Recherchen 160
Ästhetik der Abwesenheit
Texte zum Theater / Erweiterte Neuauflage
von Heiner Goebbels
Paperback mit 236 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-325-5, Mit zahlreichen farbigen Abbildungen
- Erweiterte Neuauflage
Der international renommierte und vielfach ausgezeichnete Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels ist ein Grenzgänger zwischen den Künsten. Er hat seine künstlerische Arbeit und die zeitgenössische Theaterpraxis immer auch theoretisch reflektiert. Theater ist für ihn ein komplexes Wechselspiel zwischen der Polyphonie von Klang, Licht, Raum und der Wahrnehmung der Zuschauer. An die Stelle von Repräsentation tritt das Spiel mit der Abwesenheit – von Figur, dramatischer Handlung und des Schauspielers im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist diese Abwesenheit, die der Imagination des Zuschauers einen Spielraum eröffnet und eine ästhetische Erfahrung ermöglicht.
„Ästhetik der Abwesenheit“ liegt nun in einer erweiterten Neuausgabe vor und versammelt die wichtigsten Schriften und Vorträge von Heiner Goebbels aus den letzten zwanzig Jahren.
Theater als Erfahrung
Zur zweiten Auflage
Just als der Band mit den Aufsätzen und Vorträgen zum ersten Mal erschien, bekam ich die Gelegenheit, als künstlerischer Leiter das Programm der Ruhrtriennale – International Festival of the Arts 2012 – 2014 zu gestalten. Bewusst habe ich dem Festival kein ‚Thema‘ gegeben. Denn Themen schränken nicht nur den künstlerischen Leiter ein, sondern auch den Auftrag an die Künstlerinnen und Künstler – und nicht zuletzt den Blick des Publikums. Gute Kunstwerke – das ist in der darstellenden nicht anders als in der bildenden Kunst – haben viele Themen und Bedeutungsschichten und geben nicht einmal alle ihre Geheimnisse frei. Unbewusst war es aber wohl ein Programm, die zeitgenössischen Künstler und ihre Arbeiten auf das hin zu befragen, was auch in der Ästhetik der Abwesenheit formuliert war.
Dort hatte ich zum Beispiel im ersten Kapitel die Ausnahmestellung des zeitgenössischen Tanzes beschrieben, der – gerade wegen seiner prekären Nicht-Institutionalisierung – in den letzten Dekaden stärker als Theater und Oper die Möglichkeiten der darstellenden Künste erweitert hat und uns zum Nachdenken bringt. Nicht nur zum Nachdenken über Bewegung, sondern auch zum Nachdenken über das Verhältnis von Musik und Tanz, von Klang und Bild, von Hören und Sehen. Zum Nachdenken über unsere Körper und die Körper derer, die anders sind. Deswegen waren es vor allem zeitgenössische Choreografinnen und Choreografen1, die ich einladen und mit denen ich meist auch neue Arbeiten produzieren konnte – auch weil sie längst schon etwas anderes machen als Tanz: Kunst mit allen Mitteln.
Mein Hauptinteresse gilt dem Musiktheater, doch im Rahmen der Ruhrtriennale konnte ich nur eine eigene neue Arbeit realisieren: When the Mountain changed its Clothing2. Aber ich machte es zu meinem Programm, szenische Werke von Komponisten zu präsentieren (und teilweise auch selbst zu inszenieren), die im Repertoire der Opernhäuser der Welt gar nicht oder nur selten vorkommen, weil sie radikal mit der Tradition brechen und damit ein großes Potential für die Zukunft dieses schwerfälligen Genres bieten. Das tun sie auf unterschiedliche Weise: mit einer unhierarchischen, dezentralen Struktur3 oder dadurch, dass die Aufmerksamkeit vom Gesang weg zur Musikalität der gesprochenen Sprache geführt wird4; durch die Körperlichkeit einer unangepassten, un-akademischen Musik jenseits europäischer Tonalität5 oder durch den Abschied von jeder Narration6; mit einer Ideen-Oper, in deren Zentrum nicht mehr die Subjekte stehen, sondern die Materie7 oder mit der Konkretion einer geräuschstarken und bildgewaltigen Musik8. All diesen Entwürfen ist Abwesenheit zu eigen; es fehlt jeweils das, was ‚Oper‘ seit 400 Jahren vorrangig definiert hat: der Gesang, die Story, die Protagonisten im Zentrum.
Das Publikum hat mich darauf angesprochen, dass es in den Aufführungen kaum Pausen gab. Aus gutem Grund: Es hat mit der Intensität zu tun, mit der zeitgenössische Künstler uns in komplexe Wahrnehmungsweisen eintauchen lassen, die nicht mehr der Linearität einer Narration und der klassischen Einteilung in Akte entsprechen, an die man nach einer Pause einfach anknüpfen könnte. Ästhetische Erfahrung ist – nach dem Philosophen Dieter Henrich – kein „passives Aufnehmen von Weltgehalten“, sondern „aktive Aufmerksamkeit“, in der die Unmittelbarkeit, mit der wir die Welt uns aneignen, unterbrochen wird.9 Diese Unterbrechung des Alltags ist die eigentliche Pause.
Deswegen spreche ich von einem Theater als Erfahrung, denn Theater interessiert mich nicht als Instrument der Mitteilung. Darauf wird es allzu oft reduziert – schon allein, weil es auf Sprache basiert. „Everything which is not a story could be a play“10 heißt es schon bei Gertrude Stein. Theater kann eben so viel mehr sein: eine Vielfalt von Eindrücken aus Bewegungen, Klängen, Worten, Räumen, Körpern, Licht und Farben. Und mit diesem ‚Mehr‘ kann das Theater uns vielleicht gerade da berühren, wofür uns (noch) die Worte fehlen. Kunst als Erfahrung steht auch für die Offenheit, das Geschehen auf der Bühne nicht immer verstehen zu müssen, einer fremden Sprache oder einer uns unbekannten Musik zuzuhören, einem Bild zuzuschauen, für das wir keinen Begriff haben.
Und ich gestehe es, es gab im Programm dieser Ruhrtriennale keine oder kaum Theateraufführungen. Warum? Zunächst, weil wir in Deutschland eine sehr reiche und zahlreiche Theaterlandschaft haben, und ich denke, ein Festival muss – weil es das kann – Dinge möglich machen, die im institutionalisierten Repertoirebetrieb der Stadttheater und Opernhäuser so nicht entstehen können. Stattdessen gab es vielfältige performative Formate, in denen die Wahrnehmung der Zuschauer im Zentrum stand.11
Und wenn man wie so oft im Theater ‚nur so tut als ob‘, werden die Räume der Industriekultur zu schärfsten Kritikern. Fehlt der Rahmen einer Guckkastenbühne, einer Blackbox oder eines goldenen Portals, merkt man angesichts der Materialität dieser Gebäude selbst noch in der letzten Reihe, ob auf der Bühne nur etwas vorgegeben wird. Mich interessiert Theater als eigene Realität, die eben nicht so tut, als würde sie nur auf eine andere verweisen. Gerade das gibt dem Zuschauer die Freiheit, das Theater mit der eigenen Realität und den eigenen Erfahrungen abzugleichen. Nähe und Ferne zwischen Theater und Realität sind nicht eine Frage der Interpretation des Regisseurs, sondern selbst zu entdecken, und die Zuschauer halte ich für weit cleverer als das kleine Team, das sich ‚da vorne‘ etwas ausgedacht hat.
In unserem medialen Alltag bekommen wir alles zubereitet und in seiner Form ‚totalitär‘ vorgesetzt. Fernsehmoderatoren starren uns an, Entertainer schreien uns an. Die meisten Filme sind exzellent gemachte Unterhaltungsmaschinen, die uns fesseln – aber nicht befreien. Die Möglichkeiten für individuelles Entdecken sind kleiner geworden, die Räume für unsere Vorstellungskraft enger. Hier kann die Kunst im Theater ein Schutzraum sein, in dem all das wieder möglich ist. Ein Theater, das uns nicht belehren und einschüchtern, das uns nichts verkaufen will, sondern das zu einer Erfahrung mit allen Sinnen einlädt. Vielleicht kann es uns dann, wenn die Sprache zurücktritt, sogar mit den Kräfteverhältnissen konfrontieren, die sich der Erkennbarkeit, Verfügbarkeit und Machbarkeit entziehen; Kräfteverhältnisse, die nicht greifbar und vor allem nicht personifizierbar sind. Das trifft für politische Machtverhältnisse ebenso zu wie für die ökologischen und virologischen Herausforderungen der Gegenwart oder die ökonomischen Prozesse, die sich nicht voraussagen lassen.
Der Versuch einer Augenhöhe zwischen Kunst und Betrachter fand vielleicht ihren sinnfälligen Ausdruck in dem Programm „No Education“ – in dem unbedingten Vertrauen darauf, dass nicht nur einem erwachsenen Publikum, sondern auch den von uns eingeladenen Kindern und Jugendlichen eine eigene, unvoreingenommene Erfahrung mit Kunst möglich ist. Die Erfahrung, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Dass Kinder Kunst als lebendiges Laboratorium erleben können, das Gesehene und Gehörte untereinander diskutieren und zu den Experten unserer Festivaljury „The Children’s Choice Award“ werden konnten.
Mittlerweile ist die Ästhetik der Abwesenheit auf Englisch erschienen, in veränderter und umfangreicherer Form auf Russisch und Polnisch, eine Übersetzung ins Französische und Tschechische ist geplant, und einzelne Aufsätze sind auf Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Norwegisch und Türkisch veröffentlicht. Ich freue mich über diese Resonanz und darüber, dass Theater der Zeit zu einer erweiterten Neuauflage bereit ist. Die Ruhrtriennale und die darauf folgenden letzten drei Jahre am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft ließen mir allerdings wenig Zeit zum Schreiben – wenn man von einem Nachruf absieht, mit dem ich mich 2012 von René Gonzalez verabschieden musste, den Intendanten des Théâtre Vidy, das für mich fünfzehn wichtige Jahre lang künstlerische Heimat war.
Erst im Rahmen der Georg-Büchner-Professur, die mir nach meiner Emeritierung übertragen wurde und am ZMI, dem Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität angesiedelt ist, wird die Veröffentlichung von Aufsätzen und Vorträgen möglich, um die nun die zweite Auflage ergänzt werden kann: die Antrittsvorlesung über das, was ich jenem Georg Büchner verdanke; ein Vortrag über Medienwechsel bei Alain Robbe-Grillet, zu dem mich Martin Seel ins Frankfurter Museum für Moderne Kunst eingeladen hat, und ein Beitrag für das Mozarteum in Salzburg über mein Vertrauen in die Bedeutung und Chance der „Fehler“ bei der eigenen Arbeit. Mit Blick auf die Arbeitsweisen enthält die Neuauflage auch – nun zum ersten Mal auf Deutsch – ein ausführliches Gespräch mit der französischen Kollegin Eliane Beaufils und zwei ehemaligen Mitstreitern am Institut der Angewandten Theaterwissenschaft, Eva Holling und Lorenz Aggermann, über Ensemble, Team & Polyphonie.
Heiner Goebbels, im September 2020
1 Jérôme Bel, Bruno Beltrao, Boris Charmatz, Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher, Anne Teresa De Keersmaeker, Xavier Le Roi, Mathilde Monnier, Lemi Ponifasio, Marie La Ribot, Tino Sehgal, Meg Stuart, Saburo Teshigawara u. a.
2 Mit dem Chor Carmina Slovenica, der aus 40 jungen Mädchen und Frauen zwischen 10 und 20 Jahren besteht.
3 John Cage, Europeras 1&2.
4 Carl Orff, Prometheus.
5 Harry Partch, Delusion of the Fury.
6 Morton Feldman, Neither.
7 Louis Andriessen, De Materie.
8 Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern.
9 Vgl. Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben, München 2001, S. 98ff.
10 Vgl. Gertrude Stein, Plays, in: Lectures in America, New York 1935.
11 Neue Arbeiten von Matthew Barney, Forced Entertainment, Romeo Castellucchi, Robert Wilson u.a.; Installationen von Harun Farocki, William Forsythe, Douglas Gordon, Ryoji Ikeda, Rimini Protokoll, Michal Rovner, Gregor Schneider; und in der Ausstellung 12 rooms lebende Menschenbilder von Marina Abramovic, Joan Jonas, Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla, John Baldessari, Damien Hirst, Santiago Sierra, Xu Zhen u.v.a.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Wenn vom Baum schon die Rede ist, muss man ihn nicht mehr zeigenEin Vorwortvon Heiner Goebbels | Seite 6 |
Theater als ErfahrungVorwort zur zweiten Auflagevon Heiner Goebbels | Seite 10 |
Ästhetik der AbwesenheitWie alles angefangen hatvon Heiner Goebbels | Seite 15 |
Texte zu Stücken | |
Bildbeschreibungen, Tischgesellschaften und KomparativeZur Oper Landschaft mit entfernten Verwandtenvon Heiner Goebbels | Seite 28 |
„Manches merkt man sich bloß, weil es mit nichts zusammenhängt“Fragen beim Bau von Eraritjaritjakavon Heiner Goebbels | Seite 53 |
Real Time in OberplanStifters Dinge als ein Theater der Entschleunigungvon Heiner Goebbels | Seite 63 |
Eigentümliche StimmenZur Arbeit an I went to the house but did not entervon Heiner Goebbels | Seite 75 |
Der Raum als EinladungDer Zuschauer als Ort der Kunstvon Heiner Goebbels | Seite 82 |
Texte zu Künstlern | |
„Ich wollte doch nur eine Erzählung machen“Jean-Luc Godard als Komponistvon Heiner Goebbels | Seite 94 |
Was wir nicht sehen, zieht uns anVier Thesen zu Call Cutta von Rimini Protokollvon Heiner Goebbels | Seite 100 |
Im Rätsel der ZeichenFür Robert Wilsonvon Heiner Goebbels | Seite 109 |
Trau keinem AugeFür Erich Wondervon Heiner Goebbels | Seite 115 |
„Eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand umfassend aufbauen“Das Ensemble Modern als Beispielvon Heiner Goebbels | Seite 121 |
„Fragen Sie mehr nach Alain Robbe-Grillet“Über Letztes Jahr in Marienbadvon Heiner Goebbels | Seite 130 |
Théâtre Vidy-LausanneFür René Gonzalezvon Heiner Goebbels | Seite 140 |
Texte zur Arbeitsweise | |
„In der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen“ (Bertolt Brecht)Probenpraxis ohne Visionvon Heiner Goebbels | Seite 144 |
Ensemble, Team & Polyphonie„… aber bei einer starken künstlerischen Erfahrung ist man immer allein“von Heiner Goebbels | Seite 154 |
Zur Musikalität des TheatersAntrittsvorlesung zur Georg-Büchner-Professurvon Heiner Goebbels | Seite 175 |
Texte zur Ausbildung | |
Forschung oder Handwerk?Neun Thesen zur Zukunft der Ausbildung für die darstellenden Künstevon Heiner Goebbels | Seite 186 |
Wenn ich möchte, dass ein Schauspieler weint, geb’ ich ihm eine ZwiebelÜber die Arbeit mit dem Schauspielervon Heiner Goebbels | Seite 193 |
Eine riesige HolzpistoleTheorie und Praxis in Gießenvon Heiner Goebbels | Seite 200 |
Das Hören und Sehen organisierenDie Angewandte Theaterwissenschaftvon Heiner Goebbels | Seite 209 |
Der Kompromiss ist ein schlechter RegisseurTheater als Museum oder Laborvon Heiner Goebbels | Seite 218 |
Anhang | |
Biografie | Seite 227 |
Textnachweise | Seite 229 |
Abbildungsnachweise | Seite 233 |
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Zum Autor
Heiner Goebbels
Weitere Beiträge von Heiner Goebbels
Der Raum als Einladung
Der Zuschauer als Ort der Kunst
Forschung oder Handwerk?
Neun Thesen zur Zukunft der Ausbildung für die darstellenden Künste
Du, der Lesende ...
Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur
Theater als Museum oder Labor
Das Hören und Sehen organisieren
Bibliographie
Beiträge von Heiner Goebbels finden Sie in folgenden Publikationen:
Recherchen 160
Heiner Goebbels
Ästhetik der Abwesenheit
Texte zum Theater / Erweiterte Neuauflage
IPF – Die erste Dekade
10 Years of Artistic Research in the Performing Arts and Film
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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