Heft 02/2012
Thomas Ostermeier
Die Masken der Macht
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Es gab Bücher in der DDR, die waren ,Bückware‘, wie die Bücher von Christa Wolf, Christoph Hein, Werner Heiduczek und vielen anderen. ,Bückware‘ wegen des Bückens beim Verkauf unterm Ladentisch, weil die Nachfrage viel größer war als die Auflage. Die Schriften Václav Havels aber durften nicht einmal ,Bückware‘ sein, sie waren verboten", erinnert sich Sewan Latchinian, Intendant der Neuen Bühne Senftenberg, an eine Ära, als Politik und Theater noch unauflösbar verklammert waren. Der tschechische Dramatiker verstarb 75-jährig am 18. Dezember 2011. Wie wenige sorgte er mit seinen Texten dafür, dass das „Jahrhundert der Extreme" (Eric Hobsbawm), das so viele Hoffnungen zu wecken verstand und so wenige erfüllte, jäh zu Ende ging. Sein größter dramatischer Erfolg ist „Das Gartenfest", das wir in diesem Heft neben einem Nachruf veröffentlichen.
Da aber das Jahr 1989 die politischste aller Fragen, die Frage nach Gerechtigkeit, nicht beantwortet hat, verschlug es Dorte Lena Eilers auch nicht in posthistorische Räume jenseits der Geschichte, als sie in der Weihnachtszeit Thomas Ostermeiers Premiere „Fräulein Julie" am Theater der Nationen in Moskau besuchte, sondern mitten in das brodelnde Leben des Politischen. In bislang in der Ära Putins noch nicht bekanntem Maße begehren seit ein paar Wochen Russlands Bürger gegen die Wahlfälschungen auf, die dem Regime nach den Dumawahlen im Dezember vorgeworfen werden, während der Schaubühnenchef als Fräulein Julie eine Oligarchentochter präsentiert, die „bezaubernd schön, aber auch arm an eigenen Gedanken" ist - was ja durchaus ins aufgeklärte Bild passt. Während Theater-Deutschland immer noch mit der Strukturdebatte „Stadttheater versus freie Szene" beschäftigt ist, wie das anschließende Gespräch mit dem Regisseur und Theaterleiter zeigt, kommt man in Russland derzeit an Realpolitik nicht vorbei. Selbst wenn man gern würde, wie der russische Dramatiker, Regisseur und Leiter des Moskauer Untergrundtheaters Teatr.doc Michail Ugarow sagt: „Wir beschäftigen uns mit der Realität, dafür braucht man eine zivilgesellschaftliche Position. Die Realität ist aber auch ein Bereich der Politik, insofern ist unser Theater politisch." So viel Moskau, so viel Renaissance des Politischen war schon lange nicht mehr in Theater der Zeit. Dass Dagmar Manzel, einfühlsam porträtiert von Gunnar Decker, zurzeit ausgerechnet „Die Sieben Todsünden" aus Brechts unerschöpflicher Asservatenkammer vorbereitet, scheint so gesehen kein Zufall. Aus der gegenwärtigen Perspektive liest sich sogar im Nachhinein ein Misserfolg wie Matthias Langhoffs Inszenierung „Die Trachinierinnen" aus den neunziger Jahren neu. „Alles wird jetzt schön sein, aber warum ist es mir nicht gut dabei?", fragte Dagmar Manzel als Deianeira und tanzte sich zu Tode. Jetzt antwortet Gunnar Decker ihr: „Die Geschichte als Beute, die Obszönität des Siegens - darum geht es." Heute, wo der neoliberale Charakter von Ackermann bis Wulff mehr und mehr seine Maske herunterlässt, werden die Dinge wieder kenntlich, um die so lange ein konturloser Nebel wallte. In Mülheim spürt Sebastian Kirsch im Pirandello-Projekt des Theaters an der Ruhr geheimen Gesten und Befehlen nach, mit denen unsere mediale Informationsgesellschaft sich weiter ein regressives und autoritätshöriges Unbewusstes leistet: „Ciulli und Schäfer fahnden letztlich nach sprachlosen ‚Mikrofaschismen‘, die nicht einfach Sache von bewusster ideologischer Entscheidung sind, sondern in Körpern, Gesten und Affekten stecken und die zu bezähmen so schwierig wie dringlich ist." O-Ton Sebastian Kirsch. Erstaunlicherweise wendet sich auch das Theater in Ingolstadt unter seinem neuen Leiter Knut Weber faschistischen Dispositionen in Form einer Romanvorlage von Marieluise Fleißer zu. Auch hier ein misstrauisches Beäugen des Vergangenen, das so vollkommen vergangen nicht scheint. Nach dem fantastischen Anfangserfolg mit „Amphitryon" in der Regie von Hüseyin Michael Cirpici ist das Theater weiter auf einem Weg, der Beachtung verdient, urteilt unser Mann in Bayern, Christoph Leibold, mit der Sachkenntnis des Vielgereisten. Alles in allem eine Renaissance des Politischen, die zu denken geben sollte, versucht sie doch das Urteil Alain Badious zu widerlegen, die Kunst sei schuld an der gegenwärtigen Misere, weil sie sich als zu schwach zeige, ihren politischen Auftrag zu erfüllen. Vielleicht wird doch noch das Diktum Philippe Lacoue-Labarthes aus seinem Wagner-Buch gegengezeichnet: Es gehöre zur Wesensbestimmung und zur „höchsten Ambition" der Kunst und insbesondere des Theaters, dass es eben nicht von „Politik unberührt sich behaupten kann". Die Redaktion
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Thema | |
KünstlerinsertRecherchefotos aus Moskauvon Jan Pappelbaum | Seite 4 |
Die Nacht des ChauffeursThomas Ostermeier inszeniert in Moskau Strindbergs „Fräulein Julie“von Dorte Lena Eilers | Seite 8 |
Hinter den Masken der MachtThomas Ostermeier über den Turbokapitalismus in Russland und die McKinsey-Manier der deutschen Stadttheaterdebatte im Gesprächvon Dorte Lena Eilers | Seite 12 |
Ermittlungen aus dem KellerlochMichail Ugarow über politisches Theater in Russlandvon Olga Galachowa | Seite 16 |
Protagonisten | |
Die ÜbergängerinDie Schauspielerin Dagmar Manzel im Porträtvon Gunnar Decker | Seite 18 |
Am SehnsuchtsflussDer neue Ingolstädter Intendant Knut Weber will die Stadt an der Donau wieder mit der Welt verbinden – über ein Theater, das durch Reibung Funken schlägtvon Christoph Leibold | Seite 22 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 26 |
Mühlheimer MarionettenDas „Pirandello-Projekt“ des Theaters an der Ruhr entdeckt den italienischen Avantgardisten neuvon Sebastian Kirsch | |
Look Out | |
Spaßfaktor BricolageWie die Performancegruppe machina eX den Zuschauern Autonomie beibringtvon Mirka Döring | Seite 28 |
Stumm sein und trotzdem leuchtenDie Schauspielerin Karoline Bär hat das Zeug zu einer Tragödinvon Monika Beer | Seite 29 |
Abschied | Seite 32 |
Vom Versuch, in Wahrheit zu lebenZum Tod des Politikers und Dramatikers Václav Havelvon Sewan Latchinian | |
Stück | Seite 34 |
Václav Havel: Das GartenfestDeutsch von August Scholtisvon Václav Havel | |
Kolumne | Seite 49 |
Da heißt's einteilen!Über den Weg Europas in die Postdemokratievon Josef Bierbichler | |
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Berlin: Das Leben, ein Loopin der Regie von Barbara Wysocka und „Tage unter“ (DSE) von Arne Lygre in der Regie von Stéphane Braunschweigvon Lena Schneider | Seite 50 |
„Tage unter“ (DSE) von Arne Lygre in der Regie von Stéphane Braunschweigvon Gunnar Decker | Seite 50 |
Berlin: Philosoph des AbrissgebietsDeutsches Theater "Jochen Schanotte von Georg Seidel in der Regie von Frank Abt, Bühne : Anne Ehrlich, Kostüme Marie Rothvon Frank Abt | Seite 52 |
Bochum: Aus Europas Hinterhof„Das Leben ist kein Fahrrad“ (UA) von Biljana Srbljanovic in der Regie von Anselm Webervon Friederike Felbeck | Seite 53 |
Luzern:Prothesenfrei im Deux-Pièces„Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt in der Regie von Wojtek Klemmvon Simone von Büren | Seite 54 |
Nürnberg: Immerzu, immerzu!„Woyzeck“ von Georg Büchner in der Regie von Christoph Mehlervon Christoph Leibold | Seite 55 |
Wien: Zwischen kreischenden Seelen„der Garten“ (UA) von Anja Hilling in der Regie von Felicitas Bruckervon Anna Opel | Seite 56 |
Magazin | |
In eigener Sache„Die neue Freiheit – Perspektiven des bulgarischen Theaters“ | Seite 57 |
Was für eine Insel!Die fabelhafte Welt des Andersseins – Das Berliner Theater RambaZamba spielt Shakespeare und das Willy-Brandt-Haus zeigt Sibylle Bergemanns Fotos der Truppe | Seite 58 |
Lehr uns, wahnsinnig zu bleibenDie erste Hamburger Ausgabe des Nordwind- Festivals huldigte lieber dem Exzess als der Exzellenz | Seite 60 |
Deutschland ortlosDie Brunnenoper zeigt im Dresdener Societaetstheater „Heinrich von Kleist spielt Michael Kohlhaas“ | Seite 62 |
Kirsch KontexteWer war Hans Schleif? | Seite 63 |
Vom Löwen, der schreiben wirdWie eine junge Generation von Theatermachern in Afghanistan die kulturelle Identität des Landes neu zu definieren versucht | Seite 64 |
Jürgen HentschThomas Thieme erinnert sichvon Thomas Thieme | Seite 66 |
Gefährdet und stolz und wildZum Tod der Schauspielerin Lola Müthelvon Friederike Felbeck | Seite 66 |
Linzers EckWer schmeißt denn da mit Lehm? | Seite 67 |
BücherWolfram Ette: Kritik der Tragödie, C. Bernd Sucher: Meine kleine Theater-Lebenshilfe, Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.): Politisch Theater machen. | Seite 68 |
Aktuell | Seite 70 |
Aus den Korrespondentenbüros | |
Kommentar | Seite 71 |
Der gefakte RepräsentantFrank Raddatz über das Symptom Wulffvon Frank M. Raddatz | |
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In Nachbars GartenDer Februar in Kunst, Hörspiel, Film und Musik | Seite 74 |
Premieren Februar 2012 | Seite 76 |
Autoren, Impressum, Vorschau | Seite 79 |
Was macht das Theater? | Seite 80 |
Was macht das Theater, Árpád Schilling?Árpád Schilling im Gespräch mit Andrea Tompa |
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