Heft 10/2000
Dogma und Theater
"Das Fest" in Dortmund und Dresden
Broschur mit 96 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Kalte Füße, heißer Herbst: Kultur "ist aus meiner Sicht die schönste Form politischer Freiheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft". Dieser aus unserer Sicht makellose Satz stammt von Michael Naumann, geschrieben für die Konferenz "Global Dialogue" auf der Expo in Hannover, wo Kultur bekanntlich vor allem als Ausdruck wirtschaftlicher Freiheit zur Geltung kommt und die ganze Veranstaltung trotzdem mit einer Milliardenpleite enden wird. Die Äußerung des Kulturstaatsministers, in TdZ 5/00 ausführlich zu Theaterfragen interviewt, enthält möglicherweise eine versteckte Warnung. Denn wenn die Kultur zu schwinden droht, dann zeigt sich die politische Freiheit wohl nicht mehr in ihrer schönsten Form.
In Köln hat soeben Günter Krämer seinen Generalintendantenvertrag vorzeitig zum Ende der nächsten Spielzeit gekündigt. Hintergrund ist die geplante Kürzung der Zuschüsse um rund 3 Millionen DM und die zwangsweise Finanzierung der Umwandlung in einen Eigenbetrieb, die die Kölner Bühnen weitere 1,4 Millionen kosten würde. Unausgesprochene, aber dann unabwendbare Folge: die Schließung von Spielstätten. perspektivisch sogar die Fusionierung der Oper mit der in Bonn. Dort, in der alten Hauptstadt, fürchtet Generalintendant Manfred Beilharz die verheerenden Folgen einer beispiellosen Vernachlässigung der einst mit Bundesmitteln gut ausgestatteten Kulturstadt. (siehe S. 8) Was bisher in erster Linie ein chronisches Problem der neuen Hauptstadt und der sie umgebenden Bundesländer ist, hat nun das Herz der alten Bundesrepublik angegriffen, ihr bevölkerungsreichstes Land mit der dichtesten Theaterregion Europas. Die Auswirkungen dieser Krise dürften von anderem Gewicht sein als das beinahe folgenlose Theatermassaker in Brandenburg oder die Finanzierungshändel im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern. Kultur, so meint es auch Adolf Dresen mit seinem neuesten Essay (S. 4) , ist eine Frage gelungener Identität in politischer Freiheit, nicht bloß ihre schönste Form.
In Berlin, dem hysterischen Zentrum der neuen Republik, ist die Freiheit freilich am formvollendetsten - als Chaos. Dort will Daniel Barenboim für "künstlerisch-administrative" Aufgaben an der Staatsoper nicht mehr zur Verfügung stehen. Wie sein Kölner Kollege setzt er damit ein Zeichen gegen die Fusionsfantasien der Kulturpolitik, denn die Deutsche Oper könnte bald mit der Linden-Oper, auf welche Weise wird natürlich nie genau gesagt, irgendwie zusammenwachsen. Hatte Willy Brandt, einst Regierender Bürgermeister dieser Stadt, nicht schon davon orakelt? Jetzt wächst zusammen, was zusammengekürzt. Oder war es doch anders? Auf jeden Fall sollte man sich das gerade erschienene Buch "Berlin für Musikfreunde" (Parthas Verlag) schnell noch zulegen - als die Erinnerung bewahrenden Baedeker für die Fusionskrüppel einer vielleicht schon bald versunkenen Hauptstadt des Musiktheaters. Die Erbschaftsstreitigkeiten von Bayreuth, auf die Friedrich Dieckmann am Ende seiner "Ring"-Rezension (S. 42) eingeht, klingen gegen die Kakophonien der großen Städte wie ein warmes Moll.
Michael Naumann ist der brillante Minimalist unter denen, die in der Amtsausübung gegeneinander zum großen Missklang beitragen. Seine nach gekonnt gesetzten Pausen aufrichtig wohltönenden Wiederholungsschweifen sind, für sich, ein kleines Meisterstück. Doch schon wenn sie sich mit Kultursenator Christoph Stölzls taktischen Dissonanzen im Berliner Free Jazz überlagern, kann man sie nicht mehr richtig hören. Und in Nordrhein-Westfalen, wo der Protest im Fortissimo hervorbricht, kommt gleich gar nichts mehr an. Da verwundert es nicht, dass das edle Wort aufder Expo verkündet wurde. Die ist kein realer Ort, sondern eine globale Nebelkammer, wo die Schallwellen großer Töne für den Beobachter von außen als kleine Spuren im Nichts kaum sichtbar werden. An der Berliner Volksbühne hängt indes seit Wochen da. wo sonst die abendliche Aufführung über dem Portal angezeigt wird, das große Banner "Verkauft". Das Theater lässt es auch nach der Rücknahme einer dort tödlichen Etatkürzung um fünf Prozent weiter hängen - als rotes Menetekel für diesen Herbst.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Kalte Füße, heißer Herbst | |
Essay | Seite 4 |
Das nationale Dilemmavon Adolf Dresen | |
Kulturpolitik | Seite 8 |
Weg damit!Wie die Stadt Bonn mit ihrem Theater umgehtvon Ulrich Deuter | |
Dogma und Theater | |
Notizen über Dogmen und Sinnlichkeitvon Mogens Rukov | Seite 10 |
Das Keuschheitsgelübde von DOGMA 95von Lars von Trier und Thomas Vinterberg | Seite 11 |
Vom Vorbild abgelöst"Das Fest" als DOGMA-Theater in Dresdenvon Thomas Irmer | Seite 12 |
Familienkonferenz im Dampfkessel"Das Fest" als DOGMA-Theater in Dortmundvon Christian Peiseler | Seite 14 |
Essay | Seite 16 |
Neue Texte braucht das LandZur Lage der neuen deutschen Dramatikvon John von Düffel | |
Bühnenbild | Seite 20 |
Aus Fundstücken konstruierte LandschaftenAnna Viebrock im Gespräch mit Bettina Masuchvon Anna Viebrock und Bettina Masuch | |
Tanztheater | Seite 26 |
Meinwärts - das Theater tanzt InventurPina Bausch in Wuppertalvon Christian Peiseler | |
Rollenbild | Seite 28 |
Weh! Närrisch machen sie mich..."Antigone" im Berliner Theater des Lachensvon Martin Linzer | |
Freies Theater | |
Marthaler ante portas in ZürichPeter-Jakob Kelting, Armin Kerber, Otto Kukla und andré Steger im Gespräch mit Stefan Koslowskivon Stefan Koslowski, Armin Kerber, Peter-Jakob Kelting, Otto Kukla und André Steger | Seite 30 |
Kein Koks, wir joggen lieberDie junge Schweizer Gruppe 400asa im Gespräch | Seite 33 |
Herz auf RädernMartin Lüttge und der Theaterhof Priesenthalvon Tristan Berger | Seite 36 |
Russland | Seite 40 |
Moskauer Garten- und LufttheaterDie Regisseure Wladimir Mirsojew und Boris Juchananowvon Andrea Gotzes | |
Musiktheater | Seite 42 |
Der schmale Leisten der Aktualisierung"Der Ring des Nibelungen" in Bayreuthvon Friedrich Dieckmann | |
Auftritt | |
Lievis "wurzeln aus zwei" und "Der letzte Schrei" von Keith ReddinBonnvon Ulrich Deuter | Seite 49 |
Roberto Ciulli spielt "Der kleine Prinz"Mülheimvon Ulrich Deuter | Seite 51 |
"Quizoola" und "Girlsnightout" in der Regie von Kay VogesOberhausenvon Ulrich Deuter | Seite 52 |
Bernhards "Vor dem Ruhestand" leicht modifiziertWuppertalvon Christian Peiseler | Seite 54 |
Alexej Schipenko führt Regie bei seinem Stück "The Race"Bremenvon Stefan Grund | Seite 55 |
"Faust II" in der Regie von Frank LienertSenftenbergvon Martin Linzer | Seite 56 |
Nach Gedichten von Durs Grünbein inszenierte TodesfälleLeipzigvon Thomas Irmer | Seite 58 |
"Hamletmaschine" im Schattenreich des Theater MoribàBerlinvon Thomas Irmer | Seite 59 |
Kolumne | Seite 61 |
Friede dem Auftragsstückvon Petra Kohse | |
Stück | |
Verlorene Sehnsucht, erstes StückMartin Linzer fragt Christian Martinvon Christian Martin | Seite 63 |
FORMEL EINZZein stück volkvon Christian Martin | Seite 64 |
Magazin | |
Dem Gedächtnis auf der SpurDie Hamburger Kammerspiele als "Filiale für Erinnerung auf Zeit"von Kathrin Tiedemann | Seite 84 |
"One Table Two Chairs"Asiatisch-deutsches Theaterprojektvon Sabine Heymann | Seite 85 |
NachrufKarl Gotthilf Kachler (1906-2000)von Martin Dreier | Seite 87 |
BücherHans Amstutz, Ursula Käder-Leisibach, Martin Stern: Schweiztheater, Chronos Verlag, Zürich 2000, 672 S.von Werner Wüthrich | Seite 87 |
BücherHarold Bloom: Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen. aus dem Amerikanischen von Peter Knecht, Berlin Verlag, 1066 S.von Thomas Irmer | Seite 88 |
BücherMatthew Boyden, Richard Strauss. Die Biografie. Aus dem Englischen von Marcus Pacher, Europa Verlag, München, Wien 1999, 702 S., mit s/w-Abb.von Nora Eckert | Seite 89 |
BücherEberhard Esche: Der Hase im Rausch, eulenspiegel Verlag, Berlin 2000, 384 S.von Martin Linzer | Seite 90 |
Meldungen | Seite 91 |
Premierenkalender | Seite 92 |
Autoren | Seite 96 |
Impressum | Seite 96 |
Tristan Berger
Ulrich Deuter
Friedrich Dieckmann
Martin Dreier
Adolf Dresen
Nora Eckert
Andrea Gotzes
Stefan Grund
Sabine Heymann
Thomas Irmer
Peter-Jakob Kelting
Armin Kerber
Petra Kohse
Stefan Koslowski
Otto Kukla
Martin Linzer
Christian Martin
Bettina Masuch
Christian Peiseler
Mogens Rukov
André Steger
Kathrin Tiedemann
Anna Viebrock
Thomas Vinterberg
John von Düffel
Lars von Trier
Werner Wüthrich
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren