Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

I
Bertolt Brechts Größe besteht vor allem darin, dass er sich als ein wahrhaft „katholischer“ Autor verstand, wie er es bewusst provozierend formulierte. Er fasste – je älter er wurde – in nahezu allen seinen Werken, Notaten und mündlichen Äußerungen, die uns überliefert sind, stets das Ganze, das heißt die universalen Aspekte sämtlicher politischen, ideologischen und sozioökonomischen Verhältnisse ins Auge, statt sich lediglich mit partikularen Fragen bestimmter individueller oder tagespolitischer Problemstellungen abzugeben. Ihm ging es nicht um das Vereinzelte, nur ihn Betreffende, sondern um einen grundsätzlichen, alle Menschen angehenden „Umgang mit den Welträtseln“, wie es im Untertitel von Werner Mittenzweis großer Brecht-Biographie von 1986 heißt.1
Man mag das angesichts der äußerst komplexen Weltlage, der sich Brecht gegenübersah, hybrid oder gar anmaßend nennen, ja, ihn als einen „plumpen“ Vereinfacher abtun, der besser getan hätte, sich mit einer differenzierten Analyse bestimmter Einzelprobleme der angeblich ins Pluralistische ausartenden modernen Industriegesellschaften zu begnügen und endlich einzusehen, dass es im Hinblick auf das Ende der älteren „Meistererzählungen“, die sich noch um eindimensionale Veränderungskonzepte bemüht hätten, schon längst keine „einfachen Lösungen“ mehr gebe. Doch im Gegensatz zu den unnötig verschachtelten Formulierungsbemühungen eines Theodor W. Adorno ist gerade das „Plumpe“ an Brechts Sehweise und Sprachgebung, wie es bei Walter Benjamin einmal heißt,2 das letztlich Bedeutsame an Brecht, der sich stets bemüht hat, alle anstehenden Probleme politischer, wirtschaftlicher, philosophischer und naturwissenschaftlicher Art so „radikal“ wie nur möglich auf die ihnen zugrunde liegenden und relativ einfach zu erklärenden Wurzeln zurückzuführen.
Selbstverständlich wurde Brecht diese Haltung nicht schon in der Wiege mitgegeben. Sich zu einer solchen Einstellung der Welt gegenüber durchzuringen, dazu bedurfte es vieler freiwillig eingegangener oder auch auferzwungener Erfahrungen sowie der sich daraus ergebenden Wandlungen. Aufgewachsen während der Spätzeit der wilhelminischen Ära, bemühte er sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution in der frühen Weimarer Republik erst einmal darum, sich als literarisches Genie und zugleich ungebärdig auftretender Bürgerschreck einen aufsehenerregenden Namen zu machen, bis ihn der heraufziehende Nazifaschismus, seine Hinwendung zu den Klassikern des Marxismus und die Exilierung nach 1933 zu der Einsicht bewegten, sich nicht weiterhin als ein Einzelner zu empfinden, sondern in allen politischen und sozialen Konflikten als gesamtgesellschaftlich denkender Zeitgenosse ideologisch Stellung zu beziehen. Wie bereits oft dargestellt, wählte er dafür zunehmend die Haltung eines Lernend-Belehrenden, der nicht nachließ, den Ursachen seiner Erfahrungen, die ihn aus der Bahn geworfen hatten, nachzugehen und sie zugleich anderen zu vermitteln.
Und zwar konzentrierte sich Brecht dabei nicht allein auf die jeweils anstehenden tagespolitischen Konfliktsituationen, so dringlich ihm diese auch erschienen, sondern behielt zugleich in utopischen Vorgriffen stets eine sinnvollere Weltordnung im Blick, in der – jenseits der kapitalistischen Ausbeutung der „Armen und Entrechteten“, einer hektisch übersteigerten Industrialisierung sowie der Verwüstung der Natur durch imperialistische Raubkriege – einmal alle Menschen im Rahmen sozialistischer Gemeinschaftsformen in friedlichen, von der Natur vorgegebenen Bedingungen leben könnten. Ja, Brecht hoffte, dass er in der Verwirklichung derartiger Verhältnisse nicht nur den Part eines literarischen Vollzugsfunktionärs irgendwelcher sich als sozialbewusst aufspielenden, aber weiterhin auf der Ausbeutung des Menschen und der Natur beruhenden Gesellschaften übernehmen könne, sondern dass man ihm dabei eine relative Autonomie gewähren würde, wie er das – noch immer im Exil lebend – in der Figur Arkadi Tscheidses seines als Utopie angelegten Dramas Der kaukasische Kreidekreis (1943–1945) darzustellen versuchte, welcher sich bemüht, durch die Aufführung eines seiner Stücke dem Volk die Lehren der Partei, aber auch der Partei die Weisheit des Volkes zu vermitteln.3 Diese Rolle zu spielen, war zwar Brecht in seinen letzten Jahren in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der frühen DDR nur teilweise vergönnt, dennoch hielt er an diesem universalen Grundkonzept bis zu seinem Tode im Jahr 1956 hartnäckig fest, nämlich für eine „Bewohnbarmachung der Erde“ einzutreten, in der alle Menschen nicht nur untereinander, sondern auch im Hinblick auf ihre naturgegebene Umwelt „friedliche“ Verhältnisse anstreben würden.
Doch genug der „goldenen Worte“. Versuchen wir lieber, diesen Entwicklungsgang vom Subjektiv-Ungezügelten zum Kommunitaristisch-Besonnenen anhand der dafür in Frage kommenden Äußerungen in Brechts Werken und den damit zusammenhängenden Notaten, Briefen und Interviewaussagen so konkret wie nur möglich nachzuzeichnen.

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