digitalität und theater I

Das digalitäre Theater

Ein Essay

von

Eine digitale Kunstausstellung 2021 in Istanbul, kuratiert mit Kunstlicher Intelligenz. Foto picture alliance / Xinhua News Agency | Sadat
Eine digitale Kunstausstellung 2021 in Istanbul, kuratiert mit Kunstlicher Intelligenz. Foto picture alliance / Xinhua News Agency | Sadat

Nehmen wir einmal an, Kultur bestünde aus mehr als der künstlerischen Praxis auf Bühnen und Leinwänden, in Gale­rien oder Museen. Nehmen wir außerdem an, ein so verstan­dener sogenannter breiter Kulturbegriff ist der Boden und das Bett einer jeden grundlegenden Transformation der Verhältnisse. Wir sprächen dann von einem Kulturwandel und meinten etwa die Kultur eines Unternehmens oder des politischen Diskurses, des schulischen Sektors oder der Geschlechterverhältnisse. Gehen wir also davon aus, dass jede Transformation mit einem Wandel der sozialen, ökonomischen, ökologischen Kultur einher-, möglicherweise sogar von dieser ausgeht. Ob groß oder klein, geschichtlich abgeschlossen oder in die Zukunft laufend: Die Felder der uns aktuell umströmenden Transformationen wären also per se und a fortiori Schauplätze, öffent­liche und soziale Räume der Kultur. So ist es mit den Fragen nach Nachhaltigkeit oder in der Inklusion. So ist es mit der ­Digitalisierung.

Weniger „Mega“ als vielmehr „Meta“, müssen wir Digitalisierung endlich als kulturellen Wandel der Art und Weise unseres kommunikativen Handelns, eines gänzlich veränderten Mindsets des Umgangs miteinander und nebeneinander verstehen. Digitalisierung ist kein Megatrend, der unvermeidlich über uns kommt wie ein heilsbringendes Himmelreich oder die nächste Naturkatastrophe. Es lohnt sich nicht mehr, sich an das Narrativ der fehlenden Ressourcen und Kompetenzen zu klammern, die wie ein Hüter vor der Schwelle eines erst dahinter beginnenden digitalen Zeitalters stehen. Kein:e Lehrer:in, kein Mitarbeitender eines Theaters oder Museums kann sich noch hinter dieser Schutzargumentation verstecken. Genauso wenig ist sie aber ein von uns simpel auszuhandelndes und beliebig gestaltbares Momentum zur Bewältigung aller Probleme der Gegenwart. Selbst wenn Zugang und Verteilung ­ (Access und Sharing) zu digitalen Wegen allen offen und frei (als Common Good und Open Source) zur Verfügung stünden, wäre die Welt deswegen noch lange nicht automatisch durchlässig und nachhaltig, gerecht und demokratisch. Genauso ­wenig wie die euphemistischerweise sogenannten Social Media der Garant für den Bestand der Arabischen Revolution waren, bedeutet die Verlagerung sozialer Begegnung und kulturellen Genusses ins Netz eine dauerhafte barrierefreie Inklusion oder nachhaltige Verbesserung unseres CO2-Fußabdrucks. Es geht hier nicht um die Alternative zwischen Design oder Desaster, sondern um den nach und nach immer spürbareren Vollzug eines lange laufenden Prozesses der Veränderung, der Transformation aller Verhältnisse: Der kulturelle Wandel war schon vor Entwicklung und Aufbau digitaler Kapazitäten da. Fernab und lange vor der Entstehung von Personal Computer und World Wide Web, von Hard- und Software, on- oder offline müssen wir von dem sprechen, was die Veränderung des Kommunizierens, der Politik und der Arbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte: Wir müssen von Digitalität sprechen.

Digitalität ist parallel verteiltes (parallel distributed), netzwerkartig geteiltes, rhizomatisch von unten und nebeneinander entstehendes, reziprok dynamisches Austauschgeschehen. Digitalität ist Struktur und Wandel zugleich, Struktur im Wandel zur gleichen Zeit: Ein Geschehen, das sich auf der Grundlage der Individualisierung und Fragmentarisierung, der Globalisierung und des Versuchs eines Ausgleichs der sozialen Fragen in der Moderne unaufhaltsam entwickelt und seine Wege sucht. Kein technisch noch so rückständiger Staat konnte diese jeglicher ­Digitalisierung vorangehende Ausprägung von Digitalität eindämmen. Überall, wo er hinschaute, waren die Informationen schon da – überall, wo er sich um Kontrolle bemühte, die Zugänge schon geöffnet. Ausgehend vom kulturellen Wertewandel in den Gesellschaften des globalen Nordens und Westens ändert sich spätestens seit den 1960er Jahren die Art und Weise des Kommunizierens, des Liebens und des Arbeitens, des Verständigens und Aushandelns. Sie transformiert sich seit Jahrzehnten in Richtung von Digitalität.

Da, wo digitale Angebote ab den 1980ern entstanden, war der digalitäre Bedarf längst da: Immer offenere und kollektivere Konzepte für Formen des Lebens und Arbeitens sind der Moderne spätestens seit den Lebensreformbewegungen und der künstlerischen Avantgarde des ausgehenden 19. Jahrhunderts tief eingeschrieben. Sie erscheinen im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Gewändern der unterschiedlichsten eman­zipa­torischen Jugend- und Sozialbewegungen. Ihre ge­danklichen Berührungspunkte von der Kybernetik über die frühe Informatik bis hin zu Künstlicher ­Intelligenz, Virtual und Augmented Reality im Hier und Heute sind Legende. Als Treiber gesellschaftlicher Veränderungen bahnten sie den Weg vom Gadget über das Computing bis hin zur späteren Philosophie des Internets oder der Social Media, der Tech-Konzerne des Silicon Valley und ihrer weltweit entstan­denen Epigonen und Gegenspieler. Es ist der heutige Netzaktivismus rund um den Anspruch einer Unversehrtheit digitaler Identitäten à la Chaos Computer Club oder re:publica, der von dieser Reihenfolge zeugt: Erst änderte sich das Bewusstsein, dann das Sein. Erst entstand digalitäres Denken, dann kam die Digitalisierung.

Ohne diese digalitäre Transformation sprächen wir heute gar nicht von agiler Arbeit oder New Work, von Netzwerkarbeit oder flachen Hierarchien. Das gilt auch für die aktuellen Debatten und Machtfragen im Theater: Hier verlaufen keine voneinander zu trennenden Diskussionen entlang der Stränge Digitalisierung einerseits und Governance andererseits. Auch hier gilt: Practise What You Preach! Die digalitäre Frage nach Teilen und ­Zugängen von Daten und Informationen ist genauso politisch wie die nach der Weiterentwicklung des NV Solo oder dem probenfreien Samstag. Hinter der Bühne lässt sich nicht trennen von auf und vor der ­Bühne: Ein digitalisiertes ­Theater kann nur ein digalitäres Theater sein.

In diesem Sinne gilt es endlich, die Möglich­keiten der Digitalität nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Arbeit an ­die­ser zu nutzen. Wir müssen sprechen über: Mit­bestimmung und Beteiligung, über Entwicklung und Aufbau von Digital- und Medien­kompetenzen, über Co-Autor:innenschaft und kollaborative Praxis, über Writer’s und Com­­poser’s Rooms, über das Verhältnis von Home Office zur Probenarbeit, über Wiki-­Wissenstransfer zwischen wechselnden Theaterleitungen und -belegschaften, über Open-Source-Dispo-Software und die ­Arbeit der Regieteams sowie Schau­spie­ler:innen auf den Clouds dieser Welt. Liegen nicht in Fragen wie diesen die ­eigentliche Fortschreibung und Weiterentwicklung des Ensemble-Gedankens?

Darin besteht digalitäres Denken. Nicht ausschließlich und alleine in der Anwendung von Soft- und Hardwarekompetenzen auf den künstlerischen Proben- und Spielbetrieb, auf Marketing und Audience Development, die eigene Hospitality und Service-Mentalität. Es sind nicht nur die physischen Theatergebäude und das von ihnen ausgehende kulturelle Angebot, das sich neben die leeren Kirchen und brach liegenden Kaufhäuser der (Innen)Städte von morgen zu gesellen droht: Wenn die Entscheidungsträ­ger:in­nen des Theaters der Zukunft dieses Denken nicht jetzt verinnerlichen und auf die strukturelle Entwicklung von Personal und ­Organisation anwenden, dann werden sie neben den Bereichen des Sports und der Kirche zu den künftigen Dinosauriern der Governance zählen. //

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