Heft 11/2009
Vision Stadttheater
Hasko Weber und Sebastian Hartmann im Gespräch
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Polanski im Gefängnis, am Brandenburger Tor feiern Riesen aus Frankreich den Mauerfall als putziges Stelldichein getrennter Liebender, Bundesbanker poltern gegen Migranten, der Bund der Steuerzahler moniert, dass für die Misswirtschaft der Landesbanken der Bürger allein mit 30 Mrd. Euro geradestehen muss, mit denen man natürlich lässig einige Problemviertel auf Vordermann hätte bringen können. Überhaupt staunt man, dass sich mit Sarrazin ein Finanzsektor traut, so hämisch das Wort zu ergreifen. Oder ist das nur ein Grußwort an die erste Islambank, die sich nun völlig zu Recht in Deutschland etabliert? So oder so: Die Geschichte wirft mit Westerwelle einen langen Schatten voraus.
Grund genug, zu fragen, wie alles anfing, und mit jenem Mann ein Gespräch zu führen, der dem postmodernen Theater, das auch international unaufhaltsam scheint, den Boden bereitet hat: Andrzej Tadeusz Wirth, der Erfinder der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Wie sich diese ästhetische Revolution von Ideologie frei machen wollte, so sollen auch in anderen Teilen des Landes die ersatzreligiösen Phrasen das Zeitliche segnen. Ironisch, bunt, schrill, aber auch liebevoll, verwundert und aufklärerisch blicken die Theater in diesen Monaten auf den Wende-November vor 20 Jahren. Mit der Deutschland-Revue „Drunter und drüber" betreibt zum Beispiel das Theater Rudolstadt eine furiose Wendeschau, am FFT Düsseldorf lädt die Gruppe Drama Köln zu einer Visite von „East Düsseldorf" ein, lässt Trabis die Konsummeile im Herzen der Stadt rauf und runter fahren, während sich vor den Augen der bewegungswilligen Zuschauer eine Romanze vor DDR-Devotionalien in Gang setzt.
Dagegen schaut Dieter Kraft mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf die Geschichte der einzigen freien Theatergruppe der DDR, das theater zinnober, zurück, dessen Einladungen zu Festivals im Ausland von administrativer Seite immer abschlägig beschieden wurden, mit der Begründung, dass eine Gruppe gleichen Namens in der DDR nicht existiert. Der reale Sozialismus als permanenter Schild bürgerstreich. Dass man sich mit diesem „Monster Heimat" schwertut, ist unmittelbar einsichtig.
Während der Wind der Restauration allenthalben weht, scheint er sich im Moment gerade in Hannover mit besonderer Wucht zu ballen, wie Dorte Lena Eilers zu spüren bekam. Nur der frisch gekürte Intendant der niedersächsischen Landeshauptstadt begehrt dagegen mit der Parole auf: „Wer an seine Zukunft glaubt, gehört zu uns!" und bewässert das welkende Geschichtsbewusstsein mit Texten über den Dreißigjährigen Krieg, einer Revue über Pharaonenstädte, die der ortsansässige Bahlsenkeks-Fabrikant plante, und Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee". Eine passgenaue Eröffnung, die auf einem schlüssigen Konzept basiert und wohltuend aus dem Chor des allgemeinen Blabla heraussticht.
Überhaupt, das Stadttheater - was will es eigentlich und was kann es leisten in diesen neuen/alten Zeiten? Gar nicht rückwärtsgewandt sind die Visionen dieser Institution, wie sie der Intendant des Centraltheater Leipzig Sebastian Hartmann und der Stuttgarter Schauspielintendant Hasko Weber diskutieren. Das Stadttheater hat eine Zukunft, wenn es sich vernetzt und sich über die bestehenden Formate hinaus in die Stadt öffnet. So der erste Befund, dem in dieser Spielzeit weitere folgen werden.
Um noch einmal auf die abschätzigen Äußerungen von Thilo Sarrazin über das Obstgeschäft zurückzukommen. Bei der Mutter des Euripides, Kleito, soll es sich umeine Gemüsehändlerin gehandelt haben. Was sie ansonsten noch an kleinen Kopftuchträgerinnen produzierte, ist nicht bekannt. Warum es sich aber bei Euripides um einen ganz schlimmen Finger handelt, lässt sich brandaktuell bei Friedrich Kittler: „Musik und Mathematik", Band 2, nachlesen.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Bühnenbildervon Katrin Brack | Seite 2 |
Porträt | Seite 8 |
Die WettermacherinDie Bühnenbildnerin Katrin Brack im Porträtvon Gunnar Decker | |
Debatte | Seite 11 |
Die Zukunft hat begonnenÜber das Stadttheater des 21. Jahrhunderts – Sebastian Hartmann und Hasko Weber im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz, Sebastian Hartmann und Hasko Weber | |
Neustart | |
Können Sie uns hören?Barbara Frey setzt als neue Intendantin des Schauspielhauses Zürich auf Teamgeist und Dialogvon Simone von Büren | Seite 16 |
Gespenster der ZeitgeschichteLars-Ole Walburg spielt in seiner ersten Spielzeit als Intendant am Schauspiel Hannover mit den Trümmern der Vergangenheitvon Dorte Lena Eilers | Seite 19 |
Auch Helden haben schlechte TageWie Stendals neuer Intendant Dirk Löschner am Theater der Altmark zu großen Taten aufruftvon Carl Ceiss | Seite 22 |
Gespräch | Seite 24 |
Der UnheimlichkeitseffektDer Vater des postdramatischen Theaters Andrzej Tadeusz Wirth im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Andrzej Tadeusz Wirth | |
Schlaglichter | Seite 28 |
WeltenwendeTheatrale Schlaglichter zum Umbruch vor 20 Jahrenvon Michael Helbing, Hartmut Krug, Lena Schneider, Klaus Witzeling, Andreas Herrmann, Frank Quilitzsch und Andreas Rehnolt | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 34 |
Das sanfte Gift der HoffnungDas theater zinnober war die einzige freie Theatergruppe in der DDR. Ein Rückblickvon Dieter Kraft | |
Festival | Seite 38 |
Wüste WanderungenDie Ruhrtriennale 2009 sucht das Paradiesvon Sebastian Kirsch und Hanna Höfer-Lück | |
Auftritt | |
Mülheim„Liebe Deutsche, lasst uns raus!“von Meike Hinnenberg | Seite 42 |
WeimarDie bange Scheidewand der Etikettevon Sebastian Kirsch | Seite 43 |
LeipzigHeißblütige Bekenntnissevon Mehdi Moradpour | Seite 44 |
DarmstadtMonströse Allgegenwart | Seite 45 |
TübingenO Haupt voll Suff und Wundenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 46 |
LinzArbeiterkampf bei Kaffee und Kuchenvon Julia Binter | Seite 47 |
Lesarten | Seite 48 |
Bertolt Brecht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“Kühl auf die blutige Welt schauenvon Tilmann Köhler | |
Kolumne | Seite 49 |
Als ich für China posiertevon Ralph Hammerthaler | |
Gespräch | Seite 50 |
Die Töne des KriegesDie Schriftstellerin Etel Adnan im Gespräch mit Susanne Stemmlervon Etel Adnan und Susanne Stemmler | |
Stück | Seite 51 |
Sitt Marie-RoseEine libanesische Geschichte - Stückfassung von Anna Malunat und Hannah Schweglervon Etel Adnan | |
Magazin | |
Hochgeehrter Hofrat, lieber HerrEin Brief an Friedrich von Schiller zum 250. Geburtstagvon Holger Teschke | Seite 62 |
Mündige Bürger und andere SchauspielerPolitisch schönes Theater und Flashmob-Communities – die APO der Postdemokratie?von Katja Grawinkel-Claassen | Seite 63 |
Als die Welt noch zu uns kam„Die Weber von Augsburg. augsburg factory: web und walk“ – ein dokumentarisches Theaterstück der fliegenden fischevon Christoph Leibold | Seite 64 |
Ausgegraben: Grabbe kompaktDas 6. GlückAufFest an der Neuen Bühne Senftenberg entdeckt einen vergessenen Dichter neuvon Martin Linzer | Seite 65 |
Spektakulär statt spekulativWie eine Tolstoi-Inszenierung von Volker Schlöndorff sich erst am Entstehungsort erklärtvon H. M. | Seite 66 |
Vom Krieg in den Körpern„Another Glorious Day“ – ein Kino dokumentarfilm über das Living Theatrevon Kathrin Tiedemann | Seite 67 |
Nachrufe | Seite 68 |
Beschreibe, dann schlussfolgereZum Tod des Schauspielers, Regisseurs und Schauspielpädagogen Heinz Hellmichvon Anja Klöck | |
Vehemenz des ÜberanspruchsZum Tod der Schauspielerin Simone Frostvon Martin Linzer | |
Bücher | |
Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmentranscript Verlag, Bielefeld 2009, 277 S., 28,80 EUR.von Malda Denana | Seite 70 |
Heiner Müller: Traumtexte. Hrsg. von Gerhard AhrensSuhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 210 S., 13,80 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Radiovorschau | Seite 72 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 73 |
(19)Zwischen Schlössern und Katen oder Burgschauspieler im tiefsten Mecklenburg-Vorpommernvon Martin Linzer | |
etc. | Seite 74 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 74 |
Halle: Eklat am Thalia Theater wegen Antisemitismusvorwürfenvon Michael Bartsch | |
Frankfurt: Neues Versuchslabor für das Rhein-Main-Gebietvon Anna Teuwen | |
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Soll man die Schweiz doch auflösen?von Gunnar Decker | |
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