Heft 05/2009
Berliner Dionysien
Theatertreffen '09 mit Jürgen Gosch, Volker Lösch, Katie Mitchell
Broschur mit 124 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Das Berliner Theatertreffen findet seltsamerweise jedes Jahr im Mai statt, wo doch die Dionysien in Athen bekanntlich im März und April gefeiert wurden. Die Huldigungen an den Gott der Ekstase, des Rausches, der Verwandlung und des Weins wurden zudem nicht mit Aufführungen bester Stücke, sondern mit Wettkämpfen von Tragödiendichtern gefeiert. Deren Nachfahren finden sich bei uns als Gegenstück zu den ländlichen Dionysien nach Mülheim an der Ruhr ausgelagert. Während Intendanten ihre Sessel verlieren, weil sie keine Einladungen in die Spreemetropole nachweisen konnten, ist hingegen wohl noch kein Potentat vom Steuerknüppel der Macht entfernt worden, weil er keine Teilnahme an den Mülheimer Theatertagen vorzuweisen hatte. „Verkehrte Welt", kann man da nur mit Nietzsche stöhnen, insbesondere da die Theatertreffen-Jury keinerlei demokratische Legitimation vorweisen kann, werden doch systematisch ganze Landesteile ausgeschlossen und finden sich doch Vertreter einer bestimmten Theaterzeitung als Entscheidungsträger seit 20 Jahren systematisch ausgegrenzt.
Nicht als Ausdruck der Tyrannei, so doch als Geste der Arroganz der Macht werden also auch dieses Jahr nach magischen Prinzipien mittels Einladungen etliche Theaterorden verteilt. Besonders gelungen fanden wir dennoch die Einladung von Christoph Marthalers „Das Theater mit dem Waldhaus", die nicht in Berlin gezeigt werden kann, aber immerhin gibt es einen Dokumentarfilm von Sarah Derendinger zu sehen, an den sich der allzu Neugierige halten kann. Im Künstlerinsert einige visuelle Impressionen der Veranstaltung und dazu eine Begegnung von Dorte Lena Eilers mit Graham Valentine, dem Schotten aus Dundee, der schon seit etlichen Jahren mit Marthaler arbeitet. Passt, nicken wir, wenn Mr. Valentine behauptet: „Der Klang ist für mich das Wichtigste auf der Bühne, nicht die körperliche Präsenz."
Im Kampf um Aufmerksamkeit - und um die geht es doch wohl - hat Volker Lösch inzwischen die Nase vorn. Der wilde Mann des Stadttheaters, von den Erkenntnissen der Gießener Metatheoretiker unbefleckt, macht mit seinen Chören von Hartz-IV-Empfängern da weiter, wo Brecht abgebrochen hat, bei der Beziehung zur Wirklichkeit. Frank Raddatz sprach mit ihm. Lydia Ziemke porträtiert die Arbeit der englischen Regisseurin Katie Mitchell, die in der heimischen Rezeption auf teils harsche Kritik stößt, aber in Deutschland, wo man einfach mehr von der Sache versteht, gefeiert wird und mit ihrer Kölner Inszenierung von „Wunschkonzert" den Horizont erweitert. Michael Eberth schreibt über Jürgen Gosch, den Superstar des diesjährigen Theatertreffens, der das Hochamt der narrativen Ungebrochenheit in Vollendung überführt. Gunnar Decker folgt der Spur Goschs im Schauspielerleben von Meike Droste, der Sonja aus „Onkel Wanja", der Mascha aus „Die Möwe", die jetzt in Schimmelpfennigs „Idomeneus" am Deutschen Theater zu sehen ist.
Wenige Hundert Meter weiter begibt sich Lena Schneider an der Seite von Nestor Martin Linzer ins Gespräch mit Carmen-Maja Antoni, die schon zu Wekwerth-Zeiten am Berliner Ensemble an den politischen und sozialen Kämpfen des Hauses teilnahm, was ihr nicht nur Freunde machte, aber sie zu einer tonangebenden Bühnenpersönlichkeit unserer Tage reifen ließ. Martin Linzer berichtet zudem über 20 Jahre theater 89, eine freie Gruppe, die sich 1989 im Osten Berlins gründete und seitdem, wenn auch nicht gerade mit Subventionen überschüttet, in der Torstraße die Theatertrommel schlägt.
Ein Blick ins Nachbarland Polen zeigt, dass dort kritisches Theater, wie Regisseur Wojtek Klemm erfahren musste, den Autoritäten eher ein Dorn im Auge ist. Wenn Heiner Müller von einer Zeitgrenze gesprochen hat, die durch Berlin verlaufe, so befindet sich auch manches, was zum Standard der Informationsgesellschaft gehört, hinter der polnischen Grenze nicht mehr auf EU-Höhe. Wer Klemm zuhört, kann sich nur für einen Beitritt der Türkei aussprechen, wo man zumindest mit Istanbul eine veritable Weltstadt aufzuweisen hat, in der die Gegensätze aufeinanderstoßen.
Klemms Schilderungen schließen nahtlos an Margarete Affenzellers Erfahrungen bei der Verleihung des mit 60 000 Euro dotierten wichtigsten europäischen Theaterpreises Premio Europa per il Teatro an. Mangelnde Transparenz und „Funktionärsduktus" sind vielleicht noch die freundlichsten Charakterisierungen, mit denen sich die Stoßrichtung des Kommentars kennzeichnen lässt. „Still ruht der See" betitelt Thomas Thieme seine zum Widerspruch und Widerstehen aufrufende Kolumne. Er fragt sich, ob auf dem Marktplatz des Theaters nur ein verdrängungsgeiler Mittelstand seine falschen Tränen weinen möchte, eine heile Welt halluzinierend, um statt des Schlagabtauschs mit der wirklichen Zeit das Spiel der alten Schule zu prämieren. Ein großer Text, dem nichts hinzuzufügen ist.
Die Redaktion
P.S.: Auch in diesem Jahr sind wir wieder beim Theatertreffen zugegen - und freuen uns auf Ihren Besuch im Container vor dem Haus der Berliner Festspiele!
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | Seite 2 |
"Das Theater mit dem Waldhaus" von Christoph Marthaler und Frieda Schneider | |
Gespräch | Seite 8 |
Bin ich auch ein Geist?Die Bühnenbildnerin Frieda Schneider über Christoph Marthalers "Das Theater mit dem Waldhaus"von Ute Müller-Tischler und Frieda Schneider | |
Porträt | |
Der Typ am RandÜber die Kunst des Fallens - der Schauspieler Graham Valentine im Porträtvon Dorte Lena Eilers | Seite 14 |
Auf der Suche nach einer Sprache der LiebeÜber den Regisseur Jürgen Goschvon Michael Eberth | Seite 17 |
Rollenporträt | Seite 20 |
Was soll man machen, wir müssen lebenMeike Droste als Sonja in Jürgen Goschs "Onkel Wanja"von Gunnar Decker | |
Gespräch | Seite 22 |
Enterbt die ErbenDer Regisseur Volker Lösch im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Volker Lösch | |
Porträt | Seite 27 |
Destillat des LebensWarum die englische Regisseurin Katje Mitchell in ihrer Heimat kritisiert und hier gefeiert wirdvon Lydia Ziemke | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 30 |
Eine Zeit wie ein SchwammDie Schauspielerin Carmen-Maja Antoni im Gespräch mit Lena Schneider und Martin Linzervon Martin Linzer, Lena Schneider und Carmen-Maja Antoni | |
Hausporträt | |
Laboratorium sozialer PhantasieDie Tiefgarage im zweiten Stock - das Berliner Theater 89 wird zwanzigvon Martin Linzer | Seite 34 |
Welches Schweinderl hätten S' denn gern?Steffen Menschings erste Spielzeit am Landestheater Rudolstadtvon Frank Quilitzsch | Seite 36 |
Ausland | |
Wir kommen gut klarWie junge polnische Theatermacher die Wirklichkeit demaskierenvon Pawel Sztarbowski | Seite 38 |
Lech Walesas KapelleEin unbequemer Fragensteller - der polnische Regisseur Wojtek Klemm im Porträtvon Lena Schneider | Seite 41 |
Auftritt | |
München: Meinungspiranhas und Scream-QueensResidenztheater: "Leichtes Spiel. Neun Personen einer Frau" (UA) von Botho Strauss; Kammerspiele: "Lass mich dein Leben leben! Dirty Control 2" (UA) von Jörg Albrechtvon Willibald Spatz | Seite 44 |
Stuttgart: Zwischentöne im Hamlet-GetümmelStaatsschauspiel: "Kabale und Liebe" von Friedrich Schiller; "Das Jagdgewehr" von Yasushi Inouevon Otto Paul Burkhardt | Seite 46 |
Wien: No desire to go to heavenBurgtheater: "Mea Culpa" (UA) von Christoph Schlingensiefvon Margarete Affenzeller | Seite 48 |
Liège: Apologie des ChaosFestival de Liège: "Verletzte Jugend" (UA) von Falk Richtervon Bernard Debroux | Seite 49 |
Berlin: Verlockungen der DreidimensionalitätNeues Museum: "Dialoge 09" von Sasha Waltzvon Sabine Schouten | Seite 50 |
Verlage im Porträt (3) | Seite 51 |
Verlag der AutorenFünf Fragen an Marion Victor, Lektorin im Verlag der Autorenvon Dorte Lena Eilers | |
Lesarten | Seite 52 |
Bertolt Brecht "Das Leben des Galilei"Vom Beginn des menschlichen Niedergangsvon Frank M. Raddatz | |
Stückinsert | Seite 53 |
"Verlorene Paradiese" - Autorenspektakel Bern_2009 | |
Kolumne | Seite 53 |
Still ruht der Seevon Thomas Thieme | |
Magazin | |
Ewige Arithmetik des Schreckens- Die neue Bühne Senftenberg belebt politisches Theater ohne Pathos und Ideologievon Gunnar Decker | Seite 54 |
Es folgt die Debatte- Rimini Protokoll haben in der Aktionärsversammlung der Daimler AG ein Schauspiel ausgemachtvon Kasimir Schmeicher | Seite 56 |
Nachruf | Seite 57 |
Der Theaterphilosoph von Greenwich VillageZum Tod von Stefan Brechtvon Holger Teschke | |
Randplatz | Seite 57 |
Die Diktatur des Mehrheitsprinzipsvon Gunnar Decker | |
Bücher | |
Bernd Noack: Theaterskandale. Von Aischylos bis Thomas Bernhard.Residenz Verlag, Salzburg 2008, 272 S., 22 Eurovon Sophia Ebert | Seite 58 |
Theresia Birkenhauer: Theater/Theorie. Zwischen Szene und Sprache.Hg. v. Barbara Hahn und Barbara Wahlster, Verlag Vorwerk 8, Berlin 2008, 232 S., 19 Eurovon Anna Opel | Seite 59 |
Radiovorschau | Seite 60 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 61 |
15: Lieber ins Kino? oderKommt heute der Film der Realität näher als das Theater?von Martin Linzer | |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Korrespondenten | Seite 62 |
Hamburg: Täuschung und Wahrheitvon Klaus Witzeling | |
Oberhausen: Keine Abwrackprämie für Stadttheatervon Andreas Rehnolt | |
Meldungen | Seite 63 |
Aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Premierenkalender | Seite 64 |
Mai 2009 | |
Autoren | Seite 67 |
Impressum | Seite 67 |
Kommentar | Seite 68 |
Verschenkt!von Margarete Affenzeller | |
Vorschau | Seite 68 |
Juni 2009 |
Margarete Affenzeller
Carmen-Maja Antoni
Otto Paul Burkhardt
Bernard Debroux
Gunnar Decker
Sophia Ebert
Michael Eberth
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Sebastian Kirsch
Martin Linzer
Volker Lösch
Ute Müller-Tischler
Anna Opel
Frank Quilitzsch
Frank M. Raddatz
Andreas Rehnolt
Kasimir Schmeicher
Frieda Schneider
Lena Schneider
Sabine Schouten
Willibald Spatz
Pawel Sztarbowski
Holger Teschke
Thomas Thieme
Klaus Witzeling
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