Arbeitsbuch 13
Thomas Brasch, Das blanke Wesen
Herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz
Paperback mit 175 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISBN 978-3-934344-36-5
Dieses Buch ist leider vergriffen
"Brasch, das zeigen auch die Texte dieses Bandes, überfällt einen stets dann mit Zartheit, wenn man seine wilde Rücksichtslosigkeit zu enthüllen glaubte" Neues Deutschland
Bis zum Ende seiner Kindheit will er einen immer wiederkehrenden Traum haben, in dem die Person, von der er behaupten wird, sie sei durch die offene Schädeldecke in seinen Kopf eingedrungen und habe sich hinter seinen Augenfenstern eingerichtet, mit einer Nagelschere sich die Haut vom Leib schneidet, sie vorsichtig vom Körper trennt und das Hautkleid dann sorgfältig zu einer späteren Verwendung zusammenfaltet, wie Brunke es seine Mutter Marie mit den Bettlaken hat tun sehen. Dann legte das von Brunke so genannte blanke Wesen die Haut sorgfältig in ein Kistchen und setzt sich bis zu seinem Auszug hinter Brunkes Augenfenster, um Einblick in die Welt zu nehmen, seinen Hausherrn auf Fehler des gesellschaftlichen Lebens aufmerksam zu machen und Vorschläge für den Fortgang der Biographie zu unterbreiten. Wenn Brunke am Morgen erwacht, ist er jeden Tag aufs Neue verwundert, daß ihm an seinem blanken Wesen weder ein Herz noch ein vergleichbares Lebensantriebsgerät aufgefallen ist.
Aus einem unveröffentlichten Konvolut des Romans MÄDCHENMÖRDER BRUNKE. [Anfang 90er Jahre]
Das Buch lädt ein, bisher unbekannte und unveröffentlichte Texte und Dokumente aus dem Nachlass von Thomas Brasch, einem der bedeutendsten Autoren und Filmemacher der deutschen Nachkriegsgeneration, zu entdecken. Biographische Aufzeichnungen, dramatische Texte, Gedichte und Prosaarbeiten über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren geben Einblick in die spezifische Arbeitsweise und Ideenwelt des Autors.
Anliegen der Herausgeberinnen war es, den oftmals verborgenen Weg künstlerischer Produktion aufzuspüren, noch arbeitendes Material, im eigentlichen Sinne eines »Arbeitsbuches«, zu publizieren. Zwischen den veröffentlichten und bisher unveröffentlichten Texten ergibt sich ein dichtes Netz an Bezügen. So erweitern beispielsweise die ausgewählten Filmexposés nicht realisierter Projekte den Blick auf Geschichte in panoramahafter Weise, wenn zu dem Schauplatz Nachkriegsberlin (Engel aus Eisen), Westberlin (Domino) nun plötzlich der Osten Berlins der 90er Jahre tritt (Liebe oder Polizei).
Einige Schaffensgeheimnisse reflektieren und erinnern zugleich die hier zusammengestellten Texte von Wegbegleitern. Sie geben Zeugnis von der Energie und der Intensität, die dem Schreiben und Denken, dem Fühlen und Urteilen von Thomas Brasch eigen waren. Sie heben die Besonderheit und Dichte des Augenblicks der Zusammenarbeit hervor, denen der Autor keine Grenzen, nichts Festes und Bestehendes als endgültig zugestehen wollte. In ihnen wird - wie wir meinen - im Rückblick noch einmal deutlich, dass ein Zusammen-Arbeiten mit ihm an seiner Person, an seinem Persönlichstem nicht vorbeikommen konnte und umgekehrt, dass ein Zusammen-Leben mit ihm nicht ohne Lebens-Kunst, nicht ohne künstlerische Produktivität denkbar schien. Manche der von den Herausgeberinnen angeschriebenen Autoren, Schauspieler und Freunde waren wegen der nachhaltigen Nähe seines Todes noch nicht in der Lage, sich äußern zu können.
Sowohl die Texte des Autors als auch die Beiträge bezeugen auf unterschiedliche Weise und in verschiedener Perspektive einen der Wesenszüge des Autors: Er war auf sehr besondere Weise den Widersprüchen des Seins in der Zeit ausgesetzt - eine Utopie zu finden in einer unvollkommenen, manchmal zerstörerischen, geschichtlichen Realität. Sie machen seinen verzweifelten und oft erfolgreichen Versuch deutlich, eine andere Perspektive auf das Leben zu finden als die überkommene und bestehende. Die Grenzen zu sprengen - auch die eigenen - war Programm und Arbeitsweise zugleich. Das ergoss sich in Experimenten mit anderen Formen, in einem ungeheuren Einfallsreichtum und in den Anforderungen auch an alle, die hier über ihre gemeinsame Zeit mit ihm berichten. Geduld war nicht seine Sache. Die Verwirklichung der Ideen konnte nicht warten, bis die Bedingungen sie gefügig machten. Die Sucht nach Perfektion konnte dabei ein Mittel sein, sich der bequemen Verfügung zu entziehen.
Viele der Texte Thomas Braschs künden vom zunehmenden Verlust eines inneren Ortes, der Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einer Gesellschaft, einem Gemeinwesen. Mehrfach ging der Mensch und Künstler dieser inneren und äußeren Orte, die er suchte, verlustig. Als Sohn einer jüdischen Emigrantenfamilie wuchs er im kommunistischen Elternhaus zu höherer Funktionärsberufung auf. Aber bereits zwölfjährig formulierte er den Wunsch, Schriftsteller zu werden und erbat einen Schulwechsel, ein Wunsch, dem der Vater nicht stattgab. Vier Jahre verblieb er im Griff militärischer Disziplin, in einem Internat an der Kadettenanstalt der Nationalen Volksarmee in Naumburg, der einzigen Anstalt dieser Art in der DDR. Als sie 1960 aufgelöst wurde, hatte seine Seele bereits einen Riss, eine Fuge, die sich nie wieder schließen sollte. Später folgten Gefängnisaufenthalt wegen »staatsfeindlicher Hetze«, Landwechsel von Ost nach West ohne Annahme der bundesdeutschen Staatsbürgerschaft und schließlich die Rückkehr an den Schiffbauerdamm, das Berliner Ensemble im Rücken und den Bahnhof Friedrichstraße über die Spree im Blick. Dass diese Momente in den meisten Beiträgen eine wesentliche Rolle spielen, ist nicht verwunderlich, prägten sie doch wesentlich das Muster von Begegnungen und Erfahrungen.
Strukturiert ist das Buch in vier Teile: Der erste bildet den biographischen Schwerpunkt mit dem Tagebuch aus den Jahren 1969/70, im zweiten sind vorwiegend Prosatexte versammelt, darunter Auszüge aus dem Brunke-Roman-Konvolut, anschließend eröffnen unbekannte Filmexposés den Blick auf den Filmregisseur Brasch, und im letzten steht das Theater im Mittelpunkt. Sämtliche Texte, handschriftliche Aufzeichnungen und Dokumente, wenn nicht anders angegeben, entstammen dem Thomas-Brasch-Nachlass in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin.
Die Orthographie folgt in den Texten von Thomas Brasch seinen teils eigenwilligen Vorgaben, offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Alle Angaben in eckigen Klammern sind Hinzufügungen der Herausgeberinnen.
Erweitert wurde der Band durch Fotos von Bernd Heyden aus dem Ostberlin der 70er Jahre und Werke der Kunst, um den bildhaften Bezug auf Zeitgenössisches, auf Umgebendes, den Autor Anregendes im nahen und weiten Sinn herzustellen.
Sämtliche Beiträge aller anderen Autoren sind, sofern nicht anders ausgewiesen, für dieses Buch entstanden. An dieser Stelle möchten wir allen Beteiligten für ihr Engagement und ihr Interesse, für Anregungen und Gespräche ausdrücklich danken.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Vowort | Seite 6 |
I | |
»Alles müßte sich lösen, der Winter im Herzen, das ewige Schneetreiben im Kopf …«von Thomas Brasch | Seite 8 |
Am Lenin-Platzvon Thomas Brasch | Seite 42 |
Und bald ist es vorbeivon Christoph Hein | Seite 42 |
Trennung oder eine Konjugationvon Thomas Brasch | Seite 43 |
Der Traum von den Tannenvon Thomas Brasch | Seite 44 |
Liebe ist Arbeitvon Ursula Andermatt | Seite 44 |
Kinskivon Thomas Brasch | Seite 48 |
Brasch (1945–Nov. 3. 2001)von Josef Bierbichler | Seite 48 |
Schuhgröße 65von Thomas Brasch | Seite 50 |
Herz ohne Viervon Günter Grass | Seite 53 |
Der Adler der Anarchievon Jürgen Miermeister | Seite 54 |
Neujahrsliedvon Thomas Brasch | Seite 57 |
In den Köpfen Gedanken zersägendvon Thomas Brasch | Seite 59 |
Das Thema »Familie«von Marion Brasch | Seite 63 |
Meinem Brudervon Thomas Brasch | Seite 67 |
II | |
Jenseits von Herzogenbuschvon Thomas Brasch | Seite 78 |
Drei Vermutungenvon Thomas Brasch | Seite 80 |
Leoncegeschichtevon Thomas Brasch | Seite 80 |
Valeriogeschichtevon Thomas Brasch | Seite 81 |
Horst / Gerda / Thomas / Klaus / Peter / Marionvon Alexander Polzin | Seite 82 |
»Ach, ein Haus bauen wäre schön«von Thomas Brasch | Seite 84 |
Marathonvon Thomas Brasch | Seite 94 |
Nichts Provokanteresvon Bernd Jentzsch | Seite 94 |
»Für meinen ersten Verleger«von Friedrich Christian Delius | Seite 95 |
Schlimmes Erwachenvon Thomas Brasch | Seite 95 |
Selbstkritik 36von Thomas Brasch | Seite 96 |
Ich weiß, wer ich bin.von Thomas Brasch | Seite 97 |
Ein Briefvon Peter Handke | Seite 100 |
Unordentliche Notizenvon Peter Schneider | Seite 101 |
Eins, zwei, drei: Kalte schwarze Plattenvon Ulrich Zieger | Seite 104 |
III | |
Das Fest der Besiegtenvon Thomas Brasch | Seite 110 |
Der Liebesfallvon Thomas Brasch | Seite 112 |
Liebe oder Polizeivon Thomas Brasch | Seite 114 |
Nathans Wiederkehrvon Thomas Brasch | Seite 116 |
Arbeitenvon Anatol Erdmann | Seite 121 |
Die Herzausreißervon Thomas Brasch | Seite 125 |
Hör mein verflucht und zugenähtes Herzvon Thomas Brasch | Seite 126 |
Fräulein Kuckuckvon Thomas Brasch | Seite 126 |
Kunert Show downvon Thomas Brasch | Seite 128 |
Zweifellos ein Visionärvon Joachim von Vietinghoff | Seite 132 |
Mein kleines Stücklein blassvon Katharina Thalbach | Seite 138 |
Going Westvon Hanns Zischler | |
III | Seite 141 |
Brunke hat Angstvon Thomas Brasch | |
IV | |
Prolog vor dem Theatervon Thomas Brasch | Seite 146 |
Die Pest Das Herz Die Wahl Das Wortvon Thomas Brasch | Seite 148 |
Rot oder Jetztvon Thomas Brasch | Seite 152 |
Thomas, ich habe von Dir geträumt.von Thomas Brasch | Seite 153 |
»Westwärts, ho!«von Peter Brombacher | Seite 154 |
Unüberhörbar schweigenvon Klaus Pohl | Seite 156 |
Wie es bleibt ist es nichtvon Stephan Suschke | Seite 160 |
Wenn man woanders wär –von Thomas Brasch | Seite 162 |
»Mögest du nie vergessen dass ich an dich glaube«von Angela Winkler | Seite 162 |
Dylan, Shakespeare und anderevon Klaus Völker | Seite 163 |
Eine glückhafte Begegnungvon Hermann Beil und Jutta Ferbers | Seite 166 |
Anhang | |
Biographie Thomas Brasch | Seite 172 |
Biographie Bernd Heyden | Seite 175 |
Zu den Autorinnen und Autoren | Seite 176 |
„"Brasch, das zeigen auch die Texte dieses Bandes, überfällt einen stets dann mit Zartheit, wenn man seine wilde Rücksichtslosigkeit zu enthüllen glaubte"“Neues Deutschland
Zur Herausgeberin
Kristin Schulz
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Des Rätsels Labyrinth
Bibliographie
Beiträge von Kristin Schulz finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 01/2015
Feuer und Eis
Theater im ostsibirischen Jakutsk
Heft 10/2011
In den Ruinen der Zukunft
Theater in Japan nach der Katastrophe
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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