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Recherchen 17
TheorieTheaterPraxis
Herausgegeben von Hajo Kurzenberger und Annemarie Matzke
Paperback mit 378 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-29-7
Dieses Buch ist leider vergriffen
Der Dialog zwischen Theaterwissenschaft und Theaterpraxis inspiriert zunehmend die aktuelle Theaterszene und ihre Experimente. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, welcher theatrale Mehrwert entstehen kann, wenn Theorie und Praxis des Theaters sich treffen, sich aneinander reiben oder sich verbinden. Das gilt für neue Perspektiven der Aufführungsanalyse, für traditionelle und innovative theatrale Diskursformen wie für intermediale Experimente. Theorie-Theater-Praxis betreiben, das zeigen die theaterwissenschaftlichen Reflexionen dieses Bandes, Theatermacherinnen wie René Pollesch, Penelope Wehrli, Heiner Goebbels, Xavier Le Roy, Sebastian Nübling, Calixto Bieito, Luk Perceval oder Jürgen Flimm in kreativer Weise.
Analyse der Störungen. Theater als das Drama der Wahrnehmung
Thomas Oberender
"Spielte er Theater, weil das die Art ist, wie er Theater spielt,
oder war es echt, weil das die Art ist, wie er Theater spielt?"
Sam Taylor-Wood
Beobachter und Gestalter
Solange Rollenfächer und fixe Spielkonventionen das Theater prägten, gab es große Schauspieler, große Autoren und Patriarchen, aber keine Regisseure. Gewissheiten, die sich heute mit dem Wirken des Regisseurs verbinden, stifteten den Schauspielern früher die Überlieferung einer Form und Gebärde, die sie nicht unbedingt zu erfinden haben, sondern in erster Linie erfüllen. Erst als das Theater seiner eigenen Fremdheit misstraute, schlug die Stunde der Regisseure1. Gibt es im Nô-Theater Regisseure? Schwächt sich jedoch die Überlieferung mehr und mehr ab und wird die Darstellung zu einer Frage der individuellen Einstellung, der richtigen Perspektive, dann läuft unter diesen Umständen alles darauf hinaus, wie der Regisseur es sieht. Die Hauptaufgabe des Regisseurs ist das Sehen oder Zusehen - ganz offensichtlich, Reihe zwölf in der Mitte hinterm Pult sitzt Er, die Zentralfigur, deren Sichtweise das Geschehen prägt. Augenscheinlich steht die Qualität einer Aufführung in enger Verbindung mit der ›Vision‹ des Regisseurs. Auf unterschiedlichste Weise bewirkt und prägt der Regisseur das Entstehen einer Realität, deren Realitätsgrad durch nichts anderes mehr bestimmt ist als durch den Realitätssinn der Beteiligten: Es ist das innere Prozessieren selbst, das festlegt, was daran ›Realität‹ ist und was nicht. Innerhalb dieses Prozessierens verkörpert der Regisseur ein ›außerhalb‹, durch das die Kunst zur Selbstdistanz gelangt, da er der erste und ›oberste‹ Beobachter eines Geschehens ist. Kein Sprechstil ist heute kanonisch genug, um den Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst noch ähnlich verbindlich zu verbürgen wie einst der hohe Bühnenton eines Bernhard Minetti - mochte ein Regisseur darüber sagen, was er will, in dieser Sprechweise überlebten hundert Jahre Theatergeschichte. Wo jedoch das ›außerhalb‹ einer alltagsfernen, aber traditionell verbürgten Form abhanden kommt und die Darstellung sich dem artifiziellen Spiel der alltäglichen Selbst- und Verhaltenskonstruktionen annähert, ist es nun der Regisseur, der dem Spiel wieder Vertrauen in die eigene Fremdheit zurückerstattet.
Die Beobacht
ungen des Regisseurs werden zur differenzierten Selbstbeobach-tung des künstlerischen Prozesses. Innerhalb dieses Prozesses gewährleistet der Regisseur die permanente Kommunikation über Kunst, die die Kunst erhält und prägt. Wie der Beruf des Kritikers, obgleich zu einem späteren Zeitpunkt entstanden, ist die Tätigkeit des Regisseurs eine Begleiterscheinung der funktionalen Ausdifferenzierung einer Gesellschaft, für die es keine alle überstrahlende, alle überblickende und bestimmende Zentralinstanz mehr gibt: Die Bürger beobachten sich fortan selbst. Als ein Moment der sich herausbildenden bürgerlichen Öffentlichkeit entstand somit zunächst die professionelle Kritik - sie erlaubt sowohl Selbstdistanz des künstlerischen Prozesses wie auch die Propagierung seiner bestimmter Beobachtungsergebnisse. Ähnliches leistet innerhalb des Theaters später dann auch der Regisseur - Regisseure sind in diesem Sinne eingreifende Beobachter, die einen Arbeits- und Wahrnehmungsprozess so beeinflussen, dass die besonderen Arrangements des Hergezeigten in ihrer besonderen Gegenwär-tigkeit auffällig werden. Der sich selbst beobachtende Bürger macht sich im Theater ein Bild von sich und der ihn dabei beobachtende Regisseur ist es, durch den er sich dabei selbst sehen empfinden kann. Der »gottgleiche«2 Status des Regisseurs im avancierten Kunstbetrieb resultiert aus dieser - eine gemeinsame Gegenwart kreierenden - Justierung der Wahrnehmung und der Vermittlung von Spielregeln und Ereignissen innerhalb dieser Gegenwart durch die Regisseure. Und Kritiker3.
Geheimniszeit der Stücke
Regieführen lässt sich jedoch nicht nur als eine Beobachtungsfunktion beschreiben, sondern in mehrfacher Hinsicht auch als eine ›Inszenierung von Anwesen-heit‹ betrachten, d. h. zum Beispiel in einem ganz praktischen Sinne als die Bestimmung des Sichtbaren: Wie erscheint ein Schauspieler, wann bekommt er Licht, wo ist Musik - es ist letztlich die in der Probe unendlich komplizierte Frage nach dem, was man überhaupt sieht und was sich darin zeigt. Denn was passiert eigentlich dort, wo keine Zuschauer sind? In der Geheimniszeit der Stücke. Im Präsens des Bühnengeschehens wird mit dieser Zeit gespielt: sie enthüllt sich z. B. im Spätwerk von Henrik Ibsen4 als die zur Anwesenheit gebrachte Erlebnisgeschichte der jeweiligen Figur bzw. des Autors, hingegen sie bei Friedrich Schiller eher die historische Vorgeschichte oder sie bewegende Idee einer Gemeinschaft ist. Somit entsteht durch die bürgerlichen Autoren, und sehr viel später durch die Regisseure, eine spezielle Sicht auf die eigene Zeit als Durchschein anderer Zeiten und miteinander rivalisierender Motive. Wenn in Schillers Don Carlos der Titelheld auf der Bühne erscheint, überblenden sich in seiner Anwesenheit die unterschiedlichsten Interessen und Motive, je nachdem, ob man in dem Mann nun den Sohn, Liebhaber, Freund, den Patrioten oder Wahnsinnigen sieht. In den Texten und Aufführungen neueren Typs, auf die weiter unten noch näher eingegangen werden soll, wird dieser Aspekt radikalisiert: Die dramatische Kunst wird durch diese Akzentverschiebung zur Kunst der aisthesis - das Drama verlagert sich aus dem konfliktgeladenen Beziehungsfeld zwischen Figuren in das Spannungsfeld zwischen Bühne und Zuschauer. Das Drama verlagert sich vom Körper in den Kopf - das Sehen.
Anschaulich lässt sich dies an Friedrich Schillers Drama Don Carlos beschreiben - einem Stück aus der Entstehungszeit des Kapitalismus als Kultur, das nicht zuletzt ein Drama der Weltanschauung im wörtlichsten Sinne ist.
Empathie als Lust am Spiel mit der Wahrnehmung
Interessanter Weise dramatisiert Don Carlos als Stück den Vorgang des Sehens und ist als solches ein szenisches Plädoyer für die Fähigkeit zur Empathie. Denn die neue Weltanschauung, für die Schiller in seinem Drama u. a. wirbt, gründet auf die Fähigkeit, sich im konkreten Blick auf Menschen und Verhältnisse »in den Zustand eines anderen Menschen einfühlen zu können. Im Angloamerikanischen bedeutet Empathie das Vermögen, sich selbst in ganz anderen Rollen vorstellen zu können, d. h. in Gedanken andere Rollen auszufüllen, auch die von ›Höheren‹ und Mächtigeren.«5 Schiller schrieb nicht nur ein Stück, in dem der Bürger sich darin übt, die Welt aus der Position des Königs zu betrachten, sondern auch umgedreht die Aristokraten aufforderte, die Welt mit den Augen der Bürger zu sehen und entsprechend zu erleben.
Doch nicht nur die Politik wird so zum Drama der Wahrnehmung, sondern auch die Liebesgeschichte des Dramas: Prinzessin Eboli ist eine Frau, in die sich Don Carlos unmöglich verlieben kann, da er sie in der Gesellschaft seiner Stiefmutter und ehemaligen Verlobten Elisabeth nicht einmal wahrnimmt. Durch Ebolis List wird er dennoch in ihre Nähe gelockt, doch all ihre Verführungskünste scheitern an seinem Desinteresse. Da offenbart sich die unglückliche Prinzes-sin dem Infanten schließlich in hilfloser Verzweiflung und nachdem sie nun aufhört, ihm etwas ›vorzuspielen‹, erschaut Don Carlos ihr verzweifeltes, aber eben darin natürliches oder »reines« Wesen und kann er von der inneren Schönheit her auch endlich die äußere sehen. Er empfindet die Prinzessin plötzlich genauso liebenswert und attraktiv wie er später, am Ende des Stückes, abrupt von der Liebe zu seiner Stiefmutter absehen wird, wenn er sich endlich zur politischen Tat entschließt, wodurch auch alle körperlichen Reize Elisabeths ihre Attraktivität verlieren. Schiller führt in diesen Szenen des Stückes in mehrfachen Wendungen vor, dass es die Art der Betrachtung ist, die über das Aussehen der Person entscheidet, aber mehr noch über deren Wesen. In dieser realitätsstiftenden Kraft des Blickes wurzelt für Schiller das Wesen des Auges, wie er es in einem kunstvollen Rätsel umschreibt:
Kennst du das Bild auf zartem Grunde,
Es gibt sich selber Licht und Glanz.
Ein andres ists zu jeder Stunde,
Und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Raum ists ausgeführet,
Der kleinste Rahmen fasst es ein,
Doch alle Größe, die dich rühret,
Kennst du durch dieses Bild allein.
Und kannst du den Kristall mir nennen,
Ihm gleicht an Wert kein Edelstein,
Er leuchtet, ohne je zu brennen,
Das ganze Weltall saugt er ein.
Der Himmel selbst ist abgemalet,
In seinem wundervollen Ring,
Und doch ist, was er von sich strahlet,
Noch schöner, als was er empfing.
Dies zarte Bild, das in den kleinsten Rahmen
Gefasst, das Unermessliche uns zeigt,
Und der Kristall, in dem dies Bild sich malt,
Und der noch Schönres von sich strahlt,
Er ist das Aug, in das die Welt sich drückt,
Dein Auge ists, wenn es mir Liebe blickt.6
Wie eingangs bereits angedeutet, lässt sich Schillers Don Carlos auch als ein Stück interpretieren, dessen eigentliches Drama das Sehen ist - das Sehen des anderen, die Wahrnehmung des Gegenüber. Der Akt der Wahrnehmung ist dabei, wie es das Augenrätsel ausdrückt, mehr ein Geben als ein Nehmen: Was vom Auge »strahlet«, ist mehr und Schöneres, »als es empfing«. Es ist ein aktives Sehen des Herzens und des Verstandes, von dem Schiller hier spricht und das er in seinem Drama als die Entdeckung des »Menschlichen« inszeniert. Durch den sozialen Stand hindurch, durch Nationalität und das Geschlecht hindurch inszeniert Schiller den Blick oder die Blindheit für das Wesen des »Menschen«, der »Menschheit«, des »Menschlichen« oder der »Menschenrechte«. Mit diesen Begriffen ermächtigte sich der Bürger selbst zu einem nach Einfluss strebenden Stand und Schiller dramatisiert die Einführung dieser neuen Weltanschauung7 als eine Frage der rechten »Einstellung« oder »Vision«.
Es ist in Don Carlos das Spiel der Augen, die sich prüfen, zu Boden schauen, die Regungen des Gegenübers lesen, die sich mit Tränen füllen und gerade dadurch sprechen. Das Auge ist für Schiller nicht nur der Empfänger des Sicht-baren, sondern selbst ein sprechendes Organ. Es ist in diesem Zusammenhang ein bemerkenswertes Paradox, das gerade dadurch, dass ein Tränenschleier den Augen die Sicht nimmt, ihre höchste Einsicht bewiesen wird: »Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen,/Sein Aug' ist trocken, ihn gebar kein Weib -/O, zwingen Sie die nie benetzten Augen,/noch zeitig Thränen einzulernen, sonst,/Sonst möchten Sie's in einer harten Stunde/Noch nachzuholen haben.« (Don Carlos V/3)
Das Auge, wenn es »mit Liebe blickt«, wird das Liebenswerte sehen - eben das demonstriert Don Carlos in der erwähnten Szene mit Prinzessin Eboli, die er plötzlich, nachdem ihre Worte seine Einstellung zu ihre gewandelt haben, auch in ihrer berückenden Sinnlichkeit wie zum ersten Mal sieht. Friedrich Schiller schuf mit Don Carlos ein Drama der Wahrnehmung, der gegenseitigen Verkennungen und Blindheiten, in dem die bürgerliche Erfindung des »Menschen« und seiner »Menschenrechte« eine Frage der konkreten Anschauung oder egalitären Perspektive wurde. Vielleicht ist diese konkrete Thematisierung der Wahrnehmung, bzw. der Herstellungs- und Täuschungscharakter des Sehens, wie er z. B. auch bei Kleist thematisiert wird, wenn in Amphytrion der Mensch Gott begegnet8, als Thematisierung der aisthesis eine konstitutive Komponente der »bürgerlichen« Selbstentdeckung.
Kultureller Kapitalismus und die Interpretation des Sichtbaren
Doch wie lässt sich das Sehen als »Herstellung« des Sichtbaren zeigen? Wodurch relativiert sich der »gewöhnliche Blick« und vergegenwärtigt sich den welterzeugenden Charakter der Wahrnehmung, von dem Schiller in seinem Augen-Rätsel als Hoffnung sprach? In seinem Aufsatz Der Akt des Opferns plädiert Jacques Derrida dafür, »dem Unsichtbaren den Platz im Herzen des Sichtbaren zu lassen, dem Nichttheatralischen - wie beim coup de théatre - im Herzen des Theaters«. Diese Bemerkung lässt sich als eine Aufforderung verstehen, gewisse Störungen nicht zu beseitigen, die im Sichtbaren daran erinnern, dass es wiederum selbst gesehen wird oder wurde und also auch etwas »Unsichtbares« zeigt. Derridas Aufforderung wirkt um so dringlicher, da das Sehen nicht nur im Subsystem der Kunst sondern innerhalb unserer Kultur generell zum dominierenden Wahrneh-mungsmodus und privilegierten Sinn wurde.
Der Kapitalismus als Kultur9 scheint als unabgeschlossener Selbstfindungs-prozess seiner Bürger eng mit der Dramatisierung von Wahrnehmungsprozessen verbunden zu sein - das Beispiel der Einforderung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten in Schillers Don Carlos sollte die Verbindung mit der Problematisierung von Wahrnehmungsprozessen, sprich der Erziehung zur Empathie, andeuten. Zugleich scheint der Kapitalismus als Kultur aber auch unablässig an der Umwandlung aller kultureller Felder in Marktsegmente und marktgängiger Waren zu arbeiten - von der Bildung bis zur Sexualität, nach Jeremy Rifkins verwandelt sich der Kapitalismus in einen »kulturellen Kapitalismus«, in dem der Bürger irgendwann jede Form von Erfahrung kauft, da er sie nur in »Gesellschaft« machen kann10.
Nun wäre dies aber lediglich ein penetranter und schnell durchschauter Vor-gang, wenn dieser Prozess sich nicht geschickt der Wahrnehmung seiner Wahrnehmbarkeit entziehen würde und zwar so gut, dass gerade seine Produktion von Schönheit darüber hinwegtäuscht, dass wir den Marktplatz oder die Shopping-Mall fast nie mehr verlassen: »Die Schönheit, um die es hier geht«, so Reinhard Knodt über das Prinzip »Mall«, »ist ja auf ›Natur‹ bezogen, die nun als Form des geglückten Lebens veranstaltet wird. Wer eine Mall betritt, hat auf zunächst befremdliche, aber dann auf um so naheliegendere Weise tatsächlich ›Schönheit‹ um sich. Der Besucher fragt sich unwillkürlich oder vielleicht zu Recht, sind das noch Waren? Was wären diese Gegenstände aber, wenn es keine Waren wären? - Kunstgegenstände als Bestandteil einer sich hier abspielenden Performance?«11
Der Kapitalismus als Kultur - die Shopping-Mall ist hierfür ein drastisches Beispiel - ist in gewissem Sinne eine permanente Performance oder, wie es Guy Debord nannte, eine »Gesellschaft des Spektakels«, deren geheime Regie sich der Wahrnehmung nahezu entzieht, handelt es sich doch dabei scheinbar um die »invisible hand« des Marktes selbst.
Situationisten - Gegenspektakel in der Gesellschaft des Spektakels
Zwischen 1957 und 1972 bildete die Internationale Situationniste um Guy Debord eine radikale Internationale aus Aktionskünstlern, Malern, Architektur- und Revolutionstheoretikern, deren Theorien und Aktionen in einem gewissen Sinne ähnlich hellsichtig waren wie die Studien und Prognosen des zur gleichen Zeit arbeitenden Marshall McLuhan in den USA. Europas Nullpunkt der Kultur, wie er am Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht schien, wurde bald schon überstrahlt von der Entstehung und Ausbreitung eines amerikanisch geprägten, liberalen und konsumorientierten Lebensmodells, in dem die Situationisten schon Mitte der fünfziger Jahre die Grundzüge einer Gesellschaft des Spektakels entdeckten, deren Einladung und Zwang zur Verdinglichung12 man sich widersetzen wollte.
»Der auf der Entwicklungsstufe des Warenüberflusses angelangte Kapitalismus«, so Guy Debord, »verteilt seine Glücksvorstellung und folglich die des hierarchischen Erfolgs in unzählige Gegenstände und Gadgets, die so viele Zugehörigkeiten zu verschiedenen Schichten der Konsumgesellschaft auf wirkliche und illusorische Weise zugleich zum Ausdruck bringen. Das Spektakel der verschiedensten zu verkaufenden Gegenstände fordert einen auf, verschiedenste Rollen zu spielen, es zielt darauf ab, jeden dazu zu zwingen, sich im effektiven Konsum dieser überall verbreiteten Produktion zu erkennen und zu verwirklichen.«13
Auf diesen Rollenzwang des spektakulären Warengebrauchs antworteten die Situationisten mit der Konstruktion von Gegenspektakeln, die die »globale Verweigerung des kleinen Angebots an erlaubten Verhaltensweisen«14 unterstützen. In den Texten und Aktionen der Situationisten wird daher mit und an unserer lebendigen Wahrnehmung operiert, um den Zuschauer zu einem anderen Ver-halten zu befähigen: Mit Seitenblick auf Brecht15 und seine Verfremdungstech-niken und auch mit neugierigem Blick auf Duchamps Arbeiten, entwickelten die Situationisten zum Beispiel eine »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfrem-dung«16, d. h. Techniken der Collage, des Plagiats oder der Täuschung, mit deren Hilfe Aussagen ins Bewusstsein gehoben werden können, die im reibungslosen Kontext ihrer üblichen Bekanntmachungen so nicht wahrgenommen werden. Diese Techniken, die zum großen Teil Wahrnehmungskomplikationen und aggres-sive Verblüffungen bewirken, erzeugen Situationen, in denen die Beteiligten aktiv Erfahrungen machen. Es ist also nicht nur das Anliegen der Situationisten, sich der kulturellen Vereinnahmung des Kapitalismus zu entziehen und somit ihr politischer Ansatz aller ästhetischen und theoretischen Projekte, der heute wieder so adäquat und dringlich wirkt, sondern auch die damit verbundene Konzeption von Wahrnehmungsverschiebungen, das Interesse der Situationisten an Phäno-menen wie Stimmung, Ereignis (Kontingenz) und Spiel, die als Theorie immer anwendungsorientiert waren und tatsächlich revolutionär motiviert.
Scheitern als Chance: Christoph Schlingensief verstrickt sein Publikum noch immer zuverlässig in diese Abgründe der Hassliebe, in denen man die eigenen Konditionierungen ebenso zu hassen lernt, wie man sich verzweifelt an sie klammert. Die situationistische Theorie, misst den Sinn jeder Kunstausübung an der Qualität einer solchen Erfahrung und verstrickt den Zuschauer in eine reale Situation, deren Bewertung mit einer Komplikation verbunden ist. Wenn der Zuschauer z. B. in Frank Castorfs Inszenierung von Dostojewskis Erniedrigte und Beleidigte genötigt wird, sich zwischen der Pornografie auf der Werbefläche und den wahren Worten eines zeitgleich vorgetragenen Monologs zu entscheiden, entsteht ein reales Dilemma, das der Zuschauer als eine Realität erlebt, die er teilt, im Theater wie im Leben. In solchen Momenten setzt sich eine konkrete Realität an die Stelle eines stilistischen Realismus, der auf etwas außerhalb Liegendes verweist, das er nur vertritt, statt es zu sein. In Erniedrigte und Beleidigte oder in Christoph Schlingensiefs Zürcher Re-Inszenierung von Hamlet sind genau jene »plötzlichen Erneuerungen des emotionalen Klimas« im Gange, von denen die Situationisten in den ahnungsvollen Fünfzigern und Sechzigern sprachen.
An die situationistische Zuversicht, die Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen 1967 prägte, also jene Hoffnung, Gegenspektakel zu inszenieren, die die »Momente echten Lebens vermehren, damit sie sich auf die Gesamtheit des täglichen Lebens ausdehnen«17, an diese alte Hoffnung erinnert heute das spektakuläre Theaterberserkertum von Christoph Schlingensief, dessen Wahlkampfreisen und Inszenierungen mit Laien die Grenzen zwischen Kunst und alltäglichem Leben immer wieder hinter sich und »Momente echten Lebens« tatsächlich entstehen lassen. Doch von erstaunlicher Gegenwärtigkeit sind die Texte der Situationisten nicht nur durch »situationistische Theaterpraxis«, die sich in den neunziger Jahren herausgebildet hat und wahrscheinlich nicht zufällig bei jenen Theaterkünstlern zu beobachten ist, deren Wirken am deutlichsten politisch motiviert ist - Christoph Schlingensief, Frank Castorf oder Schorsch Kamerun zum Beispiel. Neben diesem Praxis-Revival gibt es auch viele Aspekte innerhalb der theoretischen Überlegungen von Guy Debord oder Raoul Vaneigem, z. B. zum Spielbegriff, zu performativen Aspekten der Macht, des Konsums usw., die nicht zuletzt angesichts des »Theaters des Terrorismus«18 heute unvermittelt aktuell wirken.
Der Theaterinstinkt dieser Avantgardebewegung zeigt sich darin, dass ihre zentralen Konzepte - die »Gesellschaft des Spektakels« und die »Konstruktion von Situationen« - theatralischer Natur sind und das emanzipatorische Ziel nicht abzukoppeln ist vom situationistischen Umgang mit der Nötigung, soziale Rollen zu spielen.
Während man das Klassische am Drama als eine Anhäufung von Antagonismen beschreiben könnte, deren Bündelung eine teleologische Zwangsläufigkeit entwickelte, die auch über Herrscher herrschte, weil man den mit ihnen verbundenen Rollenbildern nicht entkommen konnte, gerät genau diese Erscheinungs- und Wahrnehmungssicherheit unter den Bedingungen der (insbesondere spät-) bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr ins Schwanken.
Das eigentliche Drama ist nun das Drama der Wahrnehmung, die Komplikation des Blicks, der durch die avancierten Dramaturgien der Kunstwerke in das Geschehen hineingezogen wird. »Die Kunst als soziales System baut sich auf und erhält sich als fortwährende Kommunikation über Kunst. Der Schwerpunkt verlagert sich vom Hersteller zum Zuschauer, von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik. Die Wahrnehmung integriert das, was sie wahrnimmt, und sie integriert in das, was sie wahrnimmt. Der Beobachter steht drinnen, ehe er sich versieht. Seine Beobachtung wird zur Selbstbeobachtung des sozialen Systems.«19
Pausenlose Welterzeugung - Theater der Situationen
Vielleicht war es tatsächlich Samuel Becketts Stück Warten auf Godot, das innerhalb der dramatischen Literatur erstmals das Drama vom Inhalt des Geschehens in den Bereich die Selbst-Wahrnehmung des Geschehens verschob. So zeigte das Stück, wie gerade das Nicht-Erscheinen von Godot die Menschen zur Inszenierung verdammt. Die Provokation des berühmten Textes von einst scheint heute dem milden Lächeln über einen beliebten Klassiker gewichen zu sein. Die erzähl-technologischen Erfindungen, die Beckett mit diesem Werk 1948 vorstellte, wurden in abgewandelter Form zum Konsens des heute von allen Geschätzten. Zwischen zwei Sätzen geht die Sonne auf und unter, der Ort wurde zum Raum und bleibt vage. Beckett spielt mit der Intertextualität seines Stückes, der Unschärfe seiner Behauptungen, die sich erst durch die Interpretation oder Beobachtung ›entscheiden‹ lassen und er schafft eine ›Schwellensituation‹ des Dargestellten, in dem jedes Geschehen sowohl triviale wie auch erhabene, hohe wie auch niedrige Züge hat. Seine Erfindungen von Bildern und Technologien, die das ›sicher‹ Gegebene in den persönlichen Entscheidungsraum verbannt, statt es ›draußen‹ zu verankern, im Reich der Werte, Ideen, des Glaubens, all diese von Beckett gekappten Gewissheiten machen Warten auf Godot zu einem Urtext der sich selbst bezweifelnden, belächelnden und betrauernden Moderne.
Beckett schrieb Figuren, die sich spielend an das Leben erinnern, es Runde für Runde erfinden, dazwischen lauern Leere und Langeweile. Was heißt es, lebendig zu sein? Spielchen spielen. Jedes Spielchen errichtet eine Welt, erzeugt einen glaubhaften Lebensraum für die Dauer eines Spiels. Spiele erzeugen Welten, an denen man teilhat, weil man sie erschafft. Kein Durchstoß mehr zu etwas Realem, außerhalb liegt nichts.20 Beckett lässt seinen Figuren nichts, woran sie sich halten können, ausgenommen das, was sie erzeugen. Die üblichen Verdächtigen: Raum, Zeit, Biografie, die Geschichte im Allgemeinen, nichts davon lässt sich mehr feststellen, aufklären, heranziehen, die Komplizen unserer Gewohnheit entziehen sich dem Zugriff. Dass Godot nicht kommt, ist der Anlass für die pausenlose Welterzeugung: Die Figuren kreieren, was de facto nicht außerhalb von ihnen sein kann. Sie wären tot, könnten sie nicht spielen, dass sie lebendig sind. Das Spiel als vollkommene Immanenz, als trostloser, da in keiner Weise über sich hin-ausweisender Vorgang, gibt dem sinnlosen Leben eine Bedeutung - man spielt eine Rolle. Im doppelten Sinne: Im Sinne des Vorhandenseins wie im maßgeblichen Sinne dessen, mit dem sich plötzlich eine (in der Verkörperung sichtbar werdende) Bedeutung verbindet.
Eine Rolle zu spielen, heißt bei Beckett zunächst, sich erinnern. Er-Innern als sich ins Innere wenden und es nach außen tragen - selbstgemachte Welten zeugen. Jedes Spiel ist in diesem Sinne ein Urlaub vom Tod. Wer Spielchen spielt, lebt. Wer mit seiner Rolle nicht mehr spielt, spielt keine Rolle mehr und stirbt - in den Augen der anderen und im eigenen Herzen. Diese schmerzhafte und komische Selbst-Vergegenwärtigung des »vorübergehenden räumlichen Arrangements von Ereignissen, die in ihrer besonderen Gegenwärtigkeit auffällig werden« (Martin Seel), ist in Warten auf Godot also tatsächlich eine »Urszene« für die Selbstreflexion der unhintergehbaren Inszenierung des Selbst und seiner Welt. Von historischen und sozialen Bindungen befreit, vagabundieren durch dieses »Theater der Situationen« die Bruchstücke einstiger Gewissheiten und Mythen-versatzstücke genauso wie die Trümmer früher fest geschlossener Wissensgebäu-de. Einer vereindeutigenden Lesart entzieht sich das Stück und verweist immer wieder auf sein Prozessieren: Es hält keine andere Wahrheit bereit als die Erfahrung, die es mit der Abwesenheit bzw. der Inszenierung von Anwesenheit, zu machen anbietet.
In dieser Wechselbeziehung zwischen der Abwesenheit des »Anderen« und der Inszenierung von Anwesenheit liegt vielleicht das Wesen der Dramatisierung des Wahrnehmungsprozesses. Der »Horror der Relativität« des Außen und des Selbst, der seit Becketts Warten auf Godot die avancierte Dramatik prägt, ist das Drama des Sehens, das zunächst, wie eingangs am Beispiel von Friedrich Schiller angesprochen, als eine Dramatisierung der Wahrnehmung begann, bis der Herstellungscharakter der Wahrnehmung schließlich eine solche Bedeutung gewann, dass es keine Dispositionen jenseits der Wahrnehmung mehr zu geben scheint, und die Wahrnehmung der Wahrnehmung selbst zum Drama wurde.
Unschärfeerfahrungen
Ein Text wie Becketts Warten auf Godot oder eine Inszenierung wie Erniedrigte und Beleidigte von Frank Castorf, in der sich das Gezeigte dauernd verbirgt, bzw. in der medialen ›Übertragung‹ zeigt, erzeugen Unschärfe-bereiche, die funktionieren wie Gerhard Richters Vorhang-Gemälde aus den sechziger Jahren: Der Betrachter merkt, indem die Falten des gemalten Stoffes vor den Augen zu flirren und zu verschwimmen beginnen, dass man Abstand braucht, um den Vorhang ›von ganz nah‹ zu sehen. Zu sehen ist jedoch nur ein Vorhang - er öffnet sich nicht und gibt nichts preis außer einer Erfahrung, die wir mit dem Sehen selbst machen. Botho Strauß schrieb anlässlich einer Debatte über Schlusschor im Hinblick auf seine Stücke im allgemeinen, in ihnen sei »nichts klar« - vielmehr sei in ihnen »die Unschärfe selbst der Held, wie es meiner Meinung nach gar nicht anders sein kann, will man der Schwankungsbreite des Realen, einschließlich Gesinnung, Gesittung, Gefühl, nur annähernd Wahrneh-mungsgerechtigkeit widerfahren lassen. Schlusschor handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht ›sehen‹ kann.«21
Botho Strauß' Stücke erzeugen jene Unschärfezonen, in denen »sehen« zugleich »entscheiden« heißt - von Trilogie des Wiedersehens bis zu Pancomedia und Unerwartete Rückkehr schrieb er absichtsvoll und sehr raffiniert Stücke über das Sehen, den Augenblick oder das Versehen. Der Text inszeniert Möglichkeiten, Ansichtssachen und es ist diese »Übergesichtigkeit« der Leute, die zum Drama des Textes wird. Botho Strauß verlagert das Drama in den Akt des Sehens und wenn auch die Figuren klassischer Texte ihre enorme Lebensdauer zumeist diesem schillernden Hof an Deutungsmöglichkeiten bzw. der pointierten Übertreibung bestimmter Grundtypen des Menschlichen verdanken, so rührt das Verblüffende heutiger Texte dennoch von der Ausstülpung dieser Wahrneh-mungsdivergenzen ins Riesengroße, ja, man könnte sagen, der besondere Umstand, dass die Selbstwahrnehmung der Wahrnehmung in den Unschärfe-zonen zu etwas Konstitutivem wurde, ohne dessen Erfahrung das Allgemeine nicht mehr beschreibbar scheint. So z. B. in jenem zweiten Teil in Neil LaButes Stück Bash - Eine Meute von Heiligen: Zwei Menschen sprechen miteinander, erzählen ihre Sicht ein und der selben Geschichte und man weiß nicht, ob sie sich in dieser Situation gegenseitig hören oder nicht. Das Drama dieser Situation ist nicht die Konfrontation, sondern die Ungewissheit über die (Wahrnehmungs-) Beziehung der Figuren zu einander: Hat die Frau bloß nicht gehört, dass der Ring, den sie am Finger trägt, von einem Ermordeten stammt und ihr Freund, der ihr den Ring gab, dessen Mörder ist, oder findet sie es, im Gegenteil, unausgesprochen sogar gut, oder, auch das ist durch die Unbestimmtheit der Situation als dritte Variante denkbar, befinden sich die erzählenden Personen gar nicht im selben Raum? Auf die Mehrdeutigkeit der Situation muss der Zuschauer oder Beobachter mit einer Entscheidung reagieren der Beobachter legt fest, was in dieser Beziehung passiert, bzw. realisiert selbst eine Art von ›Dilemma‹, nämlich diese Entscheidung selbst zu treffen, ohne dabei absolute Gewissheit erlangen zu können, außer darüber, was man gerade tut. Diese Relativität der äußeren Umstände führt - wie in Samuel Becketts Warten auf Godot - zur größten Eindeutigkeit der innerer Stimmungslage.
Analyse der Störungen und Optionen des Jetzt
»Wie ich glaube«, so Heinz von Foerster, »verstehen wir das Verstehen nicht, es entzieht sich uns, entschlüpft uns. Denn wir merken nicht das Unglaubliche, das Rätselhafte, das Ungeheuerliche, das Erstaunliche, das Wunderbare, das in alltäglichem Gespräch und Reflexion vor sich geht. Erst wenn dieser Strom von Selbstverständlichkeit gestört wird, stehen wir staunend vor diesem Wunder.«22 Man müsste also, statt der Beschreibung der schlüssigen Aspekte, eine ›Analyse der Störungen‹ unternehmen, wenn man über Theaterstücke und -aufführungen spricht bzw. sie erarbeitet. Man müsste genau jene Momente, da die Dinge ins Zwielicht gerückt werden, um sie für Augenblicke scharf erkennen zu können, aufnehmen und würde also an der Bewahrung von Freiheitsgraden innerhalb des Wahrnehmbaren gemessen.
In Dramaturgien neueren Typs vollzieht sich dieser Widerstreit aber nicht mehr als ein Prozess, in dem das eine aus dem anderen folgt, sondern als ein Konflikt der Gleichzeitigkeit. Verschiedene Optionen rivalisieren um ihre Realisierungen - nicht mehr aus einer teleologischen Konsequenz des Wahrgenommenen heraus, sondern aufgrund der Dispositionen des Wahrnehmenden selbst. All das, was sich in diesem Sinne als Unschärfe-Technologien oder Dramatisierungen des Sehens und die Thematisierung des Spektakulären in der Malerei bei Gerhard Richter oder Andreas Gursky beschreiben ließe, insbesondere natürlich in den dramatischen Inszenierungen der Installationskünstlerin Sam Taylor-Wood, all dies lässt sich auf literarischer Ebene auch in dramatischen Texten als Dramatisierung der Wahrnehmungssituation finden. Tim Etchells, der in gewisser Weise mit seinen Texten für Forced Entertainment in der Tradition der Sprechstücke von Peter Handke steht, Jon Fosse, David Greig oder Gesine Dankwart - sie erfinden Unschärfezonen zwischen Spiel und alltäglichem Leben, Person und Figur, Ereignis und Inszenierung, die mit den in der bildenden Kunst23 beobachtbaren Spielformen der Wahrnehmung vergleichbar sind. In diesen Unschärfebereichen nimmt sich die Wahrnehmung selber wahr - die Inszenierung öffnet sich für die Erfahrung ihrer selbst und erzeugt Momente einer intensiven Gegenwart. Im Umgang mit Stücken älteren Typs fällt daher auf, dass die Begründungszusam-menhänge, die Beglaubigungsrhetorik, die als episches Moment in diese Stücke eingewoben sind, um das Handeln der Figuren zu motivieren - Ibsens Vorge-schichten, Schillers Historie - dass all dies immer rigider gestrichen und entfernt wird. Man vertraut auf das ›Optionsbündel des szenischen Jetzt‹: Stücke neueren Typs entwickeln eine möglichst disparate Dramaturgie gleichzeitiger Möglichkeiten oder sich spontan offenbarender Typologien, deren Rivalisieren um Anwesenheit den Wahrnehmenden in gewissem Sinne zum Mitspieler macht. Es ist das Drama der Wahrnehmung, das zum eigentlichen Drama wurde. Die Dramatisierung der Wahrnehmungsprozesse, von denen in kurzen Bezügen auf Schiller, Beckett, Fosse, Botho Strauß oder Tim Etchells die Rede war, ist ein Vorgang, der hier auf der Grundlage von Texten beschrieben wurde, in der Regel aber inzwischen fast nur noch mit Regieleistungen in Verbindung gebracht wird. Dass dies kein Zufall ist, sondern in der Wahrnehmungshoheit des Regisseurs gründet, in seiner für eine Gesellschaft des Spektakels repräsentativen Funktion, das Erscheinen einer Kultur zu inszenieren, ist einerseits offensichtlich. Zugleich ist das, was Regie in ihren avanciertesten Momenten leistet, genauso wie die Inszenierungen der Bildenden Kunst und Literatur, die Herstellung eines Überforderungsbereiches, in dem tatsächlich Erfahrungen gemacht werden, die den Kapitalismus als Kultur hinter sich lassen.
1 »Der bekannte Berliner Theaterkritiker Herbert Ihering hat einmal geschrieben, der Begriff der Regie sei um 1900 erfunden worden. Ehedem habe die Aufgabe des Theaterinspizienten an den Hofbühnen in der Kontrolle der Auftritte und Abgänge der Schauspieler bestanden. ›Die Aufgabe des Regisseurs,‹ so schreibt Ihring, ›war die des Szenenordners und Sprechmeisters. Der Regisseur gestaltete nicht, sondern überwachte. Dann erhielt das Wort Regie eine andere Bedeutung. Aus Gesten, Tönen und Farben wurde ein Gesamtkunstwerk gebildet. Es gab keine festen Grundlagen mehr. Jedes Werk wurde von sich aus inszeniert.‹« Aus: Bubner, Rüdiger: »Demokratisierung des Geniekonzepts«, in: Ästhetik der Inszenierung, hrsg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann, Frankfurt a. M. 2001, S.77.
2 Diese Erhöhung des Beobachterberufes ist in gewissem Sinne eine verspätete und umgekehrte Analogie zur Herausbildung der abendländischen, europäischen Wissenschaft, wie sie Dieter Claessens beschreibt: »Tiefer religiöser Zweifel an der Wirklichkeit von Gott, d. h. seiner ›realen‹ Anwesenheit in allem und jedem, war der Anlaß zur neuen Entwicklung von Wissenschaft, der ›abendländischen‹, europäischen Wissenschaft. Sie war radikal, versuchte, ›an die Wurzel‹ zu gehen. Radikal (nach lat. ›radix‹ = Wurzel) bedeutet: von Grund auf, auf den Grund gehend.« Aus: Claessens, Dieter: Kapitalismus und demokratische Kultur, Frankfurt a. M. 1992, S.131f.
3 »Theaterkritik ist eine Form des Journalismus, mit diesem entstanden als Werkzeug zur Herstellung bürgerlicher Öffentlichkeit sich beschäftigend mit dem Theater als einem anderen Forum bürgerlicher Öffentlichkeit. (Das vorbürgerliche Theater, das elisabethanische oder das des Molière, kannte keine Theaterkritik.)« Aus: Rischbieter, Henning: »Thesen und Meinungen über Theaterkritik«, in: Der Dramaturg, 2/2002, Berlin 2002, S.3.
4 Ibsen an einen Studenten, 1874: »Und was heißt nun Dichten? Erst spät wurde mir klar, daß Dichten vor allem Sehen bedeutet, doch - wohl gemerkt - so, daß der Empfangende sich das Gesehene (in dem Sinne) aneignet, wie der Dichter es gesehen hat. Somit sieht und empfängt man nur das Durchlebte.« Aus: Hirsch, Rudolf/Vordtriede, Werner (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 10/II, Henrik Ibsen, München, 1972, S. 247.
5 Claessens, Dieter: Kapitalismus und demokratische Kultur, a.a.O., S. 86f.
6 Schiller, Friedrich: »Parabeln und Rätsel«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1965, S. 441.
7 »Friedrich Schiller beschreibt wie kein anderer die Wildheit der Seelenkräfte, auf die sich die Zivilisation stützt, und er kämpft wie kaum ein anderer um den Rohstoff im Menschen, der es erlaubt, daß sich die Völker auf dem Globus vertragen. Die Herausforderung zerreißt ihn. Marquis Posa sagt zu seinem Freund oder Geliebten Don Carlos: Ich spreche als Abgeordneter des Menschengeschlechts. In der gleichen Haltung spricht er zu König Philipp, immer an der Grenze des Realistischen in sicherem Vertrauen, daß im Menschengeschlecht etwas versteckt ist, was auch das Unmögliche zustande bringt, wenn es um einen Friedensschluß geht, der nicht mit Ausgrenzung bezahlt ist.« Aus: Kluge, Alexander: »Dankrede zur Verleihung des Schiller-Preises«, Stuttgarter Zeitung, 13. November 2001.
8 In diesem Sinne auch zurückverfolgbar als Drama des Sehens z. B. bis zu Euripides, dessen Dionysos virtuos mit dem Wahrnehmbaren und zugleich mit dem darin verborgen Bleibenden spielt.
9 »Dass es heute nahezu in jeder Branche bei der Entscheidungsfindung, bei den Herstellungsverfahren und vor allem bei den Zukunftsstrategien primär auf Wissen, Kreativität und avancierte Kommunikationstechniken ankommt, zählt bereits zur Binsenweisheit: Wertschöpfung ist angewandte Kultur. Mag es heute zwischen hoher und angewandter Kultur ein noch größeres Gefälle geben als jemals zwischen den reinen und den angewandten Künsten, jedenfalls definiert diese angewandte Kultur Wirkungsgrad und Zielrichtung der kapitalistischen Produktivität.« Aus: Zielke, Andreas: »Schön und gut. Das neue Gesicht der Ökonomie: Der kulturelle Kapitalismus«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 220, 23./24. September 2000, S. 17.
10 Siehe Rifkins, Jeremy: »Die Teilung der Menschheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 186, 12. August 2000, S. 1.
11 Gekürztes Zitat aus Knodt, Reinhard: Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum, Stuttgart 1994, S. 137f.
12 Siehe eingehender: Etzold, Jörn: Taktiken der Immanenz: Experiment, Theorie und Praxis bei der Internationalen Situationniste, S. 3ff. Vortrag gehalten auf dem Kongress »Theaterwissenschaft - Theaterpraxis, Hildesheim 2002 (unveröffentlichtes Manuskript).
13 Debord, Guy. »Das diffuse Spektakuläre«, in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, aus dem Französischen übers. von Pierre Gallissaires, Hamburg 1995, S. 185.
14 Ebd., S. 94
15 An Brechts Lehrstück-Konzept erinnert auch die konstruktivistische Idee der Herbeiführung von Situationen, die keine Kontemplation aufkommen lassen und in diesem Sinne für Mitspieler konzipiert ist: »So ist die Situation dazu bestimmt, von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden. In ihr soll die Rolle des ›Publikums‹ ständig kleiner werden, während der Anteil derer zunehmen wird, die zwar nicht Schauspieler, sondern in einem neuen Sinn des Wortes ›Lebe-Männer‹ genannt werden können.« Aus: Debord, Guy: »Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz«, in: Beginn einer Epoche, a.a.O., S. 41.
16 Ebd., S. 20 ff. oder, wie die meisten Texte der Situationisten auch im Internet, z. B. unter: www.machno.hdm-stuttgart.de.
17 Vaneigem, Raoul: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, Hamburg, 1980, S. 131.
18 Wo findet das Spektakel statt, fragt Samuel Weber im Hinblick auf die Rolle des Zuschauers. »Debord hat hervorgehoben, dass das Spektakel die Trennung und Isolierung der Individuen in der Warengesellschaft durchsetzt, zugleich aber diese Isolierung zu versöhnen und zu überwinden sucht.« Aus: Weber, Samuel: »Türme und Höhlen. Das Theater des Terrorismus und das gute Gewissen Amerikas«, in: Lettre International 59, Berlin 2002, S. 19ff.
19 Böhringer, Hannes: »Attention im Clair-obscur: Die Avantgarde«, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig, 1990, S. 18.
20 Niklas Luhmann hat dies in Die Realität der Massenmedien als eine systeminterne Erarbeitung von Realität durch interne Sinngebung beschrieben. In: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 19.
21 Oberender, Thomas (Hrsg): Botho Strauß: Der Gebärdensammler. Texte zum Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 123f.
22 Foerster, Heinz von: »Wahrnehmen wahrnehmen«, in: Aisthesis, a.a.O., S. 441.
23 Zur Synthese von abstrakter und gegenständlicher Kunst im Phänomen der Unschärfe siehe: Ullrich, Wolfgang: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002, S. 99 ff.
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Einleitungvon Hajo Kurzenberger und Annemarie Matzke | Seite 9 |
Prolog | |
»den immer andern Bauplan der Maschine lesen ...«Widerstände zwischen Theorie und Praxisvon Heiner Goebbels | Seite 17 |
Analyse der Störungen. Theater als das Drama der Wahrnehmungvon Thomas Oberender | Seite 27 |
I. Ansätze, Verfahren und Modelle von Aufführungsanalyse | |
Inszenierungsanalyse: Ansätze zu einer theoretischen Modellbildung anhand von Luk Percevals SCHLACHTEN!von Katharina Keim | Seite 40 |
Dialog: Schauspiel IGespräch über Luk Percevais und Tom Lanoyes Inszenierung von SCHLACHTEN! zwischen Johann Hüttner, Wilfried Schulz und Roland Renner | Seite 53 |
Wo die Gefühle wohnen - Zur Performativität von Räumenvon Jens Roselt | Seite 66 |
Der Aufführungsdiskurs. Zum Beispiel Sebastian Nüblings Baslervon Hajo Kurzenberger | Seite 77 |
Dialog: Schauspiel IIGespräch über Sebastian Nüblings Basler Inszenierung von Ibsens JOHN GABRIEL BORKMAN zwischen Hajo Kurzenberger, Sebastian Nübling, Judith Gerstenberg, Muriel Gerstner und Franz Wille | Seite 90 |
Das Nachdenken der Performance. Diskurstheoretische >Extensionen< zur Reflexivität der Aufführungvon Peter Stamer | Seite 97 |
Musik mit den »Mitteln der Bühne« - Aufführungsanalyse mit den Mitteln der Musikvon David Roesner | Seite 107 |
Am Puls der SinneDer Rhythmus einer Opernaufführung zwischen Repräsentation und Präsenz - zu Mozart-Inszenierungen von Calixto Bieito und Thomas Bischoffvon Clemens Risi | Seite 117 |
Dialog: MusiktheaterGespräch zwischen Sieghart Döhring, Albrecht Puhlmann und Clemens Risi | Seite 128 |
Rhythmus/Unterbrechungvon Patrick Primavesi | Seite 135 |
II. Diskursformen zwischen Aufführungspraxis und theaterwissenschaftlicher Reflexion | |
Theaterkritik - ein Diskurs zwischen Theaterwissenschaft und Theaterpraxis?von Peter W. Marx | Seite 147 |
Weiblichkeit als Rezeptionskategorie der Theaterkritik über Sarah Bernhardtvon Claudia Thorun | Seite 157 |
»Ich hab nichts zum Sagen«. Über die Schwierigkeit des Darstellers, theatrale Erfahrungen zu verbalisierenvon Ole Hruschka | Seite 166 |
Doing StatementsNotizen zum Verhältnis von Interview und inszenierter Rede am Beispiel René Polleschsvon Stefanie Diekmann | Seite 175 |
Stadttheater als Beute: René Pollesch Resistenz-POP. Spoken Wordsvon Alexander Karschnia | Seite 183 |
Die Lecture-Performance als dichte Beschreibungvon Wolf-Dieter Ernst | Seite 192 |
Vom Stoff zum Symbol und vom Konzept zum Akt - kein Widerstreit!Der Produktionsprozess Theater als performative De-Formation oder Hermeneutik in den Theaterästhetiken Jean-François Lyotards und Botho Strauß'von Andreas Englhart | Seite 202 |
Choreographie als experimentelle Praxis. Die Projektserie E.X.T.E.N.S.I.O.N.S von Xavier Le Royvon Pirkko Husemann | Seite 214 |
III. Zur Geschichte des theatralen Experiments | |
Galileis Theatrum Mundi und die experimentelle Erziehung des Menschenvon Florian Nelle | Seite 221 |
Die Wahrnehmung des Apparats: Experimentelle Physik und futuristisches Theater zu Beginn des 20. Jahrhundertsvon Anja Klöck | Seite 230 |
Performance, Intermedialität, Minimalismus?Fragen an die Theatertheorie der späten Stücke Beckensvon Theresia Birkenhauer | Seite 240 |
Kybernetische Modelle, minimalistische Strategien: Performance und mediale Anordnungen in den sechziger Jahrenvon Barbara Büscher | Seite 250 |
IV. Szenische Projekte im Kontext der neuen Medien | |
Theater der Sensationen. Performance als Wahrnehmungslaborvon Peter M. Boenisch | Seite 261 |
Die Performance des Zuschauersvon Annemarie Matzke | Seite 269 |
Imaginationsräume. Die Versuchsanordnungen von Penelope Wehrlivon Birgit Wiens | Seite 275 |
Der Körper als Interface zwischen den Medien im Gegenwartstanzvon Petra Maria Meyer | Seite 286 |
ErzähltheaterNarrative Strukturen im Kinder- und Jugendtheater als intermediales Experimentvon Manfred Jahnke | Seite 297 |
»All the world's a uni xterm. And all the men and women merely irc addicts.«Das Virtuelle Theater der Hamnet Players und ihrer Nachfolgervon Andreas Horbelt | Seite 303 |
Theater im virtuell geteilten Raum: FLUCHTEN. EIN INTERNET ROADMOVIEvon Kerstin Evert | Seite 309 |
V Theaterstrukturen und Theaterästhetik - eine Wechselwirkung? | |
Von der Wirklichkeit der UtopieAnmerkungen zum Zusammenhang von Organisationsstrukturen und künstlerischer Produktion an der Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1978von Hartwin Gromes | Seite 320 |
Akteure zwischen Büro und BühneBeeinflussen die Strukturen die Theaterästhetik und wirkt die Aufführung auf die Struktur zurück?von Gerd Taube | Seite 330 |
Theater außer sichvon Nikolaus Müller-Schöll | Seite 342 |
Gründgens in Zürich. Christoph Marthaler und Schweizer Ängstevon Jörg Wiesel | Seite 353 |
Von Apparaten, Tankern, von Probebühnen des Lebens und Entwicklungsräumen. Theater(-Politik) heute und welche Alternativen sich zeigen.von Wolfgang Schneider | Seite 359 |
Epilog | |
Klassiker, wo sind sie geblieben?von Jürgen Flimm | Seite 365 |
»Ideal wird was Natur war«(Für Jürgen Flimm. Anlässlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor. Hildesheim, 3. November 2002)von Peter Iden | Seite 371 |