› Erstmalig und umfassend: Ulrich Matthes im Porträt
› Mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff
Der Berliner Schauspieler Ulrich Matthes, der zuletzt für seinen Onkel Wanja als Schauspieler des Jahres 2008 ausgezeichnet wurde, erzählt im Gespräch mit Michael Eberth von seinen Anfängen als Kinderstar, von der Abwendung des Pubertierenden vom „unerträglichen Narzissmus" der Schauspielerei, vom pädagogischen Eros, der ihn ein Studium der Germanistik und Anglistik aufnehmen ließ, vom Sog des Spielens, der ihn zum Theater zurückzog.
Er berichtet von der Ausbildung durch eine Schauspielerin, die in einer Zeit, in der Peter Stein an der Schaubühne in Berlin das Theater revolutionierte, am Theaterverständnis der zwanziger Jahre festhielt, vom Einstieg ins Berufstheater, wo er innerhalb weniger Jahre vom Hamlet der Feuchtwanger Kreuzgang-Festspiele über die Stationen Schauspielhaus Düsseldorf, Residenztheater München, Münchner Kammerspiele zum Protagonisten von Andrea Breths Schaubühne und einem der Stars des Deutschen Theaters aufstieg. Matthes schildert Begegnungen mit Regisseuren, die glücklich und weniger glücklich verliefen, und beschreibt die Kämpfe, die ein Schauspieler auszutragen hat, wenn er dem höchsten Anspruch an seinen Beruf gerecht werden will. Dabei zeigt er sich als ein hoch reflektierter Schauspieler, der die Offenheit für die neuesten Strömungen des Theaters mit dem Respekt vor dessen einstigen Werten verbindet, und der immun ist gegen die Moden, zu denen der Zeitgeist verführt.
Während ich dies schreibe, sitzt Uli Matthes im Zug nach Köln, auf dem Weg zu einer Matinee-Lesung aus Daniel Kehlmanns neuem Roman, gestern Abend war Onkel Wanja, heute Abend, rechtzeitig zurück, wird er Wer hat Angst vor Virginia Woolf? spielen. Warum arbeitet er so viel? - Ist er ein Streber? Nein. Hat er Liebeskummer? Kann sein. Ich glaube aber, er ist eher aus dem sittlichen Gefühl so fleißig, so viel wie möglich aus seiner Begabung machen zu müssen. Plus est en toi. Es steckt mehr in dir. Und es macht Spaß, es herauszuholen.
Ein Buch über ihn ist ein Muss, und zwar ein Text-Buch, kein Bildband. Denn bevor er Freund und Schauspieler ist, ist er Leser. Neugierig will er wissen, außerdem muss man einfach wissen, darf nicht ignorieren. Das ist seine Ethik, die er aus keiner Religion, aus keiner Ideologie und erst recht aus keiner konservativen Wertepolitik bezieht. Diese Ethik ist seine Natur. Er fordert was, von sich und den anderen, den Zuschauern und den Freunden. Das traut er sich einfach: zu fordern. Aus einem Selbstvertrauen heraus, einer inneren Sicherheit, die er sich vielleicht erworben hat, die ihm vielleicht angeboren ist, die auf jeden Fall auf ein gutes Elternhaus verweist. Das schließt nicht aus, dass er vielleicht mal Fehler macht, nicht bei der Interpretation der Rollen, eher bei der Wahl, aber nur, weil er sich eben traut, auch mal was auszuprobieren. Stimmt die Rolle, kenne ich keinen falschen Ton, meist ist er ernsthaft, kann aber auch sehr komisch sein, rührend und hilflos, nie sentimental, streng, aber nie verbohrt, fanatisch, seelenlos. Was er als Leser im Leben beginnt, setzt er auf der Bühne fort: gedankliche Auseinandersetzung mit unserer Geschichte meist, unserer menschlichen Natur, d. h. unserem Umgang miteinander. Seine Stimme zeichnet mit vollem Timbre nach, was sich durch sein Hirn windet und was sein Herz bis zum Zerreißen wendet. Er berührt uns unmittelbar, erleuchtet uns, indem er uns das Gefühl gibt, so klug zu sein wie er. Als er den Goebbels im Untergang gab und gleich danach den Priester im Neunten Tag, er also Täter und Opfer fast gleichzeitig darstellen musste, half ihm sicher der Eine, den Anderen auszutreiben. Als Darsteller musste er auf zwei völlig verschiedene Disziplinen zurückgreifen: Als Goebbels durfte und musste er sich aller virtuosen Tricks bedienen, die ein Schauspieler sich nur professionell erarbeiten kann, von der Dialektfärbung bis zur Körpersprache eines Behinderten, von der Schärfe des Ausdrucks bis zur Dummheit und Verständnislosigkeit eines windigen Geistes; in der Rolle des Priesters, der im KZ leidet, durfte er nicht eines dieser Mittel anwenden, auf nichts von dem zurückgreifen, was er „drauf hat", durfte nur einfach da sein und die Situation auf sich wirken lassen. Nur das Hungern konnte er sich mit Disziplin abverlangen, ansonsten musste er nur zulassen, ohne es zu kontrollieren, was seine Persona mit ihm machte. Weder er noch ich konnten wissen, was das und ob das etwas sei; beide mussten wir darauf vertrauen, dass die Kamera es aufzeichnen würde. Es war etwas, und sie hat es aufgezeichnet.
Als ich meine Lebensbeichte ein erstes Mal einfach nur runtergeschrieben hatte, brauchte ich eine Meinung, die mir nicht schmeicheln würde, aber auch die eines Freundes, der mich vor mir selbst schützen sollte und von dem ich geliebt werden möchte. Es war selbstverständlich Ulrich Matthes. Nun bin ich gespannt auf das Buch über ihn, noch gespannter, eines Tages sein Buch über sich zu lesen.
Volker Schlöndorff