Heft 11/2010
Wer ist wir?
Neues deutsches Theater
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
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Nachdem Thilo Sarrazin eine weitere Debatte zum Thema Migration losgetreten hat, bauen Seehofer, Merkel und andere die Leitkultur bereitwillig als Drohkulisse auf. Mit der Pistole am Kopf Schillers ästhetische Erziehung in die Migrantenhirne trichtern, bis sie platzen - so schildert es provokant der 1974 in Ankara geborene Autor Nurkan Erpulat in seinem gemeinsam mit Jens Hillje entstandenen Stück „Verrücktes Blut", einer Bearbeitung des französischen Films „La journée de la jupe" für die Bühne (siehe Stückabdruck in diesem Heft). Nicht die Pädagogik, sondern das Theater ist gefordert, das Wort zu ergreifen, bringt Shermin Langhoff, künstlerische Leiterin des Ballhauses Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, die politische Situation auf den Punkt: „Das Theater muss diese Debatte anführen!" Der Autor und Regisseur Nuran David Calis, Stefan Kaegi von Rimini Protokoll und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi disku-tierten mit ihr, wie die Prägung der „neuen Deutschen" in das Theater eingebracht werden kann und warum sich die subventionierten Bühnen so schwertun, die von Migranten aufgebrachten Steuergelder in das brisante Thema zu investieren. Aber dass sich im Deutschland der dritten Generation etwas verschiebt, ist unabweisbar. Das zeigt auch der Heimathafen Neukölln, eine weitere Berliner Bühne, die nicht nur Postmigranten ins Theater holt, sondern auch Studenten, Bildungsbürger und jene Schichten, die gern als theaterfern beschrieben werden.
Jemand, der seit einiger Zeit und mit immer größerem Erfolg frischen afrikanischen Wind in die Szene bringt, ist das Regieduo Monika Gintersdorfer/Knut Klaßen. Die ers- ten Preisträger des vom Fonds Darstellende Künste ausgelobten George-Tabori- Preises porträtiert Renate Klett. Auch der neue Intendant der Münchner Kammerspiele Johan Simons eröffnet Aussichten, die über den binnenländischen Tellerrand hinausweisen. Wie das europäische Theater in die bayrische Hauptstadt einzieht, berichtet Christoph Leibold. Der Verantwortliche für die Raumgestaltung bei den Kammer- spielen ist Bert Neumann, dem sich das Künstlerinsert dieser Ausgabe widmet. Ute Müller-Tischler sprach mit dem Künstler, für den das zentrale Kriterium ist, sich nicht zu langweilen, nicht mit dem eigenen Tun in Routine zu verfallen.
Davon kann auch im Theater Osnabrück keine Rede sein. Schon länger kooperiert das Theater unter der Intendanz von Holger Schultze mit den Kollegen im bulgarischen Russe. Doch in diesem Jahr schrillen die Alarmglocken. Der Regierungswechsel in Bulgarien hat es in sich: Im Kulturbereich wird radikal gespart, erfahrene Intendanten müssen dem Gründer einer Business School weichen, der das richtige Parteibuch besitzt, weiß Dorte Lena Eilers zu berichten. Holger Schultze wendete sich sofort an den Deutschen Bühnenverein, der prompt an die Öffentlichkeit ging: „Wir fordern das Kulturministerium und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort zu stoppen!" Theaterrodungen werden jedoch nicht nur in Bulgarien durchgeführt, auch in Mecklenburg-Vorpommern will die Politik jenen Gesellschaftsvertrag mit dem Theater aufkündigen, der es verpflichtet, die Angelegenheiten der Gemeinschaft künst- lerisch zu verhandeln, erfuhr Gunnar Decker vor Ort.
Dass Theater wie Kunst ihren wesentlichen Impuls aus dem Unabgegoltenen nehmen, das resümiert Sebastian Kirsch in seiner Besprechung von Dimiter Gotscheffs und Mark Lammerts Übermalung von Godards „La Chinoise": „Ohne den Bezug bleibt nichts als eine gelbe Horizontale." Mit dem Erlöschen des Sterns der Utopie hat vornehmlich das Theater als gesellschaftliche Kunst viele seiner Markierungen verloren. Das hindert die Geschichte nicht daran, weitere enorme Umbrüche vorzunehmen. Die Frage ist nur: Hat das Theater die Kraft, daran zu partizipieren, oder will es mit „Hamlet" angesichts der Vergeblichkeit in Lethargie verfallen? Mehr, als das labyrinthisch verschachtelte Sein des Menschen immer neu ver- und auszumessen, kann und darf selbst das Theater nicht leisten.
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Setting of a DramaBühneninstallationenvon Bert Neumann | |
Porträt | Seite 8 |
Der Raum muss ein Geheimnis habenDer Bühnenbildner Bert Neumann über den Reiz des Flüchtigen, künstlerische Freiheit und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Bert Neumann | |
Neustart | Seite 12 |
Ein großer Haufen EinsamkeitJohan Simons verwandelt die Münchner Kammerspiele in einen Transitraum für Heimatlose, Hartz-IVler und Hundevon Christoph Leibold | |
Debatte | |
Neues deutsches Theater I: Eine Welt und tausend BlickeNuran David Calis, Stefan Kaegi, Shermin Langhoff und Azadeh Sharifi im Gespräch mit Frank Raddatz und Lena Schneidervon Frank M. Raddatz, Lena Schneider, Stefan Kaegi, Nuran David Calis, Shermin Langhoff und Azadeh Sharifi | Seite 15 |
Neues deutsches Theater II: Von Elefanten und anderen PalaststürmernAlle Welt redet von Integration – der Berliner Heimathafen Neukölln lebt sie. Und schreckt dabei auch vor sperrigen Randgruppen wie Studenten und Bildungsbürgern nicht zurückvon Lena Schneider | Seite 20 |
Porträt | Seite 23 |
Othello, wer ist das?Fragt sich Monika Gintersdorfer – und spielt in ihren Performances gemeinsam mit Kollaborateur Knut Klaßen Afrika und Europa beschwingt gegeneinander ausvon Renate Klett | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 26 |
König entartet, Kinder krankDimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an der Volksbühne Godards „La Chinoise“von Sebastian Kirsch | |
TdZ entdeckt | |
Musik ist kein GeschmacksverstärkerDie wundersamen Klangwelten des Komponisten, Musikers, Sounddesigners und Performers Kornelius Heidebrechtvon Friederike Felbeck | Seite 28 |
Heimat ist ein GefühlDie Stücke der Autorin Marianna Salzmann sind Plädoyers für die Komplexität des Menschenvon Mehdi Moradpour | Seite 29 |
Hochschulen | Seite 30 |
Käuzchenrufe und Ku-Klux-KandyDasArts in Amsterdam will für seine Studenten vor allem künstlerisches Labor sein – fern von Produktionszwängen und Spartendenkenvon Nicole Gronemeyer | |
Hausporträt | Seite 32 |
Spielen unterm DamoklesschwertWie das Theater Neubrandenburg/Neustrelitz mit der drohenden Kreisgebietsreform um seine künstlerische Identität ringtvon Gunnar Decker | |
Ausland | Seite 34 |
BlindflügeBulgarien versucht, sich Richtung Europa zu reformieren – und lässt dabei die Kultur auf der Strecke. Ein Reiseberichtvon Dorte Lena Eilers | |
Auftritt | |
Staatsschauspiel StuttgartBauen und Fällen: „Der Bau“ von Heiner Müller;„Teil der Lösung“ nach dem Roman von Ulrich Peltzer; „Missionen der Schönheit“ (UA) von Sibylle Bergvon Otto Paul Burkhardt | Seite 38 |
Berlin (Schaubühne): Das Auge der Köchin„Fräulein Julie“ nach August Strindberg. Regie Katie Mitchell und Leo Warner, Ausstattung Alex Ealesvon Gunnar Decker | Seite 40 |
Wien (Schauspielhaus): Über die Unmöglichkeit der Vollkommenheit„Bruno Schulz: Der Messias“ (UA) von Małgorzata Sikorska-Miszczuk. Regie Michał Zadara, Ausstattung Magdalena Musialvon Judith Staudinger | Seite 41 |
Mainz (Staatstheater): Ökodämmerung am Amazonas„Gegengipfel“ (UA) von Laura Fernández. Regie Philipp Löhle, Ausstattung Evi Wiedemannvon Marcus Hladek | Seite 42 |
Plauen / Zwickau (Theater Plauen-Zwickau): Keine Sterne über Hundsgrün„Schneemond“ von Christian Martin. Regie Roland May, Ausstattung Oliver Kosteckavon Christian Horn | Seite 43 |
Konstanz (Theater Konstanz): God’s away on business„Woyzeck“ von Georg Büchner, Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan. Regie und Ausstattung Andrej Woronvon Bianca Schillinger und Anna Schughart | Seite 44 |
Zürich (Theater an der Winkelwiese): Und nach zwei Minuten fangen sie wieder an„Haus des Friedens“ (SEA) von Lothar Kittstein. Regie Stephan Roppel, Ausstattung Marcella Incardonavon Simone von Büren | Seite 45 |
Lesarten | Seite 46 |
Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“gelesenvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 47 |
Ein Unding der Liebevon Ralph Hammerthaler | |
Autorengespräch | Seite 48 |
Menschen zu besseren Menschen machenDer Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Nurkan Erpulat und Patrick Wildermann | |
Stück | Seite 49 |
Verrücktes BlutFrei nach Motiven aus dem Film „Heute trage ich Rock“, Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeldvon Jens Hillje und Nurkan Erpulat | |
Magazin | |
Flanieren zwischen Orten und Ländern„Ciudades Paralelas / Parallele Städte“ – das Berliner Hebbel am Ufer als Ausgangspunkt für einen Parcours auf Reisenvon Patrick Primavesi | Seite 62 |
Auch wenn das Leben danebengehtDas 7. GlückAufFest „Dostoprimetschatelnosti“ der Neuen Bühne Senftenbergvon Martin Linzer | Seite 64 |
Was sonst nicht gehört wird„King Kongo – Eine skandalöse postkoloniale Revue“ erzählt auf dem Festival Fidena 2010 in Bochum vom schweren Erbe eines Landesvon Gerrit Münster | Seite 65 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | |
Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der ProduktionHrsg. von Irene Bazinger, Rotbuch, Berlin 2010, 304 S., 22,95 EUR, ISBN 978-3-86789-117-2.von Holger Teschke | Seite 66 |
Penelope Wehrli: raum partituren. Ich wohne in der MöglichkeitBenteli Verlag, Sulgen 2010, 332 S., 32 EUR, ISBN 978-3-7165-1615-7.von Tom Mustroph | Seite 66 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | Seite 67 |
Radiovorschau | Seite 68 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 69 |
(29): Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen oder Wie es zum 4. November 1989 kam. Eine Buchempfehlungvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 71 |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenBaden-Württemberg: „Musterländle“ der Kulturvon Otto Paul Burkhardt | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenHamburg: Zur Musical-Boomtown degeneriertvon Klaus Witzeling | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenHessen: Alle wurden errettet!von Marcus Hladek | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenMecklenburg-Vorpommern: Ein vorprogrammiertes Fiasko!von Gunnar Decker | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenNiedersachsen: Die Szene lebtvon Ralf Döring | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenSachsen: Lieber beim „Provinztheater“ sparenvon Michael Bartsch | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenSachsen-Anhalt: Ebbe und etwas Hubvon Christian Horn | |
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht AntwortenSchleswig-Holstein: Fällt der Vorhang endgültig?von Klaus Witzeling | |
Meldungen | Seite 72 |
Premieren | Seite 73 |
November 2010 | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Halle: Aussitzen ist outvon Christian Horn | |
Vorschau | Seite 80 |
Michael Bartsch
Otto Paul Burkhardt
Nuran David Calis
Gunnar Decker
Ralf Döring
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Nurkan Erpulat
Friederike Felbeck
Nicole Gronemeyer
Ralph Hammerthaler
Jens Hillje
Marcus Hladek
Christian Horn
Stefan Kaegi
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Shermin Langhoff
Christoph Leibold
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Gerrit Münster
Tom Mustroph
Bert Neumann
Patrick Primavesi
Frank M. Raddatz
Bianca Schillinger
Lena Schneider
Anna Schughart
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Judith Staudinger
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