Protagonisten

Shakespeares Spielmacher

Berlin, Mannheim, Weimar: Christian Weise inszeniert die Welt als Bühne und die Bühne als eigene Welt

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Susanne Wolff und Corinna Harfouch als König und Lady Macbeth und Oscar Olivo als Banquo in „Macbeth“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz
Susanne Wolff und Corinna Harfouch als König und Lady Macbeth und Oscar Olivo als Banquo in „Macbeth“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz


Christian Weise sitzt Anfang April im Nationaltheater Weimar und kriegt die Krise. Zum einen, da ihm soeben mal wieder seine „Buddenbrooks“-Premiere platzte, die in der Pandemie schon mehrfach ausgebremst wurde und nun einiger Corona-Fälle im Ensemble wegen erneut auf unbestimmte Zeit gleichsam in Quarantäne geschickt wird. Zum anderen, da ein TdZ-Gespräch über Shakespeare, das sich anstatt einer Endprobe ereignet, ­unweigerlich zur Rezeption seiner „Queen Lear“ gelangt, die im Februar mit Corinna Harfouch in der Titelrolle am Berliner Gorki-Theater herauskam, nachdem man auch dort mit dem Virus arg zu kämpfen hatte.

Von Albernheiten und Blödeleien war nicht zum ersten Mal in Kritiken zu lesen, mit denen Weise demnach die poetische ­Fallhöhe Shakespeare’scher Lebens- und Liebeskrisen wahlweise unterläuft oder zudeckt. Und von: Klamauk. „Ich hasse diese ­falsche Benutzung des Wortes“, bricht es aus dem Regisseur heraus. „Herbert Fritsch macht Klamauk, und zwar als große Kunstform! Laurel und Hardy haben Klamauk gemacht. Ich kann so was gar nicht!“ Ein anderes „Lieblingsschimpfwort“ für seine Inszenierungen: Trash. „Es gibt großartige Trash-Künstler!“ Er zählt sich aber keineswegs dazu.

Weise nähert sich einem Shakespeare-Stück eben nur ­komödiantisch, schon deshalb, weil ihm das ganze Leben wie eine Komödie vorkommt („Wenn ich in der S-Bahn sitze, muss ich ­lachen.“). Außerdem wollen die Leute doch unterhalten werden; das war im Globe Theatre auch nicht anders.

Dabei ist es egal, ob es sich um eine Komödie oder Tragödie handelt, eine Zuschreibung, die letztlich ohnehin ja nur ans Ende denkt, nicht aber an den Verlauf, in dem das eine stets so sehr vorhanden ist wie das andere. Oder wie Weise es formuliert: „Du hast bei Shakespeare immer die ganze Welt!“

Wenn er sich in „Wie es euch gefällt“ diese ewige Suche nach Liebe betrachtet, könnte er heulen. Und wenn Svenja Liesau jetzt als in Sister Eddi verwandelter Edgar durch die „Lear“-Heide wackelt, uns was von „Pullermann und Pillermann“ erzählt sowie in drei verschiedene Dialekte fällt, dann orientiert sich das sehr am Originaltext, den Soeren Voima hier nur neu fasste.

Doch das ist wohl so ungefähr das Prinzip: Christian Weise spannt eine lustige Folie über die Stücke, die uns derart in vergnüglicher Sicherheit wiegen und Läppisches vorgaukeln. Er dehnt diese Folie bis zum Gehtnichtmehr, irgendwann reißt sie planmäßig. Dann droht uns Gefahr, dann befallen uns Traurigkeit oder Melancholie, dann ist plötzlich doch mal Schluss mit lustig.

In „Queen Lear“ kommt diese Folie als Filmleinwand daher. Weise, der „diese ganze Kamera-Scheiße“ im Theater seit den Neunzigern überhaupt nicht mochte (von Frank Castorf an der Volksbühne mal abgesehen), schickt seit 2020 bereits „Hamlet“ ins Kino, im Container vor dem „Gorki“: Horatio dreht als New Yorker Filmregisseur in Deutschland (Oscar Olivo) in bemalten Pappkulissen von Julia Oschatz. Vor allem Hamlet (Svenja Liesau) tritt wiederholt aus dem Livestream und also aus dem faulenden Staat heraus sowie hinter der eisernen Wand hervor, auf der das läuft.

Nun sehen wir, in den ersten 75 Minuten eines Drei-Stunden-„Lear“: eine „Star Wars“-Parodie, übertragen aus extraterrestrischen Räumen einer geschlossenen Gesellschaft, die wiederum Julia Oschatz im Videostudio direkt hinter der Leinwand einrichtete und unter der wir Schauspielerfüße auf- und ab-, ein- und heraustreten sehen. Shakespeares Geschichte aus grauer Vorzeit landet so in einer im Grunde auch schon wieder vergangenen ­Zukunft. Sofern unter dieser überhaupt noch der Subtext „Möge die Macht mit dir sein“ liegt, dann nur als frommer Wunsch, mehr noch als Zeichen der Verblendung und der Heuchelei.

Svenja Liesau, Corinna Harfouch, Oscar Olivo in „Queen Lear“ am Maxim Gorki Theater. Foto Ute Langkafel MAIFOTO
Svenja Liesau, Corinna Harfouch, Oscar Olivo in „Queen Lear“ am Maxim Gorki Theater. Foto Ute Langkafel MAIFOTO

Ein solches Szenario folgt Weises Vorstellung, Shakespeare eröffne uns einen derart „universellen Kosmos“, dass man eine eigene Welt entwerfen und in seine Stücke setzen kann. Es sind zumeist in sich geschlossene Welten, die Weise da errichtet und einrichtet, aber nur, um sie dann zu zerlegen, nicht zu zertrümmern. „Das schafft Assoziationsräume.“

Lears Vertrauter Kent übersetzt uns das in die „Trigger­warnung“, hier könne gleich alles ziemlich aus dem Ruder laufen. So geschieht es später auch, was ein großes Glück ist. Auf der Leinwand bricht zunächst ein Krieg der Gendersterne aus, in dem unter anderem Bastard Edmund (Aram Tafreshian) um die Vorherrschaft des männlichen Geschlechts ringt: „Ich bin, was ich bin, aus eigenem Entschluss!“. Derweil folgt Kent einem gleichsam Shakespeare’schen Motto: „Verkleiden, um man selbst zu sein.“ Aus ihm wird, in der Verbannung, der/die/das „Barbie Ken(t)“: keine Frau, aber eine „menstruierende Person“.

Hier begeben wir uns auf die Spur inszenierter Kritik an Shakespeares Männer- und Frauenklischees, die Weise ebenso verlässlich mitliefert wie das diesen Stücken ohnehin immanente Spiel mit Geschlechterrollen. Dass Corinna Harfouch dabei, anders als in früheren Kollaborationen mit dem Regisseur, ebenso wenig einen Mann spielt wie ihre Schwester Catherine Stoyan als Gloster, verdankt sich dem Umstand, dass das gar nicht mehr notwendig erscheint. Der Frauenfeindlichkeit, die Weise im „King Lear“ entdeckte, begegnet Weise andernorts: indem er aus dessen Töchtern Regan und Goneril Söhne macht, auf dass sie ihm nicht zu bösen Bitches geraten.

Wenn Shakespeares Stück zum Stillstand kommt und fortan draußen durch die Heide irrt, beginnt in Berlin das große ­Theater. Die Leinwand hebt sich und gibt den Blick auf eine karge Bühne frei, wo auf die hermetische Stringenz der Filmperspektive ein wildes und raues Spiel folgt. In dessen Zentrum prallen zwei Generationen und Spielweisen aufs Schönste aufeinander, aber nicht aneinander ab. Im Bettlergewand spielt Svenja Liesau als Gloster-Tochter Eddi „aus Angst den Irren“ und ergießt einen ­altklug-blöden Redeschwall auf Lear, die aus dem Darth-Vader-Ganzkörperanzug ins Büßergewand wechselte. Daraus wird ein grandioses Duett beredter Verständnislosigkeit.

Der Abend zerfasert aufs Schönste, wankt durch tragikomische Gegenden einer Endzeit- und Untergangsstimmung ent­gegen und gibt aller Inkonsequenz sinnbildlichen Raum, getragen von der Theaterenergie, die ein vorzügliches Ensemble mit höchster Konzentration und Hingabe erzeugt.

Dass dies äußerer Umstände und diverser Probenausfälle wegen, die die Premiere sich um zwei Tage verspäten ließen, ein unfertiger Abend geworden wäre, bestreitet Christian Weise vehement. „Ich würde doch keine Premiere machen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass da was zusammengekommen ist. Ich bin Puppenspieler! Die Fäden müssen gezogen sein!“

Hier rührt er en passant an einen Kern. Er betrachtet seine Figuren, nicht aber seine Schauspieler als Puppen: als Typen mit bestimmten Eigenschaften, die lesbar werden müssen. Christian Weise aus Eisleben, Jahrgang 1973, studierte an der Ernst-Busch-Hochschule Puppenspiel und stieß zur Truppe um Tom Kühnel und Robert Schuster. Danach wechselte er selbst auf den Regiestuhl.

Sein erster Shakespeare: „Der Sturm“, 2002, eine Koproduktion des Puppentheaters Halle/Saale mit dem Kölner Schauspiel. Traugott Buhre spielte in der gemeinsamen Inszenierung mit Christian Tschirner (alias Soeren Voima) mit Puppen. Ein kleines Puppentheater stellte Weise auch dem Prospero seines zweiten „Sturm“ zur Seite, 2016 in Darmstadt, wo die Gestrandeten auf der Insel in riesigen Strickkostümen zu großen Marionetten wurden. Und die Puppe Puck bildete sich in Weises „Sommernachtstraum“ ein, Max Reinhardt zu sein (2007 mit Corinna Kirchhoff, Robert Hunger-Bühler und Michael Maertens bei den Salzburger Festspielen und in Zürich).

Weise begreift das Theater als großes Spiel, nicht nur, aber gerade bei Shakespeare, der die Bühne als Ort immer vorkommen lässt und nicht minder den Schauspieler, der eine Rolle spielt. ­Dafür entwickelt der Spielmacher Weise regelmäßig besondere, nun ja, Spielweisen. „Das ist eine große Qualität, die ich sehr an ihm schätze“, sagt zum Beispiel Christian Holtzhauer, „dass er sich immer seiner Aufgabe als Regisseur bewusst ist, ein Gerüst zu bauen.“ Erst das ermöglicht Schauspielern, sich im Sinne der gemeinsamen Arbeit freizuspielen, ohne dass die Aufführung deshalb zerfiele.

Der Dramaturg Holtzhauer arbeitete mit Weise bereits in Stuttgart und holte ihn, als er dort Schauspielintendant wurde, zwar als Hausregisseur nach Mannheim, aber bislang kaum als Shakespeare-Regisseur. Es ergab sich allerdings recht kurzfristig ein „Macbeth“ auf dem Mannheimer Theater-Truck, von Aus­statterin Paula Wellmann im Corona-Lockdown entwickelt: Das wurde eine Art Kaspertheater für Schauspieler, sehr reduziert und wie ein Comic gezeichnet. Dem Vernehmen nach hob das stark auf die Jarry-Ebene des „König Ubu“ ab.

Die spielte bereits 2018 eine Rolle, als Weise und Oschatz „Macbeth“ fürs letzte Weimarer Kunstfest unter Christian Holtz­hauer kunstvoll ausmalten und überzeichneten. Schon hier ging es um Kleinbürger, die ganz nach oben wollen und dann gar nicht wissen, was sie dort wollen sollen. Das auf den Kern reduzierte Personal steckte in Fettanzügen mit hängenden Brüsten und Pimmeln: dick angezogen, waren sie alle nackt, zur Kenntlichkeit entstellt.

Im Zentrum des überwältigend aufspielenden sechsköpfigen Ensembles: Susanne Wolff zunächst als Macbeth mit Angstschiss auf dem Lokus und Corinna Harfouch als dessen Lady dahinter, die ihm alle Gewissensflausen austreibt. Nach dem ersten Morden ­sowie einer clownesken Klopperei untereinander wechselten sie die Rollen, nicht aber deren Prinzipien: Die Skrupel blieben auf Wolffs Seite, nun als Lady, das Gewissenlose auf der Harfouchs.

Dem lag die Heiner-Müller-Fassung von 1972 zugrunde, flankiert vom alten Marx-Wort, Weltgeschichtliches ereigne sich das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Und diese Farce spielte grandios in einem Weimarhaus als begehbarer Kulisse, mit dem Foyer des Nationaltheaters, dem Juno-Zimmer des Goethehauses und der Küche des Bauhaus-Musterhauses. Die Lady servierte Pizza aus den Buchenwald-Öfen von Topf & Söhne.

Shakespeare bedeutet bei Weise: sich verkleiden, sich was vorspielen (sich selbst und anderen). Das Leitmotiv muss lauten: „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.“ Das stammt aus „Wie es euch gefällt“, 2021 fürs Weimarer Sommertheater inszeniert, als große Drag-Show mit lauter Städtern, die das Landleben versuchen.

Angeblich verwendete ja schon Shakespeare „Drag“, als Abkürzung für „dressed as girl“ im Elisabethanischen Theater ohne Schauspielerinnen. In dieser Tradition hatte Weise 2010 in Stuttgart „Was ihr wollt“ mit acht Männern besetzt. Da spielte also einer eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, in den sich eine Frau verliebt, die von einem Mann gespielt wird … Unter freiem Weimarer Himmel ging es nun noch etwas verrückter zu. Aus Shakespeares Männern in „Wie es euch gefällt“ wurden von Männern gespielte Frauen. Und umgekehrt: aus Rosalind zum Beispiel also ein Rosalund, der sich, von Nadja Robiné gegeben, als Ganymaid (statt Ganymed) verkleidet.

Fabian Hagen als Orlanda in „Wie es euch gefällt“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz
Fabian Hagen als Orlanda in „Wie es euch gefällt“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz

Weise verkehrte Klischees in ihr Gegenteil: Frauen als ­starkes Geschlecht, Männer als Angsthasen. Hier herrschte mit größter Selbstverständlichkeit das Matriarchat, darinnen jedoch kein wildes Durcheinander, sondern eine neue Ordnung. Es fehlte über weite Strecken ein irritierendes Moment. Denn so selbstverständlich ist natürlich nichts beim Suchen und Finden der Liebe wie der eigenen Identität. Dann aber trat Thomas Kramer als ­Orlandas Schwester Olivia auf, ließ sämtliche Hüllen fallen und stand plötzlich als Frau mit Pimmel zwischen den Geschlechtern.

Den „Kaufmann von Venedig“ richtete Weise 2015 in Darmstadt als Mysterienspiel ein, mit Tina Keserovic als Antonio und auch Jessica sowie Catherine Stoyan als Shylock und Lorenzo. Für Paul Brodowskys Neuübertragung von „Maß für Maß“ recherchierte das Weise-Ensemble 2011 im Rotlichtmilieu des Stuttgarter Leonhardsviertels und improvisierte daraufhin die Rüpel-Szenen in Shakespeare’scher Tradition nach Sätzen von Zuhältern und Prostituierten neu zusammen. „So schön kann Werktreue sein“, hieß es daraufhin in einer Kritik.

Das Programmblatt zum Berliner „Hamlet“ zitiert die ­Heiner-Müller-Rede „Shakespeare. Eine Differenz“ von 1989: „Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere ­Stücke schreibt.“ Weise offenbart uns diese Differenz in seinen Stücken, er feiert sie aber auch, als wollte er uns sagen: Wir werden wohl erst am jüngsten Tag bei uns angekommen sein, und solange ist das Theater ganz bei sich, wenn es bei Shakespeare ist. //

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