Heft 12/2010
Das Geheimnis spielen
Die Schauspielerin Nina Hoss
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
„Die Gegenstände dienen nicht dazu, tückisch zu spielen. Sie sind tückisch.“ Solche Sätze fallen in Laurent Chétouanes Inszenierung von Handkes „Publikumsbeschimpfung“ recht häufig. Sebastian Kirsch war im Theater am Neumarkt in Zürich unterwegs, um auf einer leeren Bühne diesen chétouaneschen Subjekten ohne Subjektivität zu solchen Sätzen zuzuschauen. Eine Aufführung, die zumindest in der Beschreibung durch unseren Redakteur nachdenklich stimmt. Philippe Quesne dagegen, der 2003 sein Vivarium Studio gründete, situiert nicht die Tücke des Objekts, sondern dessen unendliche Anmut. Zu den unverwechselbaren Qualitäten dieser Formation gehören die Dinge der Alltagswelt, die dieses Theater der „transparenten Experimentierfläche“ vor unser aller Zuschaueraugen neu erfindet. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ bedeutet hier: Der Mensch wird von Beziehungen gespiegelt, allerdings den „Beziehungen des Einzelnen zu den Dingen, die ihn umgeben“, so Lena Schneider. Zwar sind die Dinge bekannt, aber in ihrer Zauberhaftigkeit nicht erkannt, demonstriert uns das Vivarium Studio und löst aus, was Brecht als Ziel aller Theaterkunst definierte: das Staunen.
Dagegen ist über Nina Hoss „bereits alles gesagt“, weiß Gunnar Decker, was ihn aber nicht hindern soll, in seinem Porträt vor der 35-Jährigen auf die Knie zu fallen, beeindruckt von einer Art des Auftretens, „wie es nur wirklich souveränen Menschen gegeben ist“. Wer will es ihm verdenken. Starjournalist Georg Stefan Troller warf einmal die Existenzialistenmuse Juliette Grèco mit der Frage „Wissen Sie überhaupt, was das ist, Existenzialismus?“ aus der Bahn. Solche Ungezogenheiten sind in Theater der Zeit kurz vor Weihnachten nicht zu erwarten. Für jeden, der erfahren will, wie die Begegnung Hoss/Decker trotzdem ein Echo auf die Eskapaden des legendären Urahnen wirft, ein unbedingtes „must-read“. Ebenso der Artikel von Dorte Lena Eilers, die sich „gegen die Vorbelichtung des Gehirns“ engagiert und uns an ihrem Streifzug durch die Opernwelt zwischen Berliner Staatsoper und freier Szene teilnehmen lässt. Bei Los trifft sie auf Schlingensief, den sein „Please! No music!“ nicht von der Bühne in Bayreuth fernhalten konnte, und später im Dunkel des gelebten Augenblicks bei Michael von zur Mühlen und Sebastian Baumgarten auf jenen Geist der Erneuerung, der mit der Unerschrockenheit aller „Drachentödter“ (Nietzsche) darauf sinnt, das konservative Musiktheater aus den Angeln zu heben. Dass die freie Szene auf dem Vormarsch ist und versteinerte Strukturen aufbricht, betrachtet TdZ seit längerem mit Wohlgefallen und erfreut sich mit Sebastian Kirsch, diesmal im Tandem mit Hanna Höfer, am Einmarsch des Kultduos Gintersdorfer/Klaßen ins Bochumer Stadttheater. Ohne zu viel zu verraten, sei vorweggenommen, dass es um Gott und Geld und Afrika geht, um Deutsch und Französisch, einen tanzenden Hund, der, als er noch ein Mensch war, tagtäglich eine Schüssel mit Gold vorgesetzt bekam, bis er einmal von einem Fremden Wechselgeld annahm, gerade genug, um eine Dose Hundefutter der Marke Chappi zu kaufen. Das entspricht in etwa dem Tatsachenroman aus Deutschland, wo Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren, weil sie unautorisiert Pfandbons einlösen, nur eben mit mehr Magie.
Um Wunder geht es auch Anna Teuwen, allerdings in säkularisierter Form, wo wir dann bekanntlich vom Ausnahmezustand sprechen. Das International Institute of Political Murder erprobt die Kunst des Reenactments, lesen wir im Titel und erfahren von der vorübergehenden Wiederbelebung Ceauşescus. Einem Diktator soll allerdings in unserem Jahresabschlussweihnachtsheft nicht das letzte Wort gelten. Ganz im Gegenteil. Frohgemut legen wir Nuran David Calis’ Lektüre von Büchners „Dantons Tod“ allen ans Herz, die Zukunft wollen.
In diesem Sinne wünscht Theater der Zeit all seinen Lesern frohe Festtage.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | Seite 2 |
Bühnenvon Philippe Quesne und Studio Vivarium | |
Porträt | |
Übungen im ÜberlebenZwischen Stillstand und Experiment – Philippe Quesnes Vivarium Studiovon Lena Schneider | Seite 8 |
Das Geheimnis spielenDie Schauspielerin Nina Hoss im Porträtvon Gunnar Decker | Seite 12 |
Schnittstellen | |
Gegen die Vorbelichtung des GehirnsDie Erneuerung der Oper aus dem Geist der freien Szene. Ein Streifzug durch Berlinvon Dorte Lena Eilers | Seite 16 |
Inseln der EitelkeitEin Plädoyer für die Reform der künstlerischen Hochschulen in Berlinvon Hartmut Meyer | Seite 21 |
Gespräch | Seite 24 |
Schlagt euch malChristian Schmidt, Intendant der Landesbühnen Sachsen, über die Novelle des sächsischen Kulturraumgesetzes, Solidarität und Kannibalismusvon Lena Schneider und Christian Schmidt | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 26 |
Ein unzustellbarer Brief ans PublikumLaurent Chétouane inszeniert am Theater am Neumarkt in Zürich Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“von Sebastian Kirsch | |
Neustart | |
Kunst oder Kult?Die Neuanfänge von Anselm Weber in Bochum und Christian Tombeil in Essen zeugen von der fortgesetzten Krise des Stadttheatermodellsvon Sebastian Kirsch und Hanna Höfer-Lück | Seite 28 |
Geschichten vom AnfangMit seinem Spielzeitmotto „Neu seit 1690!“ verbindet der Braunschweiger Generalintendant Joachim Klement in seinem Haus Tradition und Neuerungvon Patrick Wildermann | Seite 32 |
TdZ entdeckt | |
Die Inszenierung des UninszenierbarenDas International Institute of Political Murder erprobt die Kunst des Reenactmentsvon Anna Teuwen | Seite 34 |
Liebe auf PreußischDie Schauspielerin Corinna Mühle spielt Fontanes Frauen kraftvoll und dennoch rätselhaftvon Gunnar Decker | Seite 35 |
Ausland | Seite 36 |
Gespenster im NationalparkMike Pearson inszeniert „Die Perser“ auf einem Militärgelände in Walesvon Patrick Primavesi | |
Auftritt | |
Luzern: Im Kampf mit Knopfgießer TodLuzerner Theater: „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne Vytautas Narbutas, Kostüme Filippía Elisdóttirvon Simone von Büren | Seite 38 |
Cottbus. Leiden an UtopiaStaatstheater Cottbus: „Fürst Pücklers Utopia“ (UA) von Christoph Klimke. Regie Johann Kresnik, Ausstattung Marion Eiselevon Gunnar Decker | Seite 39 |
Dessau. Im Rhythmus der SpieluhrAnhaltisches Theater: „Doktor Mabuse“ (UA) nach Norbert Jacques und Fritz Lang. Regie und Textfassung André Bücker, Bühne Jan Steigert, Kostüme Katja Schröpfer und Jan Steigertvon Lena Schneider | Seite 40 |
Magdeburg. Die Gespenster vom RücksitzTheater Magdeburg: „Die Geschichte der Zukunft“ (DSE) von Christian Lollike. Regie Alexander Marusch, Ausstattung Gregor Sturmvon Cornelia Steinwachs | Seite 41 |
Lübeck. Des Führers erschlichene SeelenTheater Lübeck: „Doktor Faustus“ (UA) von John von Düffel nach Thomas Mann. Regie Pit Holzwarth, Ausstattung Werner Brennervon Klaus Witzeling | Seite 42 |
Trier. Die unruhige Geschichte der UnabhängigkeitTheater Trier: „Mitternachtskinder“ (DSE) nach dem Roman von Salman Rushdie. Textfassung Salman Rushdie, Simon Reade und Tim Supple, Regie Stefan Maurer, Ausstattung Anja Jungheinrichvon Roman Schmitz | Seite 43 |
Lesarten | Seite 44 |
Georg Büchner: „Dantons Tod“gelesenvon Nuran David Calis | |
Kolumne | Seite 45 |
Überlebensdauertrugvon Josef Bierbichler | |
Autorengespräch | Seite 46 |
Mechanismen der GewaltDer katalanische Autor und Regisseur Albert Mestres im Gespräch mit Mehdi Moradpour Sardehaievon Mehdi Moradpour und Albert Mestres | |
Stück | Seite 47 |
Echtzeitvon Albert Mestres | |
Verlage im Porträt (8) | Seite 57 |
Heimat für junge Autoren seinAcht Fragen an Steffen Weihe, Geschäftsführer von Pegasus Medienagentur und Theaterverlag in Berlinvon Patrick Wildermann und Steffen Weihe | |
Magazin | |
Vom Schiffbauerdamm zum Sunset BoulevardArmin Mueller-Stahl zum Achtzigstenvon Holger Teschke | Seite 58 |
Feiern mit FreundenDas Festival euro-scene in Leipzig begeht sein 20-jähriges Bestehenvon Christian Horn | Seite 60 |
Zuschauen als RitualAußer Dienst heißt im Theater – Der Theaterstammtisch am Centraltheater in Leipzigvon Christian Horn | Seite 61 |
Wer hat hier „Theater“ gesagt?Der steirische herbst in Graz arbeitet an der Auflösung von Genregrenzenvon Hermann Götz | Seite 62 |
Die tapfere Johanna von NürnbergDas Kindertheater Mummpitz feiert seinen 30. Geburtstagvon Rainer Hertwig | Seite 64 |
Kritisches Denken und Lust am SpielDas 1. Kolloquium des europäischen Theaternetzwerks Prospero in Tampere, Finnland, diskutiert soziale Utopien in den Performing Artsvon Avra Xepapadakou | Seite 65 |
Was will das Werk?Zum Tod des Musiktheaterregisseurs und ehemaligen Leipziger Operndirektors Joachim Herz (1924–2010)von Hans-Jochen Irmer | Seite 66 |
Mit ruhiger HandZum Tod des ehemaligen Intendanten der Volksbühne Fritz Rödel (1930–2010)von Martin Linzer | Seite 67 |
Mit großbürgerlicher GrandezzaZum Tod des Schauspielers Ezard Haußmann (1935–2010)von Gunnar Decker | Seite 67 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | Seite 68 |
Otto Mellies: An einem schönen Sommermorgen ... Erinnerungen.Das Neue Berlin, 2010, 256 S., 19,95 EUR, ISBN 978-3-360-01997-4von Martin Linzer | |
Elisabeth Plessen (Hg.), Peter Zadek: Die Wanderjahre 1980–2009.Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 528 S., 24,95 EUR, ISBN 978-3-462-04201-6von Gunnar Decker | |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 70 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 71 |
(30): Jugendgangs prügeln sich vor Troja-Disco oder Von Tschechow zu Kleist. Vorahnungenvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 72 |
Großbritannien: Proteste gegen angekündigte Sparmaßnahmenvon Lydia Ziemke | |
Bonn: Theater Bonn befürchtet weitere Amputationen im Spielbetriebvon Andreas Rehnolt | |
Meldungen | Seite 73 |
Premieren | Seite 76 |
Dezember 2010 | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Gera/Altenburg: Wut als ständige Begleiterinvon Michael Helbing | |
Vorschau | Seite 80 |
Theater der Zeit |
Josef Bierbichler
Nuran David Calis
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Hermann Götz
Michael Helbing
Rainer Hertwig
Hanna Höfer-Lück
Christian Horn
Hans-Jochen Irmer
Sebastian Kirsch
Martin Linzer
Albert Mestres
Hartmut Meyer
Mehdi Moradpour
Patrick Primavesi
Philippe Quesne
Andreas Rehnolt
Christian Schmidt
Roman Schmitz
Lena Schneider
Cornelia Steinwachs
Holger Teschke
Anna Teuwen
Studio Vivarium
Simone von Büren
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