Heft 10/2005
Tragödie?!
Peter Stein und Romeo Castelluci über eine totgesagte Gattung
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Der Tragödienstreit Die Tragödie ist allgegenwärtig - zumindest in der Sprache. Wenige Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 notierte Max Goldt: "So wie Anschläge immer feige sind, werden etwa Unfalle grundsätzlich als tragisch bezeichnet, obwohl es mit Tragik, also einer Verwicklung ins Schicksal oder in gegensätzliche Wertesysteme, überhaupt nichts zu tun hat, wenn jemand gegen einen Baum fahrt. Ein solcher Vorgang ist banal- mithin ganz und gar untragisch." In Goldts sprachkritischer Einlassung hallt das vor einem halben Jahrhundert formulierte Diktum Dürrenmatts nach, demzufolge das Schicksal - und damit die Tragödie - die Bühne verlassen habe; kein Gott drohe mehr, bloß Verkehrsunfalle.
Ob die Tragödie nur noch als sprachliches Relikt überlebt oder ob sie in der Gegenwart tatsächlich einen Ort hat, dieser Streit ist lange nicht entschieden. Der bosnische Dramatiker Almir Basovic schließt sich in seinem TdZ-Essay eher Dürrenmatt an, indem er den Verlust universeller Prinzipien für das Verschwinden eines tragischen Sinnes im menschlichen Leiden verantwortlich macht. Demgegenüber aber stehen Theaterschaffende, die keinesfalls bereit sind, der Tragödie abzuschwören. Peter Stein etwa erklärt im TdZ-Interview die Dürrenmatt-These schlichtweg für Unsinn: Das Schicksal stelle sich in der Moderne anders dar, habe aber die Bühne mitnichten verlassen. Der italienische Theateravantgardist Romeo Castellucci teilt im TdZ-Gespräch zwar die Sicht Max Goldts, dass der Begriff der Tragödie in den Medien inflationär und falsch verwendet werde, doch hält er die Erfahrung des Tragischen, das in einer Probe auf die Identität bestehe, immer und überall für möglich. Dirk Pilz fasst den Standpunkt der "Anti-Dürrenmattianer" in seinem Essay zusammen: "Man muss nicht von anthropologischen Konstanten sprechen, um zu begreifen, dass die Fratzen des Absoluten ihr Grinsen nicht verlieren." Zwischen diesen Eckpunkten spannt sich der Schwerpunkt Tragödie im vorliegenden Heft von TdZ auf: Den Streit auf eine ästhetisch fruchtbare Weise weiterzutreiben, ist dann nicht zuletzt die Sache des Theaters.
Und das ist wieder aus dem Sommerschlaf erwacht, just an dem Wochenende, an dem vielen Politikern das lächelnde Wahlkampfgesicht zur grinsenden Fratze der absoluten Prozentzahlen gefror, am Bundestagswahlwochenende also. In Zürich, Halle, Wien und anderswo waren neben bürgerlichen Tragödien (ja, Tragödien!) auch neue Stücke etwa von Botho Strauß oder Gert Jonke zu sehen. Oder aber Texte von Autoren der jungen Generation wie Johannes Schrettle und Oliver Schmaering. Schrettles Drama "fliegen / gehen / schwimmen" kam in Osnabrück zur Uraufführung und wird von TdZ in diesem Monat erstveröffentlicht. Auch in diesem Stück nehmen die Figuren einen Verlust universeller Prinzipien wahr - und glauben in der Globalisierung ein neues universales Prinzip zu entdecken, das jedoch auf eigenartige Weise folgenlos bleibt. Am Ende des Stückes fallt dann ein Schuss, denn ein bissehen Tragik soll ja auch dabei sein.
Die Theater können nun wieder eine ganze Spielzeit lang, wie Rousseau es vorschlägt, die Menschen von ihrer Schlechtigkeit ablenken und sie davon abhalten, "ihren Müßiggang mit noch gefahrlicheren Dingen zu vertreiben". Der britische Philosoph Simon Critchley stellt in seinem Essay über Rousseaus "Narziss" die Frage, ob wir noch an das Theater glauben. Wäre es tragisch, wenn nicht?
Die Redaktion
P.S.: Der Oktober ist auch ein Büchermonat - im Verlag Theater der Zeit erscheinen gleich vier neue Titel: Anna Viebrocks "Materialbuch in drei Aufzügen. Das Bühnenbild zu Tristan und Isolde, Bayreuth 2005", "Stück-Werk 4. Deutschschweizer Dramatik", hrsg. von Veronika Sellier und Harald Müller, sowie die beiden Bände der Reihe Recherchen: "Theater als öffentlicher Raum. DIE BERLINER ERMITTLUNG von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz", hrsg. von Christel Weiler, und "Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters I980 - 2005" von Carl Hegemann, hrsg. von Sandra Umathum. Nähere Informationen unter www.theaterderzeit.de.
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Ihr TdZ-Team
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Der Tragödienstreit | |
Neustarts | |
Zwiespältige VirtuositätMatthias Hartmann eröffnet seine erste Spielzeit am Schauspielhaus Zürichvon Dagmar Walser | Seite 4 |
Droge GlückDas neue theater Halle segelt unter neuer Flagge und nimmt mit dem „Seefahrerstück“ seinen Kurs aufvon Christian Horn | Seite 8 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 12 |
Am Wörter-SeeSaisonbeginn am Wiener Burgtheater mit Gert Jonke und Ferdinand Raimundvon Stefan Hilpold | |
Nachruf | Seite 14 |
Geniales Kind im MörderhausZum Tod des Schauspielers Ekkehard Schallvon Stephan Suschke | |
Schwerpunkt | |
Der alte neue Streit um die TragödieDiskussion einer todgesagten Gattung | Seite 16 |
Die Fratzen des AbsolutenWas soll Tragödie heute noch heißen?von Dirk Pilz | Seite 18 |
Zum Tode geborenEin Gespräch mit dem Regisseur Peter Stein über die Tragödievon Dirk Pilz | Seite 21 |
Unsere EinsamkeitenGedanken zur Form der Tragödievon Almir Bašović | Seite 25 |
Das Tragische eröffnet keine BefreiungEin Gespräch mit Regisseur Romeo Castellucci über seine „Tragedia Endogonidia“ – von Luca Scarlini | Seite 28 |
Ausland | Seite 31 |
Große Fische, kleine FischeDas Festival Santarcangelo dei Teatri richtet sein Augenmerk auf die junge italienische Szenevon Anne Peter | |
Tanz | |
Vom blinden Fleck aus betrachtetDas 17. Festival Tanz im August in Berlinvon Constanze Klementz | Seite 34 |
Verkörperte UtopienDas Hamburger Kampnagel Sommerfestival Laokoonvon Klaus Witzeling | Seite 37 |
Essay | Seite 40 |
Theater ist NarzissmusÜber Jean-Jacques Rousseaus Drama „Narziss“von Simon Critchley | |
Bühnenbild | Seite 44 |
Der Raum als Nicht-RaumDer Bühnenbildner Jens Kilian im Gespräch – von Konrad Oktavian Knieling | |
Auftritt | |
Jürgen Gosch inszeniert „Drei Schwestern“ am schauspielhannoverHannovervon Nina Peters | Seite 49 |
„Theater auf der Baustelle“ zeigt Produktionen von Kroesinger und Janek MüllerHellerauvon Christine Wahl | Seite 50 |
Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“ an den Hamburger KammerspielenHamburgvon Klaus Witzeling | Seite 51 |
Nuran Calis' „Dogland“ erzählt die Geschichte von zornigen jungen MenschenBielefeldvon Jörg Buddenberg | Seite 52 |
„Nächte unter Tage“ von Breth und Boltanski bei der RuhrTriennaleEssenvon Hans-Christoph Zimmermann | Seite 53 |
Uraufführung von Christina Viraghs „Chaostheorie“ am Luzerner TheaterLuzernvon Stefan Koslowski | Seite 54 |
Die Oper „Waiting for the Barbarians“ nach J. M. Coetzee am Theater ErfurtErfurtvon Wolfgang Behrens | Seite 55 |
Kolumne | Seite 57 |
Berliner Geisterstundevon Holger Teschke | |
Stück | |
Ein Schuss muss fallenJohannes Schrettle im Gesprächvon Wolfgang Behrens | Seite 58 |
„fliegen / gehen / schwimmen“von Johannes Schrettle | Seite 59 |
Magazin | |
Globalisierung, Identität und neue schottische Dramatik auf dem diesjährigen Festivalsommer in Edinburghvon Katrin Beushausen | Seite 68 |
Teatterikesä - der 37. "Theatersommer" im finnischen Tamperevon Dirk Pilz | Seite 69 |
Neue Initiative aus dem Ostenvon Aleksandra Rembowska | Seite 71 |
A Viech kann net lügenvon Ernst M. Binder | Seite 71 |
Zum Tod des Übersetzers Henryk Bereskavon Bernhard Hartmann | Seite 72 |
Bücher/CDsUlrich Port: Pathosformelnvon Dirk Pilz | Seite 73 |
Bücher/CDsErwin Piscator: Die Briefe.von Lutz Stirl | Seite 73 |
Bücher/CDsCarola Stern: Auf den Wassern des Lebensvon Holger Teschke | Seite 74 |
Bücher/CDsFritz Kortner liest aus siener Autobiografie "Aller Tage Abend"von Stephan Suschke | Seite 74 |
Bücher/CDsJürg Kienberger: Das Waldhaus in Sils-Mariavon Wolfgang Behrens | Seite 75 |
Meldungen | Seite 76 |
Premierenkalender | Seite 77 |
Oktober 2005 | |
Impressum | Seite 79 |
Vorschau | Seite 80 |
November 2005 | |
Kommentar | Seite 80 |
Der Sprung ins kalte Wasservon Nina Peters |
Almir Bašović
Wolfgang Behrens
Katrin Beushausen
Ernst M. Binder
Jörg Buddenberg
Simon Critchley
Bernhard Hartmann
Stefan Hilpold
Christian Horn
Constanze Klementz
Stefan Koslowski
Anne Peter
Nina Peters
Dirk Pilz
Aleksandra Rembowska
Johannes Schrettle
Lutz Stirl
Stephan Suschke
Holger Teschke
Christine Wahl
Dagmar Walser
Klaus Witzeling
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