Heft 02/2020
Cordelia Wege
Schöpferisches Risiko
Broschur mit 112 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Schwerpunkt: Theater und Klima
Meghalayum, liebe Leserinnen und Leser! Was wie eine indische Begrüßungsformel klingt, ist tatsächlich das geologische Zeitalter, in dem wir seit 4250 Jahren leben, eine Unterkategorie des Holozäns. Wurde vor zwei Jahren so festgelegt. Benannt nach einem Tropfstein im indischen Bundesstaat Meghalaya (also doch!). Woher kommt dann aber die Behauptung, wir lebten im Anthropozän? Dem Inbegriff eines Zeitalters, in dem der Mensch zu einer Naturgewalt mit so massivem geophysikalischem Einfluss geworden ist, dass er sich für immer in die Erde einschreibt? Weil die Auswirkungen in unserer Ökosphäre immer offensichtlicher werden: der Raubbau an Naturressourcen, die Veränderungen unseres Klimas, die Ausrottung von Spezies etc. Alles in planetarischem Ausmaß. Seit der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen den Begriff Anthropozän im Jahr 2000 in die Welt gesetzt hat, ist er vor allem zu einer negativen Metapher geworden, Ausdruck für die Zerstörung der Umwelt und die Bedrohung des Lebens auf der Erde. Weltweit setzen sich Wissenschaftler für die begriffliche Anerkennung des neuen Zeitalters ein.
Das Theater im Anthropozän heißt unser Themenschwerpunkt – und entlehnt seinen Titel einem von der Naturwissenschaftlerin Antje Boetius und dem Dramaturgen Frank Raddatz neu gegründeten Theater, das unter der Schirmherrschaft der Humboldt-Universität zu Berlin ab dem Frühjahr 2020 mit Kulturlaboren, Inszenierungen, in transdisziplinären Initiativen und Diskursen zu einer global vernetzten Plattform entwickelt werden soll. In einem Gespräch mit Dorte Lena Eilers erklärt uns Antje Boetius den Impuls für diesen konzeptionellen Kurzschluss von Kunst und Wissenschaft: „Da ist die Erkenntnis, dass wir alle in einem planetaren Theater feststecken, in dem wir Menschen Akteure sind wie auch Zuschauer eines dramatischen Schauspiels von der menschlichen Hybris – des Anthropozäns.“ Frank Raddatz hat für dieses Projekt kein Manifest, aber 13 Thesen verfasst, die wir hier abdrucken.
Auch wenn Ralph Hammerthaler in seiner Kolumne feststellt, dass der Diskurs-Pogo ums Klima in den Theatern schon heftig getanzt wird: in den letzten Jahren haben sich die Theater nur vereinzelt der Thematik angenommen. Die Potsdamer Dramaturgin Natalie Driemeyer hat den Klimawandel seit 2011 zu ihrem Thema gemacht und fordert, dass er nicht nur auf den Bühnen, sondern auch in Bezug auf die Arbeitsweisen und Strukturen der Theater verhandelt werden muss.
Zwei andere viel diskutierte Strukturfragen an Theatern hat die Stadt Zürich schon mal sehr gekonnt für sich gelöst: die Beschränkung der Machtfülle stark hierarchischer Intendanzen und Geschlechtergerechtigkeit. Indem sie mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg ein Intendanz-Duo am Schauspielhaus Zürich sowie am Theater Neumarkt mit Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz ein weibliches Leitungstrio berief. Christoph Leibold und Dominique Spirgi stellen die ersten Produktionen dieser Neustarts vor.
Auch für Kostümbildnerinnen und Kostümbildner resultiert die mangelnde Anerkennung ihrer Kunst innerhalb der Theater(produktionen) letztendlich aus den Arbeitsstrukturen, die sie benachteiligen. Wie, das beschreibt die Kostümbildnerin Katharina Kromminga, die den Stellenwert ihres Berufsstands wissenschaftlich untersucht hat. Zudem beklagt sie nicht nur einen Gender Pay Gap, sondern auch die mangelnde Wahrnehmung durch die Fachöffentlichkeit. Also durch uns Theaterkritikerinnen und -kritiker. In dieser TdZ-Ausgabe wird das nicht so sein: In unserem Künstlerinsert stellen wir mit Adriana Braga Peretzki eine der herausragendsten Kostümbildnerinnen im deutschen Theater vor, deren Entwürfe auf glamouröse und poetische Weise das Leben und den Tod feiern. Ihre Kostüme prägen unverwechselbar die Inszenierungen Frank Castorfs und Sebastian Hartmanns. In dem von ihr ausgestatteten „Lear“ Hartmanns am Deutschen Theater in Berlin konnte man unter anderem Cordelia Wege in einem wahnwitzigen, vierzigminütigen Monolog erleben, der einen Kritikerkollegen zu der Behauptung hinriss, dass dieser Theatergeschichte schreiben werde. Gunnar Decker stellt sie hier in einem Porträt vor, als eine Schauspielerin, die sich gegen das Funktionieren wehrt und im Spiel eher das Risiko nah am Scheitern sucht.
Ein Wagnis stellt zweifelsohne auch die Gründung eines palästinensischen Nationaltheaters in einer so symbolisch umkämpften Stadt wie Jerusalem dar. François Abu Salem ging dieses vor 35 Jahren im Ostteil der Stadt ein. Und sein Theater steht und spielt noch heute, das El Hakawati. Unsere Autorin Renate Klett besuchte ein Festival zu Ehren des mittlerweile verstorbenen Gründers.
Und auch hier galt es Ende 2019 Abschied von einem großen Theatermann zu nehmen: von Harry Kupfer, einem der wichtigsten und prägendsten Opernregisseure Deutschlands. Der ehemalige Intendant der Staatsoper Unter den Linden in Berlin Jürgen Flimm schaut zurück auf Begegnungen und Inszenierungen. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Kostümevon Adriana Braga Peretzki | Seite 4 |
Vorsicht VogelGlamourös, poetisch, dämonisch – Kostüme von Adriana Braga Peretzkivon Dorte Lena Eilers | Seite 8 |
Thema | |
Statt eines Manifests!13 Thesen für das THEATER DES ANTHROPOZÄNvon Frank M. Raddatz | Seite 12 |
Planetares TheaterDie Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven Antje Boetius über das Theater des Anthropozän und einen neuen Vertrag zwischen Mensch und Natur im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Antje Boetiuszum Online-Extra: Planetares Theater | Seite 16 |
Schauen wir noch oder handeln wir schon?Wie die Theater sich zum anthropogenen Klimawandel ins Verhältnis setzenvon Natalie Driemeyer | Seite 20 |
Kolumne | Seite 23 |
Ist Grönland noch zu haben?Klimawandel: Aufforderung zum Diskurs-Pogovon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | |
Mysterien des SpielsDie Schauspielerin Cordelia Wege will lieber scheitern als funktionierenvon Gunnar Decker | Seite 24 |
Kunst und KostümUnterschätzt und unter Wert honoriert – Unser Blick auf das Kostümbild als Kunstform bedarf einer Revisionvon Katharina Kromminga | Seite 28 |
Antikapitalistische SpiegelungenDas neue Intendantenduo des Schauspielhauses Zürich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg verpacken Gesellschaftskritik geschickt zwischen Märchen und Musicalvon Christoph Leibold | Seite 32 |
In und aus der Reihe tanzenDas neue Leiterinnenkollektiv Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert erklären das Theater Neumarkt in Zürich zur experimentellen Spielwiese – präsentieren unterm Strich aber Stadttheater im Kleinvon Dominique Spirgi | Seite 36 |
Ausland | Seite 40 |
Schwere leichte WeltDas Palästinensische Nationaltheater El Hakawati in Ost-Jerusalem feiert mit einem Festival sein 35-jähriges Bestehen und gedenkt seines Gründers François Abu Salemvon Renate Klett | |
Abschied | Seite 42 |
Für immer mit HarryIn Gedenken an den großen Opernregisseur Harry Kupfervon Jürgen Flimm | |
Look Out | |
Engelhaft und erdverbundenDie Mainzer Schauspielerin Gesa Geue trumpft mit natürlicher Präsenz und Geradeheraus-Spiel aufvon Shirin Sojitrawalla | Seite 44 |
Spielen bis zur MeditationDie Grazer Schauspielerin Julia Gräfner sucht und findet die Ruhe in der Darstellungvon Margarete Affenzeller | Seite 45 |
Auftritt | |
Augsburg: Schwarmwesen unter GlyzinienStaatstheater Augsburg: „Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ (DSE) von Ivana Sajko. Regie Nicole Schneiderbauer, Ausstattung Miriam Buschvon Sabine Leucht | Seite 47 |
Bern: Die Artistik des BetrugsKonzert Theater Bern: „Fifa – Glaube, Liebe, Korruption“ von Christoph Frick & Ensemble. Regie Christoph Frick, Ausstattung Clarissa Herbstvon Simone von Büren | Seite 47 |
Düsseldorf: Tigerherz in WeiberhautDüsseldorfer Schauspielhaus: „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach William Shakespeare von Tom Lanoye. Regie David Bösch, Bühne Patrick Bannwart, Kostüme Falko Heroldvon Martin Krumbholz | Seite 48 |
Göttingen: ER ist Täter!Deutsches Theater Göttingen: „geteilt“ (UA) von Maria Milisavljevic. Regie Moritz Beichl, Ausstattung Lukas Kötzvon Lina Wölfel | Seite 49 |
München: Im Kabellängenradius eines SeelensaugersMünchner Kammerspiele: „The Vacuum Cleaner“ (UA) von Toshiki Okada. Regie Toshiki Okada, Bühne Dominic Huber, Kostüme Tutia Schaadvon Christoph Leibold | Seite 50 |
Münster: Die revolutionäre Kraft der AmbivalenzTheater Münster: „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach Édouard Louis. Regie Michael Letmathe, Musik Fabian Kuss, Video Daniel Ortega Mackevon Sascha Westphal | Seite 51 |
Ulm: Im Käfig der WorteTheater Ulm: „Sprachlos die Katastrophe im Bereich der Liebe“ (UA) von Henriette Dushe. Regie Jessica Sonia Cremer, Ausstattung Maike Häbervon Sabine Leucht | Seite 52 |
Weimar: Der Rest ist FreudeDeutsches Nationaltheater: „Lanzelot“ von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa. Regie Peter Konwitschny, Ausstattung Helmut Brade, Musikalische Leitung Dominik Beykirchvon Jakob Hayner | Seite 54 |
Zürich: Theater ist ein Gespräch mit der GesellschaftSogar Theater: „Ich muss Deutschland“ (UA) von Catalin Dorian Florescu. Regie Ursina Greuel, Kostüme Cornelia Petervon Elisabeth Feller | Seite 55 |
Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik | |
Thiemo Strutzenberger – Julia Haenni – Sarah Jane MoloneyRedaktion: Dorte Lena Eilers, Anja Nioduschewski, Heike Dürscheid; Mitarbeit: Lara Wenzelvon Dorte Lena Eilers, Anja Nioduschewski, Heike Dürscheid und Lara Wenzel | Seite 56 |
Vergangenheit ist eine Erfahrung der AndersheitThiemo Strutzenberger über sein Stück „Die Wiederauferstehung der Vögel“ im Gespräch mit Elisabeth Maiervon Elisabeth Maier und Thiemo Strutzenberger | Seite 57 |
Wiederauferstehung der Vögelbasierend auf „Tropenliebe“ von Bernhard C. Schärvon Thiemo Strutzenberger | Seite 58 |
We all!Julia Haenni über ihr Stück „frau verschwindet (versionen)“ im Gespräch mit Elisabeth Maiervon Elisabeth Maier und Julia Haenni | Seite 69 |
frau verschwindet (versionen)von Julia Haenni | Seite 70 |
Die schreckliche Angst vor dem AlterSarah Jane Moloney über ihr Stück „Sapphox“ im Gespräch mit Elisabeth Maiervon Elisabeth Maier und Sarah Jane Moloney | Seite 82 |
Sappho xAus dem Französischen von Frank Weigandvon Sarah Jane Moloney | Seite 83 |
Magazin | |
Das Phantasma zeitloser WerkeDer Film „Cunningham“ von Alla Kovgan über den US-amerikanischen Tänzer und Choreografen will Kunstfilm und Archiv zugleich sein – was nicht immer gelingtvon Irene Lehmann | Seite 99 |
Dresdens erstes Off-Theater ist weiterhin inDas noch in der DDR-Agonie entstandene Projekttheater wird im Februar dreißig Jahre altvon Michael Bartsch | Seite 101 |
Die Kunst, ein Produktionshaus zu etablierenWarum Pirkko Husemann, Künstlerische Leiterin der Schwankhalle Bremen, nach nur fünf Jahren das Haus verlässtvon Jens Fischer | Seite 102 |
Geschichten vom Herrn H.: Danke, Merkel! Die zwanziger Jahrevon Jakob Hayner | Seite 103 |
Handwerk für HollywoodMichael Caine: Die verdammten Türen sprengen und andere Lebenslektionen. Alexander Verlag, Berlin 2019, 312 S., 24 EUR.von Holger Teschke | Seite 104 |
An der Einheit zerbrochenSarah Kirsch / Christa Wolf: Der Briefwechsel. Hg. von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 456 S., 32 EUR.von Gunnar Decker | Seite 105 |
Der Denker des AnthropozänsAndrej Platonow: Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie. Prosa – Essays – Briefe. Hg. u. übers. von Michael Leetz. Quintus Verlag, Berlin 2019, 376 S., 25 EUR.von Jakob Hayner | Seite 105 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 106 |
PremierenFebruar 2020 | Seite 108 |
Impressum/Vorschau | Seite 111 |
Autoren Februar 2020 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 112 |
Was macht das Theater, Lisa Jopt?von Lisa Jopt und Paula Perschke |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Antje Boetius
Adriana Braga Peretzki
Gunnar Decker
Natalie Driemeyer
Heike Dürscheid
Dorte Lena Eilers
Elisabeth Feller
Jens Fischer
Jürgen Flimm
Julia Haenni
Ralph Hammerthaler
Jakob Hayner
Lisa Jopt
Renate Klett
Katharina Kromminga
Martin Krumbholz
Irene Lehmann
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Elisabeth Maier
Sarah Jane Moloney
Anja Nioduschewski
Paula Perschke
Frank M. Raddatz
Shirin Sojitrawalla
Dominique Spirgi
Thiemo Strutzenberger
Holger Teschke
Simone von Büren
Lara Wenzel
Sascha Westphal
Lina Wölfel
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Thema | Seite 16 |
Planetares TheaterDie Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven Antje Boetius über das Theater des Anthropozän und einen neuen Vertrag zwischen Mensch und Natur im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Antje Boetiuszum Online-Extra: Planetares Theater |
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