Recherchen 47
Reality strikes back
Tage vor dem Bildersturm
Herausgegeben von Frank M. Raddatz und Kathrin Tiedemann
Paperback mit 208 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-50-1
Dieses Buch ist leider vergriffen
"Spannende Einblicke in die Welt des alternativen (dokumentarischen) Theaters" Neue Zürcher Zeitung
Auf den Brettern der Bühne ist das Verhältnis von Sein und Schein ins Wanken geraten. In den darstellenden Künsten steigt der Marktwert des Realen unaufhaltsam. „Reality“-Show-Formate werden für die Bühne adaptiert und die Beuys-Formel „Jeder Mensch ist ein Künstler“ in ein „Jedermann ist ein Schauspieler“ abgewandelt. In der aktuellen Inszenierungspraxis häufen sich die Indizien für einen fundamentalen Wandel der Grundlagen heutiger Theaterarbeit. Über den Umgang mit der Realität in den Künsten unter gewandelten Vorzeichen debattieren namhafte Philosophen, Film-, Theater- und Kunstwissenschaftler sowie Theatermacher.
Mit Beiträgen von Roland Barthes, Josh Fox, Boris Groys, Helgard Haug, Alexander Karschnia, Friedrich Kittler, Lukas Matthaei, Marianne McDonald, Frank Raddatz, Klaus Theweleit, Kathrin Tiedemann, Samuel Weber, Beate West-Leuer, Daniel Wetzel und Stefan Winter.
»Realität« - kaum ein Begriff durchzieht die Theaterdebatten der zurückliegenden Jahre mit solch einer Wucht. Jahrzehntelang war er sowohl in der künstlerischen Praxis als auch von der Kritik und Theorie zugunsten anderer Kategorien verdrängt worden. Nun schlägt »die Wirklichkeit« zurück und wirbelt die Gewissheiten, mit denen man gelernt hatte, sich im Zeitalter der Visualität und Virtualität zu orientieren, durcheinander: »Reality strikes back - Tage vor dem Bildersturm«. Unter diesem Motto hatte das Forum Freies Theater im Rahmen des Themenschwerpunkts »New Realities - Theater und Globales Wirklichkeitsdesign« im September 2006 zu einem zweitägigen Symposium nach Düsseldorf eingeladen, um mit Theatermachern und Theoretikern diesem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Theater steht als eine der traditionellen Künste schon seit längerem unter einem starken Druck, denn seit Erfindung des Kinos ist es in Konkurrenz zu immer neuen Attraktionen der Kulturindustrie geraten. Im Kampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer hat die Kunst die Illusion aufgegeben und ist in die Realität eingetaucht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollte man die Grenze zwischen Bühne und Publikum, Kunst und Leben einreißen, erklärte das Leben zur Kunst und die Straße zur Bühne. Was zunächst als ein Akt der Befreiung erschien, wurde als Aktionskunst oder Performance Art schnell zu einem reproduzierbaren Konzept, zum identifizierbaren Genre und hatte dadurch den ursprünglich revolutionären Impuls verloren.
Insofern mag es überraschen, dass seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts viele dieser Konzepte ein überraschendes Recycling durch eine Generation jüngerer Künstler erleben, die auf der Grenze zwischen Medienkunst, bildender Kunst, Film und Theater alle möglichen Formen von »Live Art« und ortsspezifischer Kunst produzieren. Der Gestus dieser Arbeiten ist jedoch ein anderer als in den sechziger und siebziger Jahren. Es geht heute darum, die Inszeniertheit und Künstlichkeit des Alltags bewusst erfahrbar zu machen. Die Frage nach dem »wer bin ich?« wurde in den neunziger Jahren überwiegend mit dem affirmativen Verweis auf künstliche Realitäten beantwortet, Identität als mediale Konstruktion begriffen und zelebriert. In den Performances dieser Jahre bestand die Freiheit darin, mit den Zeichen und Codes der Popkultur spielen zu können. Doch der spielerische Umgang mit der medialen Wirklichkeit und die Potenzierung ihrer Inszeniertheit im Theater bekam bald etwas Schales. Der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa wurden wie ein Einbruch der Realität erlebt, der die Erzählung vom Ende der Geschichte Lügen strafte und nach neuen Inhalten jenseits autobiografischer Erzählungen und mikropolitischer Zusammenhänge verlangte. Ungefähr zeitgleich mit dem Platzen der Dotcom-Blase im Frühjahr 2000 schlug auch in den Künsten eine bis dahin ungekannte Beschleunigung der Kommerzialisierung voll durch. Nicht nur in der IT-Branche, in allen Lebensbereichen landete man plötzlich auf dem harten Boden der Realität. Der Einsicht folgend, dass die New Economy zunächst die Arbeitswelt, aber nachfolgend die privaten Lebenszusammenhänge entscheidend prägen würde, wandten sich viele Künstler mit wachsendem Interesse den Veränderungen im Alltag und den Auswirkungen der neuen ökonomischen Realitäten auf die sozialen Zusammenhänge zu. Weiteren Auftrieb bekam der Realitäts-Diskurs in den Künsten durch die Versuche, die Ereignisse rund um den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 zu verarbeiten.
Zu beschreiben und zu begreifen, wie sich die Welt, in der wir leben, ändert, sich diesen neuen Realitäten zu stellen und das Theater für neue existentielle Fragen zu öffnen, ist das Anliegen einer Theaterarbeit, die sich größtenteils außerhalb der großen Theater-Institutionen ereignet. Hier werden mit dokumentarischen Formen, mit Interventionen in den öffentlichen Raum und unter Einbeziehung von Alltags-Experten neue Räume sozialer Interaktion erforscht.
Und doch, wie passte das alles zusammen? Die »echten Menschen«, die man gerade noch bei »Big Brother« für ihre Naivität gegenüber der Medieninszenierung wenn nicht verachtet so doch wenigstens bemitleidet hatte, sollten einen auf einer Theaterbühne auf einmal mehr interessieren als »echte Schauspieler«? Woher kommt dieser plötzliche Hunger nach Realität? Übernimmt das Theater damit eine Funktion der Medienkritik? Wird es dadurch politisch oder konstatiert es nur das Faktische? Beraubt es sich womöglich seiner wichtigsten Qualitäten, der Kraft zur Imagination, zur Herstellung einer anderen, möglichen Welt?
Die in diesem Band versammelten Beiträge stellen die Tendenz zur Realität im Theater in einen breiteren kulturellen Kontext und wollen den Horizont der aktuellen Debatte erweitern. Der erste Teil sondiert den Umgang mit Wirklichkeit und ihre medienspezifische Konstruiertheit in den unterschiedlichen Künsten: Roland Barthes' Aufsatz kritisiert die Verdrängung des Realen als Funktion des literarischen Realismus und benennt mit dem »Real(itäts)effekt« ein immer noch aktuelles Problem realistischer Kunst. Boris Groys rekapituliert den Siegeszug des »Ready-made« in den Künsten und erklärt, warum Künstler die Realität zunehmend lieber betrachten als eine eigene erzeugen. Samuel Weber erinnert mit Lacan und Derrida an die ambivalente und heterogene Verfasstheit der Wirklichkeit und beleuchtet ihre Schnittstellen zum Theatralischen. Klaus Theweleit setzt seine Untersuchung über das Verschwinden der Realität im Diskurs der Massenmedien fort und Beate West-Leuer untersucht Realitätsprinzip und Realitätsverlust in Psychoanalyse und Film. Der zweite Teil reflektiert die Ursprünge der Konstruktion von Wirklichkeit in der Antike: Friedrich Kittler zeigt, wie Theater die Wirklichkeit einengt, vergewaltigt und unterwirft, Stefan Winter, wie Theater auf dem Vergessen der Kommunikation mit den Toten aufbaut und Frank Raddatz untersucht das Theater in seiner den Tod verdrängenden Funktion bei Heiner Müller.
»New Realities« war nicht zuletzt eine Theaterwerkstatt, in deren Rahmen zwei Produktionen zur Uraufführung gebracht wurden, die die neuen sozialen und politischen Realitäten aus globaler und lokaler Perspektive bearbeitet haben und außerdem eine Begegnung mit unterschiedlichen Theaterkulturen ermöglichten: die eine, geprägt vom knallharten Überlebenskampf in New York, in der Theater so wenig öffentliche Anerkennung findet, dass die Akteure des Off-Off-Broadways gar nicht anders können, als genau diese entmutigende Ignoranz ihrer Kunst gegenüber als Freiraum umzudeuten; die andere das Ergebnis einer Reihe von Theater-Projekten und Recherchen mit Düsseldorfer Bürgern, die Theater, soziale Praxis und Kunst im öffentlichen Raum miteinander verbunden haben.
Das in New York ansässige internationale Ensemble der International WOW Company unter Leitung von Josh Fox, erweitert durch drei deutsche Schauspielerinnen, hatte sich eine Auseinandersetzung mit der neuen globalen Weltordnung vorgenommen. Vor allem die jungen amerikanischen Darsteller standen unter dem Eindruck der öffentlichen Debatten in den USA und in Europa über den Krieg im Irak. Es ging ihnen darum, eine kritische Position zur staatlich propagierten, idealisierten Rolle der USA als Frieden stiftende Weltmacht zu formulieren. Das szenische Tryptichon Death of Nations (Part V): Heimwehen war eine theatrale tour de force durch drei Zeitalter, drei Familienmodelle, drei Arten des Krieges und des Genozids und stellte jeweils unterschiedliche Modelle von »Nationbuilding« und deren Auswirkungen auf das Individuum in seinen sozialen Beziehungen und Familienverhältnissen dar. Dabei wurde ein großer historischer Bogen vom amerikanischen Sezessionskrieg zur Emanzipationserklärung Lincolns über das Ende des zweiten Weltkriegs und die deutsche Teilung bis zum »Krieg gegen den Terror« geschlagen.
Lukas Matthaei hatte aus einer Recherche mit Experten für »Lebensdramen«, Menschen, denen es gelungen ist, Brüche in ihren Biografien zu meistern, Geschichten und installative Settings im Stadtraum erarbeitet, in denen intime Begegnungen zwischen den realen Personen und Zuschauern möglich waren. Dieses Material wurde für Geschichten vom richtigen Leben 2 von Schauspielern dargestellt und in eine Inszenierung für die Theaterbühne der FFT Kammerspiele überführt, um so den Transfer von Geschichten aus der Wirklichkeit in den Kunstraum Theater zu leisten.
Neben einem Gespräch mit Lukas Matthaei und Josh Fox kommen im dritten Teil Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Produktionslabel Rimini Protokoll zu Wort, die deutlich machen, warum ihre Darsteller zunächst einmal Bühnentauglichkeit und theatrales Potential unter Beweis stellen müssen, bevor sie als »Alltagsexperten« den Weg in eine Inszenierung von Rimini Protokoll finden. Alex Karschnia, der diese Künstler-Gespräche geführt hat, beleuchtet in seinem eigenen Beitrag das Phänomen des »non-acting« noch einmal theoretisch und aus der Perspektive des politischen Theaters. Marianne McDonald, kalifornische Professorin mit einer großen Leidenschaft für das Theater und die klassische Antike, schlägt abschließend noch einmal den Bogen von der Antike zur Zukunft in Form eines Monologs, der anhand eines unkonventionellen Lebensentwurfs für die Synthese von Kunst und Leben plädiert.
Mein herzlicher Dank gilt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Symposiums und den Autoren, die zu diesem »Recherchen«-Band beigetragen haben, allen voran Frank Raddatz für die Leitung des Symposiums und die vielen produktiven Gespräche in der Vorbereitung zu diesem Projekt, Alexander Karschnia für die Moderation während des Symposiums und den andauernden Gedanken-Austausch zu »New Realties«, Lukas Matthaei für die kontinuierliche und konkrete Erweiterung der Spielräume des FFT, allen beteiligten Künstlern und dem Team des FFT, die den transatlantischen Austausch zwischen Düsseldorf und New York mit Leben erfüllt haben sowie allen, die an der Herstellung dieser Dokumentation beteiligt waren, Iskender Kökçe, der die Video-Interviews mit Boris Groys und Samuel Weber realisiert hat, Jana Deumelandt, Anna Eitzeroth und Dominique Tauch für die Transkription der Vorträge, sowie Janine Hüsch, Christina Lust und Christoph Rech für die redaktionelle Unterstützung. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Kulturstiftung des Bundes für die Förderung des Projektes »New Realities - Theater und Globales Wirklichkeitsdesign« sowie der vorliegenden Publikation.
Kathrin Tiedemann Düsseldorf, Oktober 2007
Kapitel | Seite |
---|---|
Kapitel | Seite |
I. EINSTÜRZENDE WIRKLICHKEITEN | |
DER REAL(ITÄTS)EFFEKTvon Roland Barthes | Seite 12 |
Boris Groys im GesprächZUR SITUATION DES GESCHMACKS IN UNSERER ZEIT oder Wie der Schauspieler zum Ready-made wirdvon Boris Groys | Seite 21 |
Samuel Weber im GesprächHOMELAND SECURITY Zum Theater des Heimischenvon Samuel Weber | Seite 36 |
NACH DEM VERSCHWINDEN DER WIRKLICHKEITvon Klaus Theweleit | Seite 54 |
AN DER GRENZE»eXistenZ« von David Cronenberg und »Mulholland Drive« von David Lynch aus psychoanalytischer Sichtvon Beate West-Leuer | Seite 75 |
II. IM RÜCKEN DES DIESSEITS | |
ÜBER DIE ANFÄNGE EINER ALTEN FEINDSCHAFTvon Friedrich Kittler | Seite 96 |
STIMME UND REPRÄSENTATIONZur Entstehung des Theaters aus dem orphischen Gesangvon Stefan Winter | Seite 112 |
DER PLANET DER TOTENZur Auseinandersetzung mit dem Tod und den Toten im Denken Heiner Müllersvon Frank M. Raddatz | Seite 124 |
III. GETTING REAL | |
THEATeReALITÄT: REALITY CHECK ON STAGEWirklichkeitsforschungen im zeitgenössischen Theatervon Alexander Karschnia | Seite 146 |
Helgard Haug und Daniel Wetzel im GesprächWIR SUCHEN DARSTELLER MIT ROLLEN, DIE SIE SCHON GEPROBT HABENvon und Daniel Wetzel | Seite 160 |
Lukas Matthaei und Josh Fox im GesprächVOM RICHTIGEN LEBENvon Lukas Matthaei und Josh Fox | Seite 175 |
THE LAST CLASSvon Marianne McDonald | Seite 175 |
Anhang | Seite 202 |
Autorinnen und Autoren |
„"Spannende Einblicke in die Welt des alternativen (dokumentarischen) Theaters"“Neue Zürcher Zeitung