Heft 11/2020
Wir sind die Baumeister
Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Er nimmt, was er kriegen kann. So lautet die genervte Titelzeile eines Artikels über Donald Trump in der Süddeutschen Zeitung am 16. Oktober 2020, dem Tag, an dem dieses Editorial entsteht. Noch ist nicht abzusehen, wie die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten am 3. November ausgehen werden. Sicher ist nur, dass die Hoffnungen, Trumps Präsidentschaft möge endlich enden, groß sind. „Ich denke zu viel nach an diesen auf den Kopf gestellten Tagen, an denen ich meinen Stimmzettel zur Abstimmung vorbereite und mir die Schuhe zubinde, um bereit zu sein, zu protestieren“, schreibt Tamilla Woodard in unserem Novemberheft. Die New Yorkerin ist seit sechs Monaten Künstlerische Ko-Leiterin des Working Theaters, einer kleinen Off-Bühne am Broadway, die sich einer großen Mission verschrieben hat. Seit mehr als 35 Jahren arbeitet das Theater einer zunehmenden Segregation der Gesellschaft entgegen, indem es Theater für und über arbeitende Menschen macht – darunter auch: der klassische Trump-Wähler. Die transformative Erfahrung von Theater, lautet die Devise, solle kein Luxus, sondern ein Grundnahrungsmittel sein – jenseits von Klassen-, Religions-, Alters-, Geschlechts- und ethnischen Grenzen.
Das kleine New Yorker Theater scheint damit weiter zu sein als so manch ein Stadttheater im deutschsprachigen Raum, werden diese doch längst nicht von allen Teilen der Gesellschaft in gleichem Maße besucht. Warum? Vielleicht weil „verschlossene Häuser keine Einladung bieten“, wie es der Kölner Architekt Konstantin Jaspert formuliert. Was also tun? Bauen! Allen Corona-Sparkrisen zum Trotz entstehen in Deutschland gerade eine Reihe spektakulärer Theaterneubauten. Im Herbst 2021 ist in München das neue Volkstheater bezugsfertig, in Rostock wurde vor einiger Zeit der Gewinnerentwurf für den Neubau des dortigen Volkstheaters gekürt. Nur in Frankfurt am Main wird noch diskutiert, ob nicht auch eine Sanierung der städtischen Bühnen denkbar wäre, um den Bestand der Gebäude zu erhalten. Denn auch dieser Aspekt ist relevant: Basiert Theater in Deutschland nicht auch auf einer traditionsreichen Geschichte? Wie unsere Stadttheater zu „dritten Orten“ des 21. Jahrhunderts werden können, diskutieren in unserem Schwerpunkt zu Theater und Architektur der Künstler Tino Sehgal, der Architekt Konstantin Jaspert und die Direktorin der Stadtbibliothek Köln Hannelore Vogt im Gespräch mit Dorte Lena Eilers. Eröffnet wird der Themenkomplex von einem Essay des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie, der sich in Frankfurt am Main mit der Frage beschäftigt hat, welche Art von Theater eigentlich die Stadtgesellschaft will.
Wie aber ist es „um die viel gepriesene Einheit unserer Gesellschaft bestellt, wenn sich die begehrten Innenstädte zunehmend in Festungen des Luxus verwandeln, die für Normalbürger*innen immer unerreichbarer werden?“ Thomas Melle gibt in seinem im September in Stuttgart uraufgeführten Stück „Die Lage“ eine klare Antwort: schlecht. Christine Wahl hat die neuesten Uraufführungen der Saison gesichtet und dabei beobachtet, dass sich trotz – oder auch aufgrund der Coronakrise – der Blick der Gegenwartsdramatik auf die soziale Frage um ein Vielfaches verschärft hat.
Die viel gepriesene Einheit wird sich aber wohl auch dann nicht einstellen, wenn wir alle eine bezahlbare Wohnung haben. Im vierten Teil unserer Reihe Theater und Moral stellen der Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski unserer demokratischen Gesellschaft ein bedenkliches Attest aus. Anlässlich der Debatte um die Cancel Culture erörtern sie, warum unsere Demokratie zwar unbedingt einen robusten Schlagabtausch benötigt, gewisse Tendenzen aber, rechte wie linke, in einen Kulturkampf abzudriften drohen.
Über all diesem zu schweben scheint die senegalesische Choreografin Germaine Acogny, die Renate Klett in unserem Künstlerinsert vorstellt. Die Mutter des afrikanischen Tanzes verwandle Widersprüche in Kreativität. Ihr Lebensthema sei die Balance zwischen Afrika und Europa, deren Welten sich in ihren Arbeiten gegenseitig befruchten. Der Enkelin einer animistischen Priesterin, schreibt Klett, sei eben eine ganz eigene Weisheit eigen.
Priester, Schamanen, Gefährten – beiden wunderbaren Menschen, von denen wir uns in diesem Heft verabschieden müssen, sind solche Komplizen zu wünschen. Am 22. September verstarben die Kuratorin und Kunstkennerin Frie Leysen sowie der Schauspieler Michael Gwisdek. Renate Klett und Thomas Wieck erinnern an sie.
Aber auch der Protagonist in Zsuzsa Bánks erstem Theaterstück ist ein Kenner der letzten Dinge. Getroffen hat ihn die Frankfurter Schriftstellerin auf einer Beerdigung. Er ist Grabmacher und diente Bánk als Pate für ihren Monolog „Alles ist groß“, den wir in unserem Stückabdruck veröffentlichen. Es sei, schreibt Shirin Sojitrawalla, eine Figur, die vom Sterben so viel wisse wie vom Leben – und schon daher gut ins Theater passe. //
Die Redaktion
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Choreografienvon Germaine Acogny | Seite 4 |
Afrika sprichWild, fordernd, voller Poesie – Über die Mutter des modernen afrikanischen Tanzes Germaine Acognyvon Renate Klett | Seite 8 |
Thema | |
Die Baumeister sind wirÜber die Diskussionen um einen Theaterneubau in Frankfurt am Main und die Idee eines Bürgerkonvents – Ein Essayvon Claus Leggewie | Seite 11 |
Schweigende ZeugenDer Architekt Konstantin Jaspert, der Künstler Tino Sehgal und die Direktorin der Stadtbibliothek Köln Hannelore Vogt über Theaterräume des 21. Jahrhunderts im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Tino Sehgal, Konstantin Jaspert und Hannelore Vogt | Seite 16 |
Ausland | Seite 22 |
An diesen auf den Kopf gestellten TagenEin Manifest anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staatenvon Tamilla Woodardzum Online-Extra: Wir führen alle den gleichen Kampf. Drei Fragen an die Künstlerische Ko-Leiterin des Working Theater in New York Tamilla Woodard anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den USA | |
theater und moral #4 | Seite 26 |
Klima der IntoleranzDer Autor Per Leo und die Dramaturgin Anja Nioduschewski im Gespräch über linke Cancel Culture, rechten Bedrohungswahn und das Abdriften des demokratischen Diskurses in einen Kulturkampfvon Anja Nioduschewski und Per Leo | |
Protagonisten | |
Liebes Prekariat, kauft Bio!Neue Stücke schärfen den Blick auf die alte soziale Frage: Premierenberichte aus Stuttgart, Leipzig, Berlin und Dresdenvon Christine Wahl | Seite 30 |
Einmal Welt, bitteIntendantin Karin Becker und ihr Team wagen bei ihrem Neustart in Konstanz die direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenzvon Bodo Blitz | Seite 34 |
Kolumne | Seite 37 |
Madame 100 000 VoltLazy Hazel, wer? Über die Schauspielerin Susanne Jansenvon Ralph Hammerthaler | |
Festivals | Seite 38 |
Brauchse Jobb?Das Favoriten-Festival 2020 in Dortmund zeigt die Licht und Schattenseiten von bezahlter und unbezahlter Arbeitvon Sascha Westphal | |
Abschied | |
Kosmopolitin, Kettenraucherin, KunstkennerinIn Erinnerung an die Kuratorin und Festivaldirektorin Frie Leysenvon Renate Klett | Seite 40 |
Geht mir aus dem Weg auf dem Weg zur RampeDem Schauspieler Michael Gwisdek zum Gedenkenvon Thomas Wieck | Seite 42 |
Look Out | |
Luxus und AnarchieDie Inszenierungen von Charlotte Sprenger sind ästhetische Individualistinnen – sie leben von der Freiheit der Möglichkeitenvon Friederike Felbeck | Seite 44 |
Technik in FrauenhändenDas feministische Performancekollektiv Swoosh Lieu feiert die Produktionsmaschine Theater mit all ihren Störungenvon Theresa Schütz | Seite 45 |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 46 |
gerade jetzt – eben nichtEin Telefonat zwischen Thomas Oberender und Jonas Zipfvon Thomas Oberender und Jonas Zipf | |
Auftritt | |
Freiburg: Archetypen der GewaltTheater Freiburg: „Elektra“ von Sophokles. Regie Malgorzata Warsicka, Ausstattung Agata Skwarczynskavon Bodo Blitz | Seite 49 |
Gießen: Das Milchtreteln des UniversumsStadttheater Gießen: „Erinnya“ von Clemens J. Setz. Regie Titus Georgi, Ausstattung Jochen G. Hochfeldvon Shirin Sojitrawalla | Seite 49 |
Karlsruhe: Fiebertraum des letzten FischsBadisches Staatstheater Karlsruhe: „Die neuen Todsünden“ (UA) von Angeliki Darlasi, Elise Schmit, Maryam Zaree, Sivan Ben Yishai, Marina Davydova, Liv Strömquist und Larisa Faber. Regie Anna Bergmannvon Elisabeth Maier | Seite 50 |
Linz: Die Tablettendosis zähltLandestheater Linz: „Die Sedierten“ (UA) von Martin Plattner. Regie Stephan Suschke, Bühne Momme Röhrbein, Kostüme Angelika Rieckvon Margarete Affenzeller | Seite 52 |
Magdeburg: In den Köpfen blühen die LandschaftenTheater Magdeburg: „Tod der Treuhand“ (UA) von Carolin Millner. Regie Carolin Millner, Ausstattung Maylin Habigvon Thomas Irmer | Seite 52 |
Memmingen: Das weiße RaufenLandestheater Schwaben: „Blaue Stille“ (UA) von Maya Arad Yasur. Regie Sapir Heller, Ausstattung Valentina Pino Reyesvon Dietmar Bruckner | Seite 53 |
München/Nürnberg: Sehnsucht nach der SolidargemeinschaftResidenztheater München und Staatstheater Nürnberg: „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleistvon Christoph Leibold | Seite 54 |
Oberhausen: Splitter eines LebensTheater Oberhausen: „Herkunft“ (UA) von Saša Stanišić. Regie und Stückfassung Sascha Hawemann, Bühne Wolf Gutjahr, Kostüme Ines Burischvon Sascha Westphal | Seite 56 |
Zürich: Druck auf der SprechblaseSchauspiel Zürich: „Das Weinen (Das Wähnen)“ nach Dieter Roth. Regie Christoph Marthaler, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Sara Kittelmannvon Shirin Sojitrawalla | Seite 57 |
Stück | |
Wozu streiten? Morgen seid ihr kalt!Die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk hat ihr erstes Theaterstück geschrieben: Der Monolog „Alles ist groß“ handelt von einem Grabmacher, enttabuisiert den Tod und feiert das Lebenvon Shirin Sojitrawalla | Seite 58 |
Alles ist großvon Zsuzsa Bánk | Seite 60 |
Magazin | |
Bye one – leave one free!Ein epochaler Bruch: Olaf Nicolais Plakatkampagne für die Berliner Schaubühnevon Patrick Wildermann | Seite 71 |
Unerwartete AufsässigkeitDas dritte Bautzener Festival „Willkommen anderswo“ zeigt das beachtliche Niveau der Jugendbühnenvon Michael Bartsch | Seite 72 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenNovember 2020 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autorinnen und Autoren November 2020 / Impressum / Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Tuğsal Moğul?von Tuğsal Moğul und Natalie Fingerhut |
Germaine Acogny
Margarete Affenzeller
Zsuzsa Bánk
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Dietmar Bruckner
Dorte Lena Eilers
Friederike Felbeck
Natalie Fingerhut
Ralph Hammerthaler
Thomas Irmer
Konstantin Jaspert
Renate Klett
Claus Leggewie
Christoph Leibold
Per Leo
Elisabeth Maier
Tuğsal Moğul
Anja Nioduschewski
Thomas Oberender
Theresa Schütz
Tino Sehgal
Shirin Sojitrawalla
Hannelore Vogt
Christine Wahl
Sascha Westphal
Thomas Wieck
Patrick Wildermann
Tamilla Woodard
Jonas Zipf
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Ausland | Seite 22 |
An diesen auf den Kopf gestellten TagenEin Manifest anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staatenvon Tamilla Woodardzum Online-Extra: Wir führen alle den gleichen Kampf. Drei Fragen an die Künstlerische Ko-Leiterin des Working Theater in New York Tamilla Woodard anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den USA |
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