja alternativlos.“ Christoph Leibold und Dominique Spirgi zufolge, die bei beiden Auftakten zugegen waren, scheint sich das überaus bewährt zu haben.
Das Team Vinge / Müller hingegen hatte eigentlich ideale Ausgangsbedingungen, als es beim pandemiefesten Theaterfestival im westnorwegischen Dale ein historisches Fußballspiel wiederaufleben ließ. Und es war dann auch tatsächlich nicht das Virus, das das Künstlerduo mit einer üblen Grätsche auszukontern versuchte, sondern die Presse, berichtet Therese Bjørneboe: In einer rechtslastigen Medienkampagne wurde Vegard Vinge als „staatlich geförderter Popomaler“ attackiert. Aber weil der Fußballgott groß und manchmal sogar gerecht ist, gingen Vinge/Müller trotz dieses Fouls mit einem erhabenen 2:1 vom Platz.
Wo – professionell – Fußball gespielt wird, ist seit jeher die Polizeipräsenz hoch. Aber andere Bereiche ziehen nach. Welche prägnante Rolle die Ordnungskräfte in seinem Leben spielen, schildert unser Kolumnist Ralph Hammerthaler in seinem „Lebenslauf mit Polizei“. Auf der Bühne hat die jüngste Debatte um rechte Netzwerke und strukturellen Rassismus in den Sicherheitsorganen fast sogar ein eigenes dramatisches Genre hervorgebracht – in dem Konsens darüber herrscht, dass die Polizei eher nicht dein Freund und Helfer ist. Warum die Antipathie auf Gegenseitigkeit beruht, erklärt der Soziologe Rafael Behr in unserem Schwerpunkt über Theater und Polizei: „Der Lieblingsfeind steht immer links“, sagt er – ein tradiertes Bild, das sich mit der Studentenbewegung in den sechziger Jahren etabliert habe. Fest steht für den Polizeiforscher allerdings auch, dass Theater als Disziplin im polizeilichen Grundlagenstudium verankert werden sollte. Was er sich davon verspricht, erläutert er im Gespräch mit dem Dramatiker Kevin Rittberger und dem Aktivisten und Politiker Ferat Kocak.
Was dagegen passiert, wenn man sich aufs falsche Medium versteift und statt auf die Hochkulturbühne unablässig in die Röhre guckt, wusste schon vor über fünfzig Jahren der Dramatiker Heiner Müller. „Myer und sein Mord“ heißt ein bisher unveröffentlichtes Exposé fürs DDR-Fernsehen, das für Müller zeitweise einen „wichtigen anonymen Broterwerb“ darstellte, wie Thomas Irmer schreibt. Wir drucken es zum 25. Todestag – als Typoskript mit originalen handschriftlichen Notizen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn der „Myer“-Text, statt in der Schublade des DDR-Fernsehens zu versauern, etwa dem genialen Jean-Luc Godard in die Hände gefallen wäre, der im Dezember seinen neunzigsten Geburtstag feiert. „Godard-Geschichte(n)“ nennt Erik Zielke seine Annäherung an die Ikone der französischen „Nouvelle Vague“, die auch Theaterregisseure maßgeblich beeinflusst hat. Im Insert gratuliert außerdem der bildende Künstler und Godard-Spezialist Mark Lammert – mit „Vier Seiten für Godard“, die er exklusiv für Theater der Zeit entworfen hat.
Einen runden Geburtstag feiert auch das Berliner Theater an der Parkaue, eine der dienstältesten Kinder- und Jugendtheaterbühnen des Landes, die sich, wie Patrick Wildermann bemerkt, durch ihre siebzig wechselvollen Jahre hindurch einen erfreulichen Innovationsgeist bewahrt hat.
Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem großen Grafiker und Bühnenbildner Volker Pfüller. Als Künstler ein „Meister grafisch-malerischer Zuspitzung“, war er „als Person von einer in sich ruhenden Zugewandtheit, die etwas Weltweises an sich hatte“, schreibt Friedrich Dieckmann in seinem Nachruf. Klingt nach einem, der sehr fehlen wird in diesen seltsamen Zeiten des rasenden Stillstands! //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
„Vier Seiten für Godard“von Mark Lammert | Seite 4 |
Godard-Geschichte(n)Zum 90. Geburtstag der Film- und Theaterikone Jean-Luc Godardvon Erik Zielke | Seite 8 |
Thema | |
Pistolen zu Puppenstuben!Polizeikritik hat Hochkonjunktur im Theater – Björn SC Deigners Schiller-Überschreibung „Die Polizey“ in Bamberg und Kevin Rittbergers „Schwarzer Block“ in Berlinvon Christine Wahl | Seite 11 |
Der Lieblingsfeind steht linksDer Soziologe Rafael Behr, der Politiker und Aktivist Ferat Kocak und der Autor Kevin Rittberger im Gespräch über Theater und Polizei mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahlvon Dorte Lena Eilers, Christine Wahl, Kevin Rittberger, Rafael Behr und Ferat Kocak | Seite 14 |
Protagonisten | Seite 20 |
Die Unnützen und die GekränktenStraßenszenen aus dem Lockdownvon Dorte Lena Eilers | |
Kolumne | Seite 23 |
Jetzt ist schon wieder was passiertKurzer Lebenslauf mit Polizeivon Ralph Hammerthaler | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 24 |
Als der Mann mit dem Blazer den Popomaler trafBei ihrer neuesten Produktion „Fotballspelet“ im westnorwegischen Dale werden Vegard Vinge und Ida Müller von der Skandalpresse gejagtvon Therese Bjørneboe | |
Protagonisten | |
Mensch Myer!Eine Entdeckung zum 25. Todestag – Heiner Müllers bislang unveröffentlichtes Drehbuch-Exposé „Myer und sein Mord“ fürs DDR-Fernsehenvon Thomas Irmer | Seite 28 |
Myer und sein Mord oder Die Macht der Röhre (Exposé)von Heiner Müller | Seite 30 |
münchner kammerspiele | Seite 32 |
Vorhang zu für BetonköpfeVom Lockdown überschattet, aber trotzdem im Aufbruchsmodus – Barbara Mundels Intendanzstart an den Münchner Kammerspielenvon Christoph Leibold | |
Protagonisten | |
Falten oder KnüllenTheater als basisdemokratisches Produkt – Das neue Basler Schauspielleitungsteam setzt ein programmatisches Ausrufezeichenvon Dominique Spirgi | Seite 35 |
Spiel mir das Lied vom TheaterDas Berliner Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue feiert seinen 70. Geburtstagvon Patrick Wildermann | Seite 38 |
Abschied | Seite 40 |
Immer neu und immer derselbeDem Bühnen- und Menschenbildner Volker Pfüller zum Gedenkenvon Friedrich Dieckmann | |
Look Out | |
Angewandte EmanzipationDie Berliner Regisseurin Marie Schleef arbeitet an einer weiblichen Geschichtsschreibungvon Christine Wahl | Seite 42 |
Systemsprenger HamletDie Regisseurin Anna-Elisabeth Frick möchte sich nie allzu sicher seinvon Bodo Blitz | Seite 43 |
Auftritt | |
Darmstadt: Willkommen auf der MetaebeneStaatstheater Darmstadt: „Johanna von Orléans“. Am Beispiel Friedrich Schillers. Regie Claudia Bossard, Ausstattung Elisabeth Weißvon Shirin Sojitrawalla | Seite 45 |
Dessau: Miss LibertyAnhaltisches Theater Dessau: „Die Eumeniden“ von Aischylos. Nachdichtung und szenische Bearbeitung von Walter Jens. Regie Christian von Treskow, Bühne Nicole Bergmann, Kostüme Kristina Böchervon Jens Fischer | Seite 45 |
Ingolstadt: Im Nasenloch eines gefrorenen RiesenStadttheater Ingolstadt: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin. Regie Mareike Mikat, Bühne Simone Manthey, Kostüme Anna Sörensenvon Sabine Leucht | Seite 46 |
Jena: Stadt der GespensterTheaterhaus Jena: „Zur Wartburg“ (UA). Regie Wunderbaum, Ausstattung Cornelia Stephan; „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ nach Christa Wolf. Regie Lizzy Timmersvon Paula Perschke | Seite 47 |
Köln: Falsche LebenSchauspiel Köln: „Nora“ von Henrik Ibsen. Regie, Bühne und Musik Robert Borgmann, Kostüme Bettina Werner; „Die Walküre“ frei nach Richard Wagner. Regie u. Bühne T. B. Nilsson u. J. Wolf Eickevon Sascha Westphal | Seite 48 |
Meiningen: Verfremdungspalaver auf der ShowbühneMeininger Staatstheater: „sklaven leben“ von Konstantin Küspert. Regie Juliane Kann, Ausstattung Vinzenz Hegemannvon Thomas Irmer | Seite 50 |
München: Trainingseinheit im IdentitätendschungelMünchner Volkstheater: „Herkunft“ von Saša Stanišić. Regie Felix Hafner, Ausstattung Camilla Hägebarthvon Sabine Leucht | Seite 51 |
Rostock: Jeder ist jedem ein KnechtVolkstheater Rostock: „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht. Regie Elina Finkel, Ausstattung Norbert Bellenvon Tom Mustroph | Seite 52 |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 54 |
Exklusiver Vorabdruck: backstage PetrasPaperback mit 176 Seiten und zahlreichen Abbildungen. ISBN 978-3-95749-295-1 EUR 18,00 (print) / 14,99 (digital)von Hans-Dieter Schütt und Armin Petras | |
Stück | |
Liebes Reclamheft, reg dich bitte nicht auf!Der Dramatiker Bonn Park über sein neues Stück „Die Räuber der Herzen“, das er selbst am Hamburger Schauspielhaus urinszeniert, im Gespräch mit Christine Wahlvon Christine Wahl und Bonn Park | Seite 56 |
Die Räuber der Herzennach „Die Räuber“ von Friedrich Schillervon Bonn Park | Seite 58 |
Magazin | |
Die Kunst, keine Antworten zu gebenDas Theater Oberhausen feiert mit einem Festival den großen Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief – gemäß der Methode, keiner Methode zu trauenvon Sascha Westphal | Seite 69 |
Raus aus der Bubble der privilegierten weißen FrauDie dritte Ausgabe der Tagungsreihe Burning Issues auf Kampnagel in Hamburg stärkt die Sichtbarkeit marginalisierter Positionen und Perspektivenvon Theresa Schütz | Seite 70 |
Oberhalb der FlachlandserpentinenIrmerGeorg Seidel: Klartext: Bühne oder Feuer. Szenen, Gedichte, Prosa, Skizzen aus dem Nachlass. Hg. von Kristin Schulz, Quintus Verlag, Berlin, 176 S., 20 EUR.von Thomas Irmer | Seite 72 |
„Die Rechnungen bleiben offen“Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt. Gespräche. Hg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 336 S., 23 EUR.von Erik Zielke | Seite 73 |
Was schreit die Kunst nach WissenschaftSilvia Henke, Dieter Mersch, Nicolaj van der Meulen, Thomas Strässle, Jörg Wiesel: Manifest der künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter. Diaphanes Verlag, Zürich 2020, 128 S.von Lukas Kretschmer | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
Premieren Dezember 2020 | Seite 76 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autorinnen und Autoren Dezember 2020/Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Shenja Lacher?von Christoph Leibold und Shenja Lacher |
Rafael Behr
Therese Bjørneboe
Bodo Blitz
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Jens Fischer
Ralph Hammerthaler
Thomas Irmer
Ferat Kocak
Lukas Kretschmer
Shenja Lacher
Mark Lammert
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Heiner Müller
Tom Mustroph
Bonn Park
Paula Perschke
Armin Petras
Kevin Rittberger
Hans-Dieter Schütt
Theresa Schütz
Shirin Sojitrawalla
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