Die Wiedergeburt des Theaters aus dem Geiste des Dionysos
Der Titel des Buches, das die grundlegende programmatische Schrift des griechischen Regisseurs Theodoros Terzopoulos einem deutschen Publikum vorstellt, verkündet die Rückkehr des Dionysos. Was ist damit gemeint? Kehrt der antike Gott des Theaters endlich wieder in seine angestammte Sphäre, das Theater, zurück und betritt damit zugleich unsere megamoderne, superdigitalisierte Welt? Zielt diese Rückkehr auf die Wiederherstellung eines früheren Zustandes oder auf eine radikale Erneuerung?
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind wiederholt Theaterkünstler mit dem Anspruch aufgetreten, Theater ganz neu zu bestimmen und es von Grund auf zu verändern. Die Theaterreformer um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die verschiedenen Avantgardebewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die Vertreter der sogenannten Neoavantgarde oder Postmoderne seit den 1960er Jahren und seit den 1990er Jahren die Verkünder ganz unterschiedlicher neuer Theater- und Performanceformen, sie alle eint das Ziel, ein neues Theater zu schaffen, das den spezifischen Bedingungen ihrer Zeit Rechnung zu tragen vermag. In einigen Fällen sollte dieses Ziel dadurch erreicht werden, dass der Schauspieler ins Zentrum treten und eine neue Schauspielkunst entwickeln sollte. Dies gilt für Meyerhold und seine Biomechanik ebenso wie – wenn auch auf ganz andere Weise – für Grotowski und seinen „heiligen Schauspieler“. In keinem Fall jedoch wurde sich dabei so dezidiert auf Dionysos berufen, wie Terzopoulos es tut.
Was für ein Gott war/ist Dionysos? Er wurde als Sohn des Zeus und der Semele geboren. Wie der Mythos uns überliefert, stachelte Hera aus Eifersucht die Titanen an, das Kind zu töten. Sie zerrissen Dionysos in Stücke, kochten und verzehrten ihn. Nur sein Herz blieb erhalten. Aus ihm erschuf Zeus den Dionysos neu.
Die Zerreißung des Dionysos und seine Wiederherstellung zur Ganzheit, seine Wiedergeburt, bildet bei Terzopoulos das Leitmotiv für die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Immer wieder muss er etwas an/in sich zerstören, um sich zu einer neuen Ganzheit zusammenzufügen – einer Ganzheit, welche seine Reise in die längst vergessenen und tief vergrabenen „Landschaften der tiefen Erinnerung“ (S. 65) ermöglicht. Der Schauspieler handelt in der Nachfolge des Dionysos. Als sein Jünger vollzieht er immer wieder Zerreißung und Zusammenfügung der einzelnen Fragmente zu einem neuen Ganzen nach. Dies ist sein eigentliches „Metier“, die conditio sine qua non für seine erfolgreiche Arbeit, die in der nie enden wollenden Improvisation unaufhörlich fortgesetzt wird.
Dionysos erscheint als der nicht nur durch Wein berauschte und berauschende, sondern schlechthin als der ekstatische Gott, der jegliche Grenzen überschreitet. In einem Gespräch mit der Altphilologin Marianne McDonald erzählt Terzopoulos von einem Buch über Phytologie aus dem 17. Jahrhundert, das er in einer Bibliothek in Leipzig fand und in dem über ein Ritual in einem Krankenhaus des Asklepios in Attika berichtet wird:
Bei Sonnenuntergang mussten alle nackt im Kreis auf nassem Sand, nasser Erde, umeinander herumgehen. Nach einer Stunde mussten sie schneller gehen, nach der zweiten noch schneller. Nach der dritten mussten sie wie im Kabuki die Knie beugen. Nach der vierten mussten sie die Ellbogen anwinkeln, und indem diese Bewegungen immer länger und schneller mit gebeugten Gliedern ausgeführt wurden, verschwanden langsam die körperlichen Schmerzen und die Knoten lösten sich auf. Einer hatte Herzschmerzen, ein anderer hatte Schmerzen im Bauch, und plötzlich verschwanden diese. Nach und nach, nachdem sie acht Stunden lang dasselbe gemacht hatten, verspürten die Menschen unglaubliche Energie. ... Und allmählich lösen sich die Schmerzen auf und verschwinden. Diejenigen, die am folgenden Morgen operiert werden sollten, waren in einem Zustand von Ekstase und Glück, sie standen unter dem Einfluss des Dionysos, wie in den Bakchen, aber nicht durch Wein oder Worte, sondern durch den Wein ihrer Körper, durch ihr Blut. ... Mit dieser Blutzirkulation gingen sie in den Operationssaal, und die Operation wurde nur mit einer einfachen Heilkräuternarkose durchgeführt. Und dieses Geheimnis hatte große Bedeutung für mich.
(Zitiert nach: Reise mit Dionysos. Das Theater des Theodoros Terzopoulos, hg. von Frank M. Raddatz, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 13f.)
Ebenso wie hier die Kranken müssen sich die Schauspieler in einen Zustand der Ekstase versetzen – einen Zustand, den Terzopoulos grundsätzlich von dem der Trance unterscheidet. „Um in den Zustand der Ekstase zu gelangen, muss der Körper sich seiner Füße bewusst sein. In der Trance hat man kein Bewusstsein der Füße.“ (Reise mit Dionysos, S. 158.) In der und durch die Ekstase nähert sich der Schauspieler Dionysos an – erweist sich also auch in dieser Hinsicht als sein Jünger.
Dionysos ist der Gott der unendlichen Verwandlungen. Er erscheint als Mann und als Frau, als Gott und als Tier, als Löwe, Schlange oder Stier, ständig die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft, Ordnung und Chaos, Ich und Nicht-Ich überschreitend. Er ist der Gott der Befreiung, der sämtliche Grenzen auflöst: Auch in dieser Hinsicht soll der Schauspieler ihm nachfolgen.
Die Überschreitung der Grenzen betrifft selbst die letzte Grenze – die Grenze, welche das Leben vom Tod scheidet. Dionysos gilt auch als Gott eines Mysterienkultes. Das Geheimnis dieses Kultes bestand in der Überzeugung, dass der Zerreißung in der Tat die Wiederherstellung zur Ganzheit und zum Leben folgt. Dionysos ist zwar nicht Herrscher der Unterwelt, er sichert jedoch das Wohlergehen der Initianden in ihr. Er befreit sie angesichts des Todes – eine der Varianten, in denen Dionysos als Befreier erscheint. Hier geschieht es durch Wein, der im Mysterienkult reichlich genossen wird und einen Vorgeschmack auf die Unterwelt verschafft. Dionysos’ Nähe zur Unterwelt ist häufig belegt. So heißt es im Fragment DK 22 [12] B 15 des Heraklit:
Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Lied singen für das Schamglied (Phallos), so wär’s ein ganz schamloses Treiben. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie da toben und ihr Lenaienfest feiern!
(Heraklit wird hier und im Folgendem, sofern nicht anders angegeben, zitiert nach: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch v. Hermann Diels, Hg. v. Walther Kranz. Erster Band. Dublin/Zürich: Weidmann 1966 [1903].)