Heft 09/2020
Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs
Wajdi Mouawad und der Libanon
Broschur mit 120 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Als am 4. August im Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, explodierte mit diesem illegal gelagerten Material die Zukunft eines ganzen Landes. „Alles ist zerstört“, schrieb der libanesisch-kanadische Schriftsteller und Dramatiker Wajdi Mouawad in Le Monde. Nicht nur der Beton. Eine Monstrosität, für die es lange schwer sein werde, Worte zu finden. Und doch müssen sie gefunden werden. Worte, um dem Schmerz, dem sonst die Sprache fehlt, einen Ausdruck zu verleihen. Wajdi Mouawad ist, wie es Lena Schneider in ihrem Porträt in dieser Ausgabe beschreibt, in dieser Beziehung ein Ausnahmeautor. Seine gewaltigen, verstörenden, berührenden, weltumspannenden Theatertexte kommen immer wieder auf den Libanon zurück, das Land seiner Kindheit, das er 1978 zu Beginn des Bürgerkriegs verließ. Was blieb, war ein „Messer in der Kehle“, Kindheitserinnerungen an brutale Gewalt und Tod, die nun in den aktuellen Ereignissen ihr Echo erfahren. Am 20. September wird Wajdi Mouawad am Staatsschauspiel Stuttgart der erstmalig verliehene Europäische Dramatiker*innenpreis überreicht. Wir drucken in diesem Heft seinen Monolog „Im Herzen tickt eine Bombe“, der dort als szenische Einrichtung präsentiert wird.
Für Mouawad sind gerade Theater die Orte, an denen Sprachlosigkeit wieder einen Ausdruck erlangen kann, sodass sich im Zuschauer, bestenfalls, etwas bewegt. Doch was ist dieses Etwas? Ginge es nach Dieter Haselbach, dem Soziologen und Koautor der 2012 erschienenen neoliberalen Schrift „Der Kulturinfarkt“, wäre es mess- und notierbar wie die Körpertemperatur eines Covid-19-Kranken. Pünktlich zur Sommerpause meldete er sich in der Welt und im Deutschlandfunk zu Wort, um mal wieder eine Effizienzdebatte vom Zaun zu brechen. Tenor: Man müsse ja nicht jedes Theater mit öffentlichen Geldern aus der Coronakrise holen, am wenigsten solche, die bei ständig sinkendem Publikum wenig nachhaltige Effekte erzeugten. Gegen dieses Kosten-Nutzen-Denken liefert die vorliegende Septemberausgabe ein vielstimmiges Manifest. So haben auch wir den vielerorts existenziell bedrohlichen Stillstand der vergangenen Monate genutzt, um noch einmal neu über die Frage nachzudenken: Warum Theater? Was zeichnet diese Kunstform aus? Was die Orte, an denen sie stattfindet? Antworten geben in unserem Schwerpunkt Jakob Hayner, Chantal Mouffe, Mårten Spångberg sowie Christine Wahl anlässlich der Produktion „Black Box“ von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll am Schauspiel Stuttgart. So vielfältig diese Erörterungen dabei auch sind, eines haben sie gemein: Die Kunst, die im Theater stattfindet, ist nicht quantifizierbar. Sie ist das Gegenteil von Effizienz, hochgradig riskant und Unruhe stiftend. „Die Kunst“, schreibt Jakob Hayner, „arbeitet nicht nur am Wirklichkeitssinn, sondern vor allem auch am Möglichkeits- und Veränderungssinn. Das erfordert Widerstand gegen die ästhetische Armut, die der Spätkapitalismus auferlegt und die mit der materiellen einhergeht.“
Die Widerständigkeit, das Unvereinbare, Herausfordernde zieht sich auch durch viele andere Beiträge in diesem Heft. Dorte Lena Eilers spricht mit dem Musiker Zonatan Dembele und dem Theaterwissenschaftler Koku G. Nonoa anlässlich von Christoph Schlingensiefs zehntem Todestag über dessen Operndorf Afrika und die Kunst der Störung. TdZ-Kolumnist Ralph Hammerthaler stellt sich in Berlin-Kreuzberg der Weggentrifizierung der Buchhandlung Kisch & Co. entgegen. Und in unserem dritten Beitrag in der Reihe „Theater und Moral“ erläutert der Autor und Dramatiker Mesut Bayraktar, wie die Bühnenkunst bereits seit der Antike versucht, die moralische Fassade des Bürgertums zu durchlöchern, um den Fokus auf diejenigen zu lenken, die jenseits des Lichtkegels stehen.
Immer wieder sind und waren es dabei große Künstlerinnen und Künstler, die zu Komplizen dieses Vorhabens wurden: die wunderbare Irm Hermann, der großartige Jürgen Holtz, der hellsichtige Peter Maertens ebenso wie der berühmte Schweizer Regisseur Werner Düggelin. Von allen müssen wir uns in diesem Heft verabschieden. Sebastian Rudolph, Frank Castorf, B. K. Tragelehn, Christopher Rüping und Peter Michalzik erinnern an sie. Sie alle waren Vorbilder darin, das ureigene und eben auch demokratische Prinzip des Theaters von Rede und Gegenrede lustvoll zu praktizieren. „Als Motzki“, so Frank Castorf über Jürgen Holtz, „war er ein agent provocateur, der durch die Darstellung das Gegenteil von dem, was er sagt, bewirkt. Das war tatsächlich ein Vorgang, wie man mit Dialektik Erkenntnisse und Lachen befördern kann.“ Warum Theater? Eben darum. //
Die Redaktion
In eigener Sache: Seit dem 1. August 2020 setzt sich die Redaktion von Theater der Zeit neu zusammen. Wir begrüßen Christine Wahl, die als neue Redakteurin in den Verlag eingetreten ist. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit! Von Gunnar Decker und Jakob Hayner verabschieden wir uns und danken für die geleistete Arbeit.
Geschäftsführung, Theater der Zeit
Artikel | Seite |
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Künstlerinsert | |
Jürgen Holtz (1932 – 2020) in „Galileo Galilei. Das Theater und die Pest“ von und nach Bertolt Brecht in der Regie von Frank Castorfvon Matthias Horn und Marcus Lieberenz | Seite 10 |
Das Glück des SchrankenlosenFrank Castorf über den im Juni verstorbenen Schauspieler Jürgen Holtz im Gespräch mit Thomas Irmervon Frank Castorf und Thomas Irmer | Seite 14 |
Meine Erinnerungen an Jürgen Holtzvon B. K. Tragelehn | Seite 16 |
thema: warum theater? | |
Wie weiter?Ein Plädoyer für die Erneuerung der Idee des Theatersvon Jakob Hayner | Seite 21 |
„Im Theater kann ich unaufmerksam sein“Stefan Kaegi denkt mit „Black Box“ in Stuttgart über das abwesende Theater nach – und verhilft ihm damit zu erstaunlicher Präsenzvon Christine Wahl | Seite 22 |
Den Dissens fördernDie Rolle des Theaters im Kampf gegen die neoliberale Hegemonievon Chantal Mouffe | Seite 26 |
Keine GarantieWarum ich Theater magvon Mårten Spångberg | Seite 28 |
Protagonisten | Seite 30 |
Afrika beklauenVor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief und hinterließ der Welt seine letzte große Vision: das Operndorf Afrika. Ein Gespräch mit Zonatan Dembele und Koku G. Nonoavon Dorte Lena Eilers, Kuku G. Nonoa und Zonatan Dembele | |
Abschied | |
Heldin der WüsteZum Tod der großen Schauspielerin Irm Hermann. Ein Abschiedsbriefvon Sebastian Rudolph | Seite 36 |
Meine Wurzel des TheatersEin letztes Treffen mit dem Schweizer Regisseur Werner Düggelin, der im August verstarbvon Peter Michalzik | Seite 38 |
Der Dompteur der ZeitErinnerungen an den Schauspieler Peter Maertensvon Christopher Rüping | Seite 40 |
Theater und Moral | Seite 44 |
Glotzt nicht so moralischSeit jeher kritisierte das Theater die Moral, um den Skandal der Ausbeutung sichtbar zu machenvon Mesut Bayraktar | |
Kolumne | Seite 48 |
Das Herz von SO 36Wird der Buchladen Kisch & Co. auf die Straße gesetzt?von Ralph Hammerthaler | |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 50 |
„Der Schrei ist das Zentrum“Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa über die Anfänge ihrer Bühnenkarriere und ein Leben zwischen zwei Welten im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Valery Tscheplanowa | |
Festivals | |
Reden ohne SpuckenDie Salzburger Festspiele feiern unter Abstandsregeln ihr hundertjähriges Jubiläum, während Peter Handke in seinem neuen Stück nach einem Miteinander ohne Hass und Hetze suchtvon Margarete Affenzeller | Seite 57 |
Omas deutsche TugendenDer 30. Geburtstag des Festivals Impulse in Nordrhein-Westfalen fand coronabedingt größtenteils im Netz statt – zudem schmerzlich verkürztvon Martin Krumbholz | Seite 60 |
Festival der InselkundeBesser geht‘s nicht: Die dreißigste Ausgabe der Theaterformen in Braunschweig zeigt, wie ein Festival unter strengen Pandemiebedingungen ablaufen kannvon Theresa Schütz | Seite 61 |
Look Out | |
Entschleunigt unter TopfpflanzenDer Dramaturg und Performer Jeffrey Döring erschafft mit seiner Ästhetik der Grenzerfahrung politische Erfahrungsräumevon Elisabeth Maier | Seite 68 |
Abgründige SprachlosigkeitDie Berliner Regisseurin Rieke Süßkow trifft radikale Entscheidungenvon Christine Wahl | Seite 69 |
Stück | |
Zwillingsbruder eines BürgerkriegsDer Autor Wajdi Mouawad schreibt auf Französisch und leitet ein Theater in Paris. Sein Thema jedoch bleibt der Libanon, den er vor vierzig Jahren verließvon Lena Schneider | Seite 72 |
Im Herzen tickt eine BombeAus dem Französischen von Uli Menkevon Wajdi Mouawad | Seite 76 |
Magazin | |
Die Freiheit wird fünfzigEin Porträt zum halben Jahrhundert Freies Theater Münchenvon Sabine Leucht | Seite 89 |
Der LangläuferFünfzig Jahre Leben im Theater – Friedrich Schirmers Aufbruch und Rückkehrvon Otto Paul Burkhardt | Seite 90 |
Entdeckung im LockdownBei der digitalen Notausgabe des Postwest-Festivals an der Berliner Volksbühne erwiesen sich Künstler aus Riga, Prag und Piatra Neamț als Avantgarde des europäischen Theatersvon Tom Mustroph | Seite 94 |
Geschichten vom Herrn H.: Einfalt und Vielfaltvon Jakob Hayner | Seite 95 |
Politische und private UnabhängigkeitsbewegungenDie Schauspielerin Helen Wendt und die Costa Compagnie setzen ihr Projekt „Fight (for) Independence“ am Oldenburgischen Staatstheater mit einem Dokumentarfilm fortvon Jens Fischer | Seite 96 |
Frivol und moralisch„Faust“ als Puppenspiel – ein Gastspiel des Hermannshoftheaters Wümme auf Hiddenseevon Claudia Ingenhoven | Seite 100 |
Angewandtes Musik-Bauhaus„Audio.Space.Machine – Ein Bauhaus-Konzept-Album“ vom Künstlerduo wittmann/zeitblom erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2020von Thomas Irmer | Seite 102 |
Rühr mich nicht anDer Autor Navid Kermani und der Politologe Claus Leggewie diskutieren im Apollo-Theater Siegen über Zeiten des Ausnahmezustandsvon Petrus Textor | Seite 103 |
Galilei in AmerikaZum Tod des Theaterwissenschaftlers und Brecht-Experten Eric Bentley (Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett)von Marvin Carlson | Seite 105 |
Listige RenaissancenEin Nachruf auf die Kostümbildnerin Christine Strombergvon Sewan Latchinian | Seite 106 |
Schrankenlos gegen BeschränktheitZum Tod der Schauspielerin Renate Krößnervon Thomas Wieck | Seite 107 |
Oversexed and underfuckedLea-Sophie Schiel: Sex als Performance. Theaterwissenschaftliche Perspektiven auf die Inszenierung des Obszönen. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 352 S., 50 EUR.von Lara Wenzel | Seite 108 |
Im SchleudergangOlivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Berlin 2020, 352 S., 21 EUR.von Paula Perschke | Seite 108 |
Von Riot- und RollenfestspielenTed Gaier: Argumentepanzer. Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 216 S., 18,00 EUR.von Erik Zielke | Seite 109 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 110 |
PremierenSeptember 2020 | Seite 114 |
Impressum/Vorschau | Seite 119 |
Autorinnen und Autoren September 2020 / Impressum / Vorschau | |
Gespräch | Seite 120 |
Was macht das Theater, Jost von Glasenapp?von Sabine Leucht und Jost von Glasenapp |
Margarete Affenzeller
Mesut Bayraktar
Otto Paul Burkhardt
Marvin Carlson
Frank Castorf
Zonatan Dembele
Dorte Lena Eilers
Jens Fischer
Ralph Hammerthaler
Jakob Hayner
Matthias Horn
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Thomas Irmer
Martin Krumbholz
Sewan Latchinian
Sabine Leucht
Marcus Lieberenz
Elisabeth Maier
Peter Michalzik
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