Wer sich fragt, wo im deutschen Theater in den letzten Jahren Innovatives zu finden gewesen ist, stößt unweigerlich auf die freie Szene. Die Freelancer, zumeist ausgestattet mit Innovationsmotoren made in Gießen, sind die eigentlichen Gewinner der Nullerjahre. Ihren neuen Theaterformen, die sich oft völlig unabhängig von der Literatur bewegen, ist gelungen, was den schwerfälligen Apparaten der Stadttheater immer weniger gelingt: Freiräume des Theaters jenseits der Repräsentationsmühle zu erschließen. Dass die zumeist in Truppen organisierten Theaterkollektive, gerade weil sie mit äußerst geringen Mitteln ausgestattet sind, genötigt sind, überregional oder international zu operieren, gehört zu den Paradoxien der Landschaft. Die Szene boomt – und Annemie Vanackere von der Rotterdamse Schouwburg, Guy Gypens vom Kaaitheater Brüssel und Kathrin Tiedemann vom Forum Freies Theater Düsseldorf fragen sich, ob die Szene jetzt von einer Überproduktionskrise erfasst wird, sprich, dass die ohnehin knappen Mittel auf immer mehr Akteure zersplittert werden. Frank Raddatz leitet mit diesem europäischen Auftakt unsere neue Reihe „Perspektiven der freien Szene“ ein, die in regelmäßiger Abfolge Künstler und Produzenten vorstellt.
In diesen Kontext gehört auch Raddatz’ Essay über zwei Formen des Authentischen, die er am Beispiel der Arbeiten von Rimini Protokoll und der „Dritten Generation“ von Yael Ronen aufzeigt. Die Problematik von Präsenz und Abwesenheit thematisiert auch Kathrin Rögglas Stück „die unvermeidlichen“ über die Prozeduren politischer Repräsentationen und die Qual der Entscheidungsfindung in einer globalen Welt aus der Sicht der Dolmetscher. Das Authentische ist das Zauberwort der Stunde, stellt die harte Währung in einem von der Krise der Repräsentation verunsicherten Markt bereit. Noch scheinen die Währungsreserven sicher. Vor allem in der Schweiz. Sebastian Kirsch sprach mit dem Meister des Echos Hans Peter Litscher über Greta Garbo, Thomas Mann, George Tabori und das verschollene und wiedergefundene Drehbuch „Magic Mountain“. Eine zauberhafte Reise in entlegene Welten. Fast eine Marienerscheinung war offenbar auch Gunnar Deckers Begegnung mit Sophie Rois, die entzückt über das von Decker unbedachtsam, aber instinktsicher eingeworfene Wort Kindlichkeit stolperte. Schließlich war auch für den alten Brecht Naivität ein Schlüsselbegriff des Theaters, deren Strahlung sich potenziert, wenn sie sich mit kalter Intellektualität paart, wie bei „Zuchtmeister Toscanini“, in dessen dirigierende Hände sich das großartige Theaterwundertier gern auch einmal begeben hätte.
Ein anderes Exemplar dieser seltenen Geschöpfe ist Heinrich von Kleist. Von seiner Zeit verkannt, stellt Alexander Weigel den umstrittenen Romantiker in Zitaten dar und übt sich geschickt in dieser Kunst. Kein Zufall wohl, dass sich auf dem Boden, der „Familie Schroffenstein“ und „Penthesilea“ hervorbrachte, das hoffmanneske Märchen DDR zutrug. So jedenfalls sieht es Starautor Uwe Tellkamp, dessen Roman „Der Turm“ jetzt in Potsdam und Dresden auf die Bretter kam. Lena Schneider fragt nicht nur, wie westliche und östliche Blicke einander schneiden, nein, viel entscheidender, ob die Vorlage überhaupt taugt, den Ort der DDR in der deutschen Geschichte zu bestimmen. Eine Aufgabe, die zu den dringlichsten gehört, welche die deutschen Bühnen zu leisten hätten. Besondere Aufmerksamkeit sei dem kurzen Zwischenruf Etel Adnans gewidmet. Während unter dem Diktator Saddam Hussein das Theater und die Künste im Irak gefördert wurden, haben die vom Westen installierten Machthaber nun den Unterricht für Theaterspiel und Tanz verboten. Kein weiterer Kommentar.
Die Redaktion
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Künstlerinsert | Seite 2 |
„Con Garbo nei Grigioni“ –Eine mobile Installation von Hans Peter Litscher am Theater Churvon Hans-Peter Litscher | |
Porträt | |
The survival of the fittest storyDer Echosammler, Spurensucher, Regisseur und Autor Hans Peter Litscher im Gesprächvon Sebastian Kirsch und Hans-Peter Litscher | Seite 8 |
Die UnerreichteAls ob ein Sturm aufzöge – Die Schauspielerin Sophie Roisvon Gunnar Decker | Seite 12 |
Freie Szene | Seite 17 |
Die Krise der ÜberproduktionDie künstlerischen Leiter Guy Gypens (Kaaitheater Brüssel), Kathrin Tiedemann (FFT Düsseldorf) und Annemie Vanackere (Rotterdamse Schouwburg) im Gesprächvon Frank M. Raddatz, Kathrin Tiedemann, Guy Gypens und Annemie Vanackere | |
Ausbildung | Seite 20 |
Unsichtbare ErmöglicherTransitzonen zwischen Ausbildung und professioneller Karriere – Als Institutionen bleiben die belgischen Werkplaatsen gern im Hintergrund, wenn es der Kunst dient. Ein Besuch in Antwerpenvon Katja Herlemann | |
Essay | Seite 23 |
Das Doppelgesicht des EchtenTabubruch und Authentizität im politischen Theatervon Frank M. Raddatz | |
Kleist 2011 | Seite 26 |
Rochus Pumpernickel und Pachter FeldkümmelKleist 2011 (2): Heinrich von Kleist über das Theater seiner Zeitvon Alexander Weigel | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 30 |
Volkskrankheit GesternKann man Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ auf die Bühne bringen? – Versuche in Dresden und Potsdam zeigen: Man kann. Aber eigentlich sollte man vor allem mit der Vorlage streitenvon Lena Schneider | |
Neustart | Seite 32 |
Rechnen, sparen, retten!Wie der neue Intendant Peter Grisebach mit klugen Kürzungen und künstlerischem Kalkül das Landestheater Schleswig-Holstein vor der Abwicklung der Opernsparte bewahrtvon Klaus Witzeling | |
TdZ entdeckt | |
Der BilderstrudlerDer Regisseur Robert Borgmann sucht durch die Zentrifuge der Sinne den Zusammenhang der Dingevon Christian Horn | Seite 34 |
Die WeltzweiflerinDie Schauspielerin Anja Barth macht ihre Figuren unverkennbar unkenntlichvon Friederike Felbeck | Seite 35 |
Auftritt | |
Berlin: Fluch und Gnade des VergessensDeutsches Theater: „Der Mann ohne Vergangenheit“ von Aki Kaurismäki. Regie Dimiter Gotscheff, Bühne Katrin Brack, Kostüme Ellen Hofmannvon Gunnar Decker | Seite 36 |
Berlin: Fluch und Gnade des VergessensDeutsches Theater: „Alle meine Söhne“ von Arthur Miller. Regie Roger Vontobel, Bühne Claudia Rohner, Kostüme Dagmar Fabischvon Gunnar Decker | Seite 36 |
Berlin: Vor den abgewandten Augen der ÖffentlichkeitHebbel am Ufer: „Darfur – Mission incomplete“ (UA) von Hans-Werner Kroesinger. Regie Hans-Werner Kroesinger, Bühne Valerie von Stillfried, Kostüme Johanna Sophie Spichalskyvon Sebastian Kirsch | Seite 38 |
Meiningen: Unter NachttöpfenStaatstheater: „Der Maler des Königs“ (UA) von Peter Hacks. Regie Christian Martin Claas, Bühne Helge Ullmann, Kostüme Julia Pommervon Gunnar Decker | Seite 39 |
Wien: Vom Reiseland Illyrien zum Krisenland ArgolisBurgtheater: „Was ihr wollt“ von Shakespeare. Regie M. Hartmann, Bühnenbild St. Laimé, Kostüme T. Kloempken; „Phädra“ von Racine. Regie M. Hartmann, Ausstattung J. Schützvon Friedrich Dieckmann | Seite 40 |
Zürich: Dunkle Spiegel, manipulierte SpieleSchauspielhaus: „Edgar Allan Poe – A Dream Within a Dream“ (UA). Regie B. Frey, Ausstattung P. Wehrli; „Biokhraphia“ (DSE) von Lina Saneh und Rabih Mroué. Regie T. Jonigk, Ausstattung R. Beilharzvon Simone von Büren | Seite 42 |
Szczecin: Helden in SchieflageTeatr Współczesny: „Judith“ (PEA) von Friedrich Hebbel. Regie Wojtek Klemm, Bühne Mascha Mazur, Kostüm Julia Kornackavon Sabrina Hofer | Seite 44 |
Kommentar | Seite 45 |
Ein Nagel für den Sarg Irakvon Etel Adnan | |
Lesarten | Seite 46 |
Elfriede Jelinek: „Die Wand (Der Tod und das Mädchen V)“von Sebastian Kirsch | |
Kolumne | Seite 47 |
Mister Ticketvon Ralph Hammerthaler | |
Autorengespräch | Seite 48 |
Die Schatten der politischen RepräsentationDie Autorin Kathrin Röggla im Gesprächvon Lena Schneider und Kathrin Röggla | |
Stück | Seite 49 |
„die unvermeidlichen“von Kathrin Röggla | |
Magazin | |
Robinson im Schützengraben –Zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhardvon Gunnar Decker | Seite 62 |
72 Stunden in Burkina Faso:Start- Up mit Soja und Blech – Das Festival Récréatrâles in Ouagadougou formiert sich zum wichtigsten Treffpunkt westafrikanischen Theatersvon Dorothea Marcus | Seite 64 |
NachrufeDer rebellische Patient. Zum Tod des Schauspielers, Theaterregisseurs und Intendanten Gerd Michael Hennebergvon Martin Linzer | Seite 66 |
NachrufeFeuerkopf und Revoluzzer. Zum Tod des ehemaligen Magdeburger Intendanten und Professors der Berliner Ernst-Busch-Schule Hans-Diether Mevesvon Martin Linzer | Seite 66 |
NachrufeHass und Liebe, Triumph und Sturz. Zum Tod des Leipziger Schauspielers Günter Grabbertvon Matthias Caffier | Seite 67 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | Seite 68 |
Christoph Türcke: Philosophie des TraumsC. H. Beck, München 2009, 252 S., 24,90 EUR, ISBN 978-3-406-57637-9von Frank M. Raddatz | |
Christina Schmidt: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theatertranscript Verlag, Bielefeld 2010, 374 S., 35,80 EUR. ISBN 978-38376-1413-8von Fabian Lettow | |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 70 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 71 |
(32): Hier ein Türmchen, dort ein Türmchen oder Muss sich das zeitgenössische Theater mit Surrogaten zufriedengeben? Zwischenruf mit Fragenvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 72 |
Berlin: Das Theater RambaZamba spaltet sich in Unfriedenvon Patrick Wildermann | |
Meldungen | Seite 73 |
Premieren | Seite 74 |
Februar 2011 | |
Vorschau | Seite 79 |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Jörg Gudzuhn?von Martin Linzer und Jörg Gudzuhn |
Etel Adnan
Matthias Caffier
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Jörg Gudzuhn
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