Fritz Marquardt: Wahrhaftigkeit und Zorn
Herausgegeben von Wolfgang Behrens und Michael Laages
Paperback mit 192 Seiten, Format: 230 x 270 mm
ISBN 978-3-940737-06-9
Heiner Müller sagte über ihn: „Der Regisseur Fritz Marquardt (daneben gibt es den zum Schaden unserer Literatur unbekannten Autor, den Maler und Zeichner auf der Flucht vor dem Repertoirebetrieb und den Schauspieler im Film) gehört einer seit Kortner auf dem deutschen Theater seltnen Spezies an: er geht mit den Texten und, was in der Arbeit gelegentlich zu Zerreißproben führt, die erst nach der vierten oder fünften Aufführung sich als Geburtsakte zeigen, mit den Schauspielern um wie ein Bildhauer mit seinem Material, Gips Stein oder Bronze.“
Eine seltene Spezies ist er jedoch nicht nur durch seine Theaterarbeit. Einzigartig aber ist Marquardt durch die zornige Unbeugsamkeit und mitunter fast selbstzerstörerische Wahrhaftigkeit, die sein Leben prägte. 1928 geboren im Warthebruch in der Neumark, umfasst seine Biografie schon vor dem ersten Kontakt mit dem Theater mehr Stationen, als ein veritabler Bildungsroman benötigt: Landarbeiter, Traktorist, Lagerarbeiter, Neubauer im Oderbruch, Philosophie/Ästhetik-Student bei Wolfgang Heise in Berlin, Dorfzeitungsredakteur, Kreissekretär für Jugendweihe in Seelow, Bauhilfsarbeiter im Erdölkombinat Schwedt. Mitte der 60er Jahre findet Marquardt zum Theater, wo er Anstöße gibt und zum ständigen Stein des Anstoßes wird. Dennoch oder deswegen wird er zu einem der wichtigsten Regisseure der Berliner Volksbühne in der Ära Benno Besson. Später inszeniert er auch im Westen – in Amsterdam, Bochum und München –, ehe er nach der Wende gemeinsam mit Heiner Müller und Peter Zadek die Leitung des Berliner Ensembles übernimmt. Zum 80. Geburtstag Fritz Marquardts am 15. Juli 2008 legt Theater der Zeit einen Bild-Text-Band vor, in dem erstmals Persönlichkeit und Werk gewürdigt werden. In ausführlichen Gesprächen gewährt Marquardt Einblick in sein Leben und sein Schaffen,Weggefährten erzählen von der gemeinsamen Arbeit, zahlreiche Illustrationen (die auch den bildenden Künstler Marquardt vorstellen) und Dokumente vervollständigen das Bild. Und als Dreingabe enthält der Band den vollständigen Wiederabdruck der 1965 geschriebenen Erzählung „Widder im Dornbusch“ und bringt so auch den unbekannten Autor Fritz Marquardt zu Ehren.
Anreise oder
Der lange Weg zu Fritz
Die letzten zwei Kilometer sind stets ein Abenteuer der speziellen Art. Die Federbeine ächzen, die Ölwanne fürchtet sich, die ganze High-Tech-Kiste schaukelt wie früher die Mistkarren, die womöglich über dieses unsortierte Katzenkopfsteinpflaster gezogen worden sein mögen; von Pferden, an deren Hufen später der Schmied seine Freude gehabt haben dürfte. Fritz sagt, dass das Stückchen »Straße« von Wolfshagen her nach Amalienhof vor allem gelitten habe unter den Ketten der Panzer, die hier bei nächtlichen Übungen durch die Felder lärmten. Aber der Reihe nach.
Wie oft hat er uns die Wege erklärt, die hierher führen - zum Beispiel so: bei Gramzow runter von der Autobahn, dann durch Prenzlau hindurch und beim alten Stadttor (die alte Mauer ist auch noch zu sehen) links, auf der 198 bleiben. Dann kommt auf dem Weg Richtung Woldegk als größere Gemeinde vor Wolfshagen nur noch Dedelow; und auf die finale Rüttelstrecke geht's rechts ab in Wolfshagen - staunenswerte Attraktionen: die Kirche, die so hell beige gestrichen ist, dass sie schon kilometerweit vorher über die Hügel der Uckermark leuchtet, und ein Fischerhaus mit halbrundem Dach. Alternative: auf der Autobahn bleiben, die Stadtdurchfahrt Prenzlau meiden, am neuen Kreuz Uckermark Richtung Neubrandenburg, Rostock und letztlich Lübeck; und dann bei Strasburg Richtung Woldegk, auf halber Strecke wiederum links ab Richtung Amalienhof. Aber hier sind die letzten Kilometer das noch weit größere Abenteuer. Und es sind mehr. Erheblich mehr.
Dann das Ziel, in Amalienhof und am Dorfstraßenschild: hier geht's rein. Geschafft. Vielleicht steht Fritz am Tor, vielleicht schneidet er auch gerade ein bisschen an der Hecke rum. »Beschäftigungstherapie«, sagt er. Weit weg ist er hier von allem. Eines Tages hat er für den Besuch aus der Stadt in seinem Atelierzimmer oben im Haus ein Arrangement aus Fund- und Kunst-Stücken vorbereitet: eine Wurzel darunter, glatt und schön gewachsen wie Ebenholz. Er hat sie kaum bearbeiten müssen. Er arbeitet viel in und nach der Natur. Unter dem Fenster nach Südwesten, für die Sonne mittags und nachmittags, stehen die Figuren aus Ton und Erde, liegt das Kunsthandwerkerbesteck, mit dem er für sich die Natur und ihre einfachen Schätze bearbeitet. Hier hängen auch die Erinnerungsfotos aus mehreren Jahrzehnten Theater. An den Wänden die Bilder des Malers Marquardt, die es nur hier, nur bei ihm zu Hause zu sehen gibt.
Beschäftigungstherapie? Viel mehr als das - dies sind die anderen und ebenso künstlerischen Seiten eines Einzelgängers, dessen Fundus ja nie nur das Theater war. Auch das lernen wir in den Tagen bei Fritz. Wir: zwei Wessis, Herausgeber eines Buches über einen, der unter Ossis: korrekt unter Theatermenschen aus den neuen Bundesländern (und zum Teil auch darüber hinaus), einen ganz außerordentlichen Ruf genießt; einen, den seine Zeitgenossen und Weggefährten, immerhin die Meister und Größen des Theaters in der DDR und alle im Weltmaßstab viel berühmter als er, als unanpassbar und unbestechlich erfahren haben, als nicht vereinnehmbar für Spielchen und Strategien mit der Macht oder gegen sie, als Findling im politischen Strom der Zeit, in dem andere wie kleine Kiesel mal hierhin, mal dorthin gespült und schließlich ganz rund geschliffen worden sind. Wo er diesen unbeirrbaren Eigensinn her hat? Gewiss, das lernen wir, aus einer Biographie, die niemals hingeführt hätte zur Kunst, ins Theater, wenn nicht der Krieg und der utopienreiche Beginn der DDR sie unabwaschbar gezeichnet hätten.
So einen, und so etwas, hatten wir nicht drüben, zwischen den Kortners, den Zurückgekehrten, und den Käutners, den Dagebliebenen. Wir beide, die Herausgeber, haben ihn fremd und eigenwillig kennen (kennen!) gelernt: Wolfgang erlebte Fritz Marquardt anno 1990 in Frankfurt am Main bei dem Festival »Experimenta 6«, das ganz auf das Werk Heiner Müllers fokussiert war und wo Germania Tod in Berlin in Marquardts Regie gastierte. Bei einer Podiumsdiskussion trat Fritz als lautstarker und wild auf den Tisch schlagender Müller-Kritiker in Erscheinung, der dem theaterlebenslangen Freund vehement vorwarf, die eigene DDR-Biographie wegleugnen zu wollen; eine Idee, auf die Fritz nie gekommen wäre. Michael hat nur die späten Inszenierungen am Berliner Ensemble gesehen - Eyolf aber vor allem; und zwar ganz vorne auf der Sesselkante sitzend. Danach hat er sofort einen Freund angerufen, der gerade in Kalifornien zum engeren Kreise der Müller-Berater gehörte und mit für dessen Rolle als alleinverantwortlicher BE-Intendant plante. »Macht nichts ohne Fritz«, hat Michael dem Freund in der Fremde gesagt. Später hat Müller den Auftrag erteilt, Widder im Dornbusch, Marquardts einziges Stück (großer) Literatur, für die Bühne zu bearbeiten; und für die Uraufführung durch Fritz selbst. Die Bearbeitung gibt's, die Uraufführung durch den Autor gab es schon nicht mehr.
Aber so weit sind wir noch gar nicht. Jetzt sind wir erstmal da. Angekommen. Artus, der ungestüm kommunikative Dalmatiner, soll gefälligst die Fremden nicht anspringen (tut er aber gelegentlich doch, und das ist auch gar nicht so schlimm), Fritz führt uns zielstrebig hinauf unters Dach, Dorit hat sofort Kaffee parat und wird später jeweils fabelhaftes Mittagessen auftischen, teilweise mit Zutaten aus dem eigenen Garten, mal auch Hering, wie Fritz ihn macht. Dann erzählt Fritz, vermutlich so viel wie selten zuvor; immer in Sorge, dass er sich doch eigentlich an gar nichts erinnern könne, schon gar nicht an Namen - dann aber mit staunenswerter Genauigkeit en gros und en detail. Wobei die natürlich weder garantiert werden kann noch selbstverständlich ist - wir befinden uns im Steinbruch der Erinnerung, und also bewegen wir uns immer auch auf unsicherem, bröckelndem Grund. Aber wir sprechen ja auch nicht für die Wissenschaft, wir sprechen über ein Leben, das in außerordentlicher Konsequenz und Geradlinigkeit vorangegangen ist; Umwege und Irrtümer inklusive. Abweichende Meinungen und Ansichten über die Dinge selbstverständlich auch - und wenn Fritz etwas nur vermutet, setzt er gern ein »wahrscheinlich« dazu. Das klingt zuweilen gefährlich ironisch.
Was unsere Arbeit nachher war? Vor allem: eine Geschichte zu bewahren, eine Lebens-, Theater-, Kulturgeschichte, wie sie sich in einem fast vergessenen Land abgespielt hat, der Deutschen Demokratischen Republik. Fritz Marquardt ist ein Teil von ihr, sogar ein wichtiger - im Einverständnis wie im Widerspruch. Ansonsten haben wir organisiert - wer Fritz schon vorher kannte, weiß, dass er generell nicht viel sagt; und wenn, dann gern auch fragmentarisch. Wir haben nach den Gesprächen mit ihm und den Abschriften folgend zusammengefügt, was zusammengehörte, ergänzt, was offenkundig gemeint war, wir haben lesbar gemacht, was zuvor nur hörbar war. Wie übrigens auch bei vielen der Weggefährten, die über Marquardt Auskunft geben mochten - einige haben selber geschrieben, andere haben uns ihre Gedanken im Gespräch anvertraut; und also: vertraut.
Dafür danken wir. Es ist für Fritz. Wir stehen am Beginn eines Lebens.
Die Herausgeber, im Juli 2008
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Anreise oder Der lange Weg zu Fritzvon Wolfgang Behrens und Michael Laages | Seite 7 |
ERDELothar Trolle für Fritz Marquardtvon Lothar Trolle | Seite 9 |
FilmprotokollFritz Marquardt erinnert sich an sein Elternhaus und an die Lager in Sibirienvon Fritz Marquardt | Seite 11 |
Gesprächsprotokoll IFritz Marquardt über seine Ausbildung und die ersten Kontakte zum Theatervon Fritz Marquardt | Seite 19 |
Ein Stein, ein Kalk, ein Mackie MesserMartin Linzer erlebt Fritz Marquardts Zwischenstopp bei Theater der Zeit (1959 – 1961)von Martin Linzer | Seite 28 |
Dokument oder Widder im Dornbuschvon Fritz Marquardt | Seite 31 |
Der Text von Marquardt …Heiner Müller über Widder im Dornbuschvon Heiner Müller | Seite 56 |
Gesprächsprotokoll IIFritz Marquardts Anfänge als Regisseur in Parchim und Potsdamvon Fritz Marquardt | Seite 57 |
Fritz. Geister.Eine Erinnerung von Dimiter Gotscheffvon Dimiter Gotscheff | Seite 67 |
Das Unterste zuoberst kehrenWinfried Glatzeder findet in Potsdam einen Schauspiellehrervon Winfried Glatzeder | Seite 68 |
Der Hass-Impuls des UnderdogB. K. Tragelehn hat Fritz Marquardts erste Schritte im Theater miterlebt – und umgekehrtvon B. K. Tragelehn | Seite 70 |
Gesprächsprotokoll III»Meine beste Zeit« – Fritz Marquardts Volksbühnen-Jahrevon Fritz Marquardt | Seite 75 |
Ruckedigu, Blut ist im SchuhCorinna Harfouch und Hermann Beyer über Fritz Marquardtvon Hermann Beyer und Corinna Harfouch | Seite 101 |
Der stille AnarchistHeidi Brambach hat die Kostüme für Fritz Marquardts stärkste Inszenierungen entworfen – und ihn gerne provoziertvon Heidi Brambach | Seite 107 |
Fritz Marquardt probt Die BauernEmine Sevgi Özdamar hospitierte 1976 an der Berliner Volksbühne und erzählt davon in ihrem Buch Seltsame Sterne starren zur Erdevon Emine Sevgi Özdamar | Seite 113 |
Den Regisseur glaubt mir ja keinerEine Geschichte von Thorsten Becker, in der Fritz Marquardt eigentlich gar nicht wirklich vorkommtvon Thorsten Becker | Seite 120 |
Selbst Angeln ist ein GeheimnisGabriele Gysi über die Frage, warum gerade das Menschliche so unerklärlich istvon Gabriele Gysi | Seite 126 |
Mit dem Kopf durch die WandMoritz Marquardt über einen schwierigen Vater, über Trennendes und Gemeinsamesvon Moritz Marquardt | Seite 127 |
Störer seinFrank Castorf hat Fritz Marquardt mal die Treppe hinunter geworfen. Und würdigt ihn als Unikatvon Frank Castorf | Seite 130 |
Gesprächsprotokoll IVFritz Marquardt in Holland und am Berliner Ensemble der Wendezeitvon Fritz Marquardt | Seite 134 |
Die Legende vom MisthaufenTagebuchblätter des Dramaturgen Guus Rekers: Fritz Marquardt in Amsterdam 1980 – 1985von Guus Rekers | Seite 161 |
Der Marquardt-EffektHans Croiset war Marquardts holländischer Theaterdirektor – und als Schauspieler sein Eingebildeter Krankervon Hans Croiset | Seite 173 |
Gegen den Zeitgeist. Der Regisseur Fritz MarquardtHeiner Müller anlässlich der Inszenierung Germania Tod in Berlin am Berliner Ensemblevon Heiner Müller | Seite 174 |
Fritz kommtAlexander Weigel über einen Probenbesuch Marquardts bei Heiner Müllers Lohndrücker-Inszenierungvon Alexander Weigel | Seite 175 |
Einfach die Wand agitierenStephan Suschke erzählt aus Marquardts späten Jahren im Berliner Ensemblevon Stephan Suschke | Seite 177 |
In der Nähe von FritzDie Fotografin Ina Voigt beschreibt ihre Arbeitvon Ina Voigt | Seite 179 |
Lieber Fritz!Thomas Heise schreibt Fritz Marquardt einen Briefvon Thomas Heise | Seite 180 |
Kein Platz auf dem KarussellKlaus Pierwoß versucht zu erklären, warum Fritz Marquardt im Westen nie richtig ankommen konntevon Klaus Pierwoß | Seite 181 |
Abreisevon Wolfgang Behrens und Michael Laages | Seite 183 |
Anhang | Seite 186 |
Personenregister | Seite 187 |
Die Autorinnen und Autoren | Seite 189 |
Fritz Marquardt – Chronik | Seite 190 |
Fritz Marquardt: Wahrhaftigkeit und Zorn
Die digitale Pressemappe (ZIP-Format) beinhaltet das Cover und eine Detailbeschreibung des Titels.
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„Das Buch ist eine Liebeserklärung, natürlich steckt es voller Theatergeschichten.“Neues Deutschland
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