![Theater der Zeit 12/1946 Theater der Zeit 12/1946](https://assets.theaterderzeit.de/img/Magazine/674/TdZ_Heft_1946_12_cover_single.jpg)
Heft 12/1946
Surrealismus und was man dafür hält
Broschur mit 40 Seiten, Format: 210 x 290 mm
ISSN 0040-5418
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Das Theatererlebnis soll für den Zuschauer ein Erleben der Welt durch das Miterleben menschlicher Schicksale sein, die er verallgemeinert, auf sich bezieht. Diese Verallgemeinerung erfolgt nur zum geringsten Teil bewußt. Sie erfolgt zumeist und fast ausschließlich schon während des Bühnengeschehens. Das Theatererlebnis ist vorwiegend eine Aktion des Gefühls, nicht des Verstands. (Wir lassen hier und im folgenden die unseres Erachtens unrichtige Theorie des jungen Bertolt Brecht über das Lehrstück außer Betracht, zumal er sich in seiner spätern Produktion immer mehr davon gelöst und dem aristotelischen Theater angenähert hat.) Auch die Nachwirkung des Theatererlebnisses bleibt bei der überwältigenden Masse der Zuschauer gefühlbetont; sie äußert sich wohl in einer Auflockerung zur Denkbereitschaft, führt jedoch nur selten zu gedanklichen Analyse. Dem Zuschauer wird im allgemeinen kaum klar, warum ihm ein dramatisches Werk "nicht gefällt", warum es ihn "nicht befriedigt" oder umgekehrt; er findet auch, wenn er sich überhaupt die Mühe macht, bei späterm Nachdenken selten die Ursache des "Gefallens" oder der Unzufriedenheit. (Ihm hierbei zu helfen ist eine der wesentlichen Aufgaben des Theaterkritikers.) Wir sagten, der Zuschauer müsse, um zum Erlebnis des Dramas zu kommen, das Bühnengeschehen verallgemeinern können. Das gill sowohl für den Gesamtkomplex der Handlung wie für das Schicksal der einzelnen Bühnenfigur. Verallgemeinern: das heißt, er muß alles auf sich und sein Leben, also auf seine Zeit beziehen können, wobei beziehen gegebenenfalls auch konfrontieren bedeutet. Sonst ist die Erlebnisfähigkeit ausgeschaltet
oder zumindest stark behindert. Das Schicksal von Gestalten, die es nach all seinen Erfahrungen "nicht gibt", die für ihn, weil er sie nicht wesentlich kennt, willkürliche Phantasieprodukte eines Autors sind, kann ihn bestenfalls interessieren, wie ihn ein Museumsobjekt oder eine Völkerschau interessiert, nicht aber zum Miterleben bringen. Ebenso ergeht es ihm bei Bühnenhandlungen, die in ihrer Konstruktion entweder von ihm sogleich als gesellschaftl ich unwahr erkannt werden oder auch - und das ist heute bei manchen Werken ausländischer Autoren der Fall - auf gesellschaftlichen Voraussetzungen beruhen, zu denen sein Gefühl keinen Zugang findet, weil er sie gar nicht kennt. Er kann nicht verallgemeinern; er kann weder das Geschehen noch die daraus entspringende Verhaltungsweise der handelnden Personen miterleben. Das alles "gibt es nicht" in seinem Bewußtsein; es ist für ihn, wie er sagt "alles nur Theater ". Es regt ihn nicht auf, es erschüttert ihn nicht ; es regt ihn bestenfalls an, ist eine "interessante Unterhaltung", ein Zeitvertreib.
Daraus ergeben sich für die Praxis der Bühne wichtige Konsequenzen. So kann man nicht wahllos "wirksame" Stücke der Vergangenheit ausgraben; nicht einmal alle Klassiker. Aus dem gleichen Grunde ist es vollkommen richtig, daß die Alliierten nicht vorbehaltlos alle Werke ihrer Autoren zur Aufführung bei uns freigeben, ja daß sie dem deutschen Zuschauer oft gerade die für die Dramaturgie ihres Landes typischen vorenthalten.
Warum das? Sehr einfach, das Bewußtsein des deutschen Theaterbesuchers hat sich nicht von heute auf rnorgen grundlegend gewandelt. Er hat in seiner Masse noch kein demokratisches Bewußtsein. Man rnüßte beispielsweise befürchten - und zweiffellos mit Recht -, daß er das patriotische Opfer eines amerikanischen Fliegers, eines englischen Seemanns, eines sowjetischen Partisanen oder französischen Widerstandshelden verallgemeinern, und zwar aus falschem gesellschaftlichem Bewußtsein falsch verallgemeinern würde -: es entstünde (je stärker das Sfück, um so tiefgreifender) kein patriotisch-demokratisches Miterleben, sondern ein chauvinistisch-faschistisches. Denn selbstverständlich hat der Autor, der ja kein Stück mit dem Grundthema Demokratie schreiben wollte, bei seinen Figuren sowohl als auch bei seinen Zuschauern demokratisches Bewußtsein als gesellschaftliche Gegebenheit vorausgesetzt und menschliche Konflikte in eben dieser demokratischen Umwelt und Innenwelt gestaltet.
Doch nicht nur jene bewußtseinbedingte Verständnislosigkeit gegenüber bestimmten Stoffen und Themen, die ihre Ursache in der zwölljährigen Zwangsabschließung des deutschen Volkes und dessen propagandistischer Vergiftung hat, ist zu berücksichtigen. Das Bewußtsein des Menschen innerhalb seiner Gesellschaft unterliegt bekanntlich einem stetigen Wandel. Damit unterliegt selbstverständlich sein Verhältnis zur Dramatik - der am meisten gesellschaftgebundenen Kunst - ebenfalls diesem Wandel, den man Bedeutungswandel nennt. Wir haben ihn schon im Schulunterricht kennengelernt am Beispiel unserer Sprache. Ein Schelm ist heute etwas ganz anders als im Mittelalter; das Wort Frauenzimmer, das Lessing noch in seiner "Minna von Barnhelm" ganz allgemeingängig gebraucht, löst heute völlig andere Assoziationen aus. Das sind handgreifliche Beispiele. Meist weniger handgreiflich, dafür aber oft tiefergreifend ist der Bedeutungswandel ganzer, in ihrem Ausdruck ähnlicher Gefühlskomplexe. So sind wir bei der Verallgemeinerung des Bühnengeschehens gewöhnt, etwa Liebe gleich Liebe zu setzen. Und doch hat die Mutterliebe im "Odipus" wahrlich mit der Mutterliebe, wie wir sie heute empfinden und verstehen, nicht das allermindeste zu schaffen; oder die ritterliche Minne des Mittelalters ist uns heute durchaus gefühlfremd ...
Fritz Erpenbeck
B. Biblikow
Siegfried Borris
Fritz Erpenbeck
Friedrich Gäbel
Julius Hay
Herbert Jhering
Kurt Junghanns
Georg C. Klaren
Carl Linfert
Frederic Mellinger
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O. Pyshow
Günther Weisenborn
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