Theater_Macht_Politik

Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert

von

1.3 Material und Methode

Eric Hobsbawm hat das 20. Jahrhundert auch das „kurze Jahrhundert“ genannt.47 Die Psychoanalyse Sigmund Freuds48 entwickelte sich von einer rein klinischen Behandlungspraxis zu einer Methode der Kulturund Institutionskritik.49 Viele Geisteswissenschaftler, Künstler und Schriftsteller haben die Psychoanalyse aufgegriffen und sich mit den Thesen Freuds vertraut gemacht. Die Paradoxie, die Übertragung und der Widerstand waren Begriffe, die nunmehr zum aktuellen Gedankengut wurden.50 Selbst in den Rechtswissenschaften wurden neue Forschungsfelder eröffnet51 und Max Herrmann erweiterte den Forschungsgegenstand der noch jungen Theaterwissenschaft. Sein Plädoyer für eine Erweiterung des Forschungshorizontes über die Aufführung hinaus und der Ruf nach interdisziplinären Diskursen unter Einbeziehung von Theatersoziologie und Theaterrecht52 ermutigten die jungen Forscher, die Kritik an der Institution Theater offen zu formulieren.53

Zwei Herangehensweisen bestimmen den Verlauf dieser Studie: Zum einen ist der historisch-soziologische Ansatz die Basis für die empirische Untersuchung und alle empirischen Befunde. Die methodische Herausforderung besteht darin, Formen der Literaturanalyse mit normativen und empirischen Methoden in Kontext zu setzen. Zum anderen begleiten Erkenntnisse der Kritischen Theorie die Begriffsbildung des Politischen und den Strukturwandel von Publikum und Öffentlichkeit.54 Zugleich sind die Darstellungen über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Theater stark geprägt vom Rechtspositivismus staatsrechtlicher Demokratietheorien Helmut Ridders.55 Der Staatsrechtslehrer Helmut Ridder hat die soziale Ordnung des Grundgesetzes zuerst aus dem Text der einzelnen Normen interpretiert, dabei immer darauf geachtet, die Auslegung als eine sprachliche Erkenntnismethode zu sichern und nicht mit dem politischen Willen einzelner Interessenvertreter zu verwechseln.56

Skeptisch gegenüber jedem unkritischen Empirismus, ist diese Arbeit eine empirische Studie. Der Anteil empirischer Forschung in der Theaterwissenschaft ist gering. Wir stoßen im Reich betriebswirtschaftlicher Diskurse57 auf zahlreiche empirische Erhebungen.58 Auch in den theaterpädagogischen Forschungsfeldern59 oder im Theatermarketing hat die Empirie Einzug gehalten. Doch das Selbstverständnis der Protagonisten des Theaters hinsichtlich ihres Wirkens und ihrer künstlerischen Utopien oder ihres (kultur-)politischen Selbstverständnisses sind der empirischen Forschung seither nicht zugänglich gewesen.60 Insoweit ist die hier unternommene Erhebung singulär.

Wer sich für eine empirische Erhebung im Rahmen einer theaterwissenschaftlichen Arbeit entscheidet, hat zu bedenken, dass die Erhebungsmethoden begrenzt sind. Die teilnehmende Beobachtung mag im szenischen Prozess indiziert sein; auf der Suche nach der Politik, nach der politischen Einstellung der Entscheidungsträger, sollten hier standardisierte Fragebögen oder geführte Interviews eine Hilfe bieten. Da alle Theaterintendanten befragt werden sollten, hätte die Form des Interviews die Möglichkeiten dieser Forschung gesprengt; so blieb als geeignete Form nur der „standardisierte“ Fragebogen.61 Zugleich bestand ein Problem, das in der Person des Forschenden begründet liegt: Intendant und Doktorand zugleich, da ist wissenschaftliche Distanz und Diskretion zwingende Voraussetzung für empirische Forschung. Folglich muss man offen sein in der Methodenwahl und zugleich garantieren und nachvollziehbar machen, dass die Erhebung anonym bleibt und nicht zum Gegenstand verbandspolitischer Auseinandersetzungen wird. Die Analyse der Akteure des Theaters (Kapitel 4) beruht auf der Auswertung aktueller Literatur zu einzelnen Berufsgruppen, ist aber auch das Ergebnis vielfältiger Formen von Feldforschung. Andreas Diekmann differenziert zwischen fünf verschiedenen Beobachtungsverfahren:

– Teilnehmende versus nicht teilnehmende Beobachtung
– Offene versus verdeckte Beobachtung
– Feldbeobachtung versus Beobachtung im Labor
– Unstrukturierte versus strukturierte Beobachtung
– Fremdbeobachtung versus Selbstbeobachtung62

Welche Methode eingesetzt wird, hängt auch von den ökonomischen Möglichkeiten des Forschungsprojektes ab. Die Untersuchungsziele hinsichtlich der Verhaltensweisen von Theaterfunktionären oder Theaterintendanten im Kontext ihres Verbandes habe ich eher bescheiden formuliert: die Beschreibung von Ritualen und Einflussmöglichkeiten auf einen etablierten Verband wie den Deutschen Bühnenverein lässt nicht allzu viele Spielräume. Übernimmt der Beobachter eine soziale Rolle im Beobachtungsfeld, so ist zu unterscheiden, ob diese Rolle eine aktive oder passive Rolle ist.63 Diekmann hebt hervor, dass die Grenzen zwischen Sozialreportage und wissenschaftlichen Beobachtungsstudien fließend seien.64

Im Rahmen dieser Arbeit spielen Erfahrungen eine große Rolle, die der Verfasser 1990 bis 1992 als Assistent am Berliner Ensemble in Gesprächen und Beobachtungen zusammengetragen hat. Vor allem Interviews mit Peter Palitzsch, Fritz Marquardt und Heiner Müller wurden in dieser Zeit zu „Notaten“ zusammengefasst. Weiterhin hat der Verfasser die Jahrestagungen des Deutschen Bühnenvereins von 1994 bis 2004 regelmäßig besucht und seine Beobachtungen protokolliert.

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