Heft 10/2013
Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand
Fragen an die deutsche Wirklichkeit
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Ein weltweit bekanntes Dorf liegt in Gallien. Das kleine Dorf, von dem wir im Künstlerinsert Bilder zeigen, liegt in Mecklenburg-Vorpommern: Nossendorf. Hier führt Hans-Jürgen Syberberg seit vielen Jahren einen Kampf um die Rückgewinnung jenes Glücks, das ihm dieser Ort, in dem er 1935 geboren wurde, einmal gewährte. „Lebt er einen Traum? Vielleicht. Gewiss aber lebt er die Erinnerung an etwas, das nicht nur im Gestern wurzelt, sondern durch alle Zeiten geht“, so Gunnar Decker über die Verwüstung von Heimat durch deutsche Geschichte.
Über das Verhältnis von Geschichte und Zukunft sprach Peter Stein im Rahmen unserer im September begonnenen Diskursreihe „Zurück in die Zukunft“ mit Frank Raddatz. Er moniert, dass für uns Theaterleute das größte Problem nicht darin liege, dass die Hoffnung auf eine bessere Welt verloren gegangen sei, sondern in der Tatsache, dass aufgrund der momentanen Lebenseinrichtung, aufgrund der Medien, aufgrund der Erfindung des Internets eine noch längst nicht abgeschlossene Privatisierung des öffentlichen Sektors stattgefunden hat und stattfindet.
Christoph Hein, dessen Roman „Weiskerns Nachlass“ sowohl in Weimar als auch beim 10. GlückAuf-Fest in Senftenberg aufgeführt wird, beschäftigt ebenfalls der Verlust von Zukunft. „Ohne Zukunft gibt es aber auch keine Utopien“, weiß Hein, der im Gespräch mit Martin Linzer anschaulich machte, wie jede neue Krise systematisch die Bürger enteignet, ohne dass die Probleme gelöst werden. Auch auf Ingo Schulze wirkt die deutsche Wirklichkeit verloren. Gegenüber Dorte Lena Eilers interpretiert er Andersens Märchenmotiv von den neuen Kleidern: „Das Erschreckende ist, dass die einfachsten Dinge nicht mehr als Maßstab genommen werden. Wo jedes Kind sagt: So haut das doch nicht hin.“ Aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen hat der Suhrkamp-Verlag den Abdruck der Senftenberger Bühnenfassung von „Weiskerns Nachlass“ untersagt, der ab S. 48 geplant war. Stattdessen drucken wir dort „Das Fest“ in Erinnerung an den kürzlich verstorbenen Autor Klaus Rohleder.
In Weimar zeigte sich Gunnar Decker davon beeindruckt, wie Hasko Weber das Deutsche Nationaltheater steuert: „Was das Stadttheater heute braucht, das sind Projekte mit langem Atem. 1919 wurde hier im Theater die Verfassung der Weimarer Republik beschlossen! Deren 100-jähriges Jubiläum ist für Weber ein Thema.“ Jahrhundertbögen schlugen in Anwesenheit von Holger Teschke auch Durs Grünbein und Michael Hagner, die den Weg von Georg Büchners dramatischen Entwürfen zu Big Data verfolgen. Grünbein weist darauf hin, „dass mit Beginn des 18. Jahrhunderts die Biologisierung des Menschen einsetzt. Büchner war der Erste, der den biologisierten Menschen ins Zentrum stellte.“ Hagner sieht Verbindungen zu utopischen Menschenentwürfen: „Ein anderer Aspekt des Glaubens an den ‚neuen Menschen‘ lag in der Reflexlehre, in diesem irren Projekt einer kollektiven Reflexologie, die auf die Frage hinauslief, ob man damit vielleicht die Massen steuern könnte. … Diese Ideen sind längst noch nicht verabschiedet, wenn man an das Manipulationspotenzial von Big Data denkt.“
Dorte Lena Eilers erlebte in Bulgarien 2013 als das Jahr der Proteste. Auch hier geht es um Manipulation. Die organisierte Kriminalität, kurz: Mafia, bestimmt im ärmsten Land Europas weite Teile des Lebens. „Seit über zwanzig Jahren warten die Leute hier auf bessere Zeiten, während in den Hinterzimmern die Unterwelt Champagner trinkt.“ Das Theater sah lange mit derbem Witz darüber hinweg. Doch im Zuge der Proteste hat es nun selbst seine politische Kraft entdeckt. „Unsere Mission ist es, … jene Sinne zu wecken, die den Menschen zu mehr machen als einer schläfrig konsumierenden Einheit“, heißt es in dem Manifest der Dokumentartheater-Gruppe Vox Populi. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Fotos für das Tagebuch aus Nossendorfvon Hans Jürgen Syberberg | Seite 6 |
Die NichtidylleDer Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg arbeitet am Gegenweltmodellvon Gunnar Decker | Seite 10 |
Thema: Deutsche Wirklichkeit | |
Ohne Turbulenzen?Das 10. GlückAufFest der Neuen Bühne Senftenberg nimmt die Zuschauer mit auf einen Langstreckenflug durch die deutsche Realitätvon Theresa Schütz | Seite 12 |
Die Beobachtung des BeobachtersDer Autor Ingo Schulze über seinen gesellschaftssezierenden Essay „Unsere schönen neuen Kleider“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Ingo Schulze | Seite 16 |
Rasender StillstandDer Autor Christoph Hein über eine Wirklichkeit, die nicht mehr nach dem Humanismus fragt, im Gespräch mit Martin Linzervon Christoph Hein und Martin Linzer | Seite 18 |
Protagonisten | Seite 22 |
Doping für die UtopieHasko Weber, der neue Generalintendant, spielt in Weimar gegen den musealen Sog anvon Gunnar Decker | |
Zurück in die Zukunft | Seite 26 |
Das kommende KollektivPeter Stein über die Zukunft des Theaters als letzte Bastion der Öffentlichkeit, befragt von Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Peter Stein | |
Kommentar | Seite 29 |
Elite als Sozialfall?Die Künstlersozialkasse ist in Gefahrvon Gunnar Decker | |
Protagonisten | Seite 30 |
Dramaturgie der AutopsieWie die Naturwissenschaften das dramatische Werk von Büchner und Brecht beeinflussten – Ein Gespräch mit Durs Grünbein und Michael Hagner anlässlich des 200. Geburtstags von Georg Büchnervon Holger Teschke, Durs Grünbein und Michael Hagnerzum Online-Extra: Gespräch mit Durs Grünbein und Michael Hagner | |
Kolumne | Seite 33 |
Words, Words, Wordsvon Hans-Thies Lehmann | |
Festival | Seite 34 |
Die MaximalperformanceBeim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg sind die Grenzen zwischen den Genres fließend – wortwörtlichvon Mirka Döring | |
Look Out | |
Im ZuschauertrainingWie das freie Ensemble werkgruppe2 das Publikum daran hindert, sich zurückzulehnenvon Claudia Niemann | Seite 36 |
Auf PuppenstubengrößeDer Regisseur Klaus Gehre schafft lustvoll Spielanordnungen, die den Blick auf Verborgenes schärfenvon Bodo Blitz | Seite 37 |
Ausland | Seite 38 |
Verbrechen und ZornIn Bulgarien ist 2013 das Jahr der Proteste: Schluss mit der Mafia, heißt es. Auch das Theater mischt kräftig mit – indem es Geschichten sammmelt, die auf der Straße liegenvon Dorte Lena Eilerszum Online-Extra: Interviews mit Samuel Finzi, Nikolay Yordanov und Neda Sokolovska zu den Protesten in Bulgarien | |
tanz-insert | Seite 41 |
SCORES | |
Auftritt | |
Berlin: Karussell der GeschichteDeutsches Theater: „Agonie. Ein zaristisches Lehrstück von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Regie Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, Bühne Jo Schramm, Kostüme Daniela Seligvon Gunnar Decker | Seite 43 |
Bern: Scheitern und schummelnKonzert Theater Bern: „The Fool and the Princesses“ von Cirque de Loin. Regie Michael Finger, Bühne Thomas Fri Freydl und André Lu Lusser, Kostüme Martina Barandunvon Simone von Büren | Seite 43 |
Lübeck. Das Brandt-KlischeeTheater Lübeck: „Willy Brandt – Die ersten 100 Jahre“ (UA) von Michael Wallner. Regie Michael Wallner, Bühne Heinz Hauser, Kostüme Tanja Liebermannvon Alexander Schnackenburg | Seite 45 |
Osnabrück: Relativitätstheorie der WahrnehmungTheater Osnabrück: Total real – Spieltriebe 5. Festival für zeitgenössisches Theatervon Daniel Benedict | Seite 46 |
Stück | |
Verbotene SpieleZum Tod des Dramatikers Klaus Rohledervon Jürgen Verdofsky | Seite 48 |
Das Festvon Klaus Rohleder | Seite 50 |
Magazin | |
Gezi, Gezi, Taksim, Taksim„Move Op! Europäisches Musiktheater unter prekären Bedingungen“ an der Neuköllner Oper in Berlin streicht den Gesang – zugunsten des Schlachtrufs der Straßevon Tom Mustroph | Seite 61 |
Decket euch mit Mondlicht zuZum Tod der Schauspielerin und Regisseurin Katja Paryla (1940 – 2013)von Martin Linzer | Seite 63 |
Zwei Octogenarians auf der Doppelhelix-Rampe der ZeitDem polnischen Multitalent Sławomir Mrożek (1930 – 2013) zum Abschiedvon Andrzej Tadeusz Wirth | Seite 64 |
Vom LuftanhaltenZum Tod des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013)von Jan Gehler | Seite 65 |
Über die Kunst, ein Generalist zu seinZum Tod des Mannheimer Generalintendanten a. D. Arnold Petersen (1926 – 2013)von Christoph Nix | Seite 66 |
Linzers Eck: Ein besessener Theatermann, ein KritikerZwei Bücher von und über Herbert Ihering erzählen von seinem Leben und seinen Problemenvon Martin Linzer | Seite 67 |
Büchner – unversöhnbarvon Frank M. Raddatz | Seite 68 |
Büchner on airvon Holger Teschke | Seite 68 |
kirschs kontexte: Wenn die Herrschenden nicht mehr wollen ...von Sebastian Kirsch | Seite 69 |
Aktuell | Seite 70 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Musik: Oden an Gewalt, Tod und Teufelvon Ulrike Rechel | Seite 72 |
Hörspiel: Krieg den Hüttenvon Gerwig Epkes | Seite 72 |
Kunst: Weltverbesserervon Ute Müller-Tischler | Seite 73 |
Film: Dem Tod entgegenvon Ralf Schenk | Seite 73 |
Aktuell | Seite 74 |
Premieren: Oktober 2013 | |
TdZ on Tour | Seite 77 |
Der TdZ-Büchersommer | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Yoko Ono?von Ute Müller-Tischler und Yoko Ono |
Daniel Benedict
Bodo Blitz
Gunnar Decker
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Jan Gehler
Durs Grünbein
Michael Hagner
Christoph Hein
Sebastian Kirsch
Hans-Thies Lehmann
Martin Linzer
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Claudia Niemann
Christoph Nix
Yoko Ono
Frank M. Raddatz
Ulrike Rechel
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Ralf Schenk
Alexander Schnackenburg
Ingo Schulze
Theresa Schütz
Peter Stein
Hans Jürgen Syberberg
Holger Teschke
Jürgen Verdofsky
Simone von Büren
Andrzej Tadeusz Wirth
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Protagonisten | Seite 30 |
Dramaturgie der AutopsieWie die Naturwissenschaften das dramatische Werk von Büchner und Brecht beeinflussten – Ein Gespräch mit Durs Grünbein und Michael Hagner anlässlich des 200. Geburtstags von Georg Büchnervon Holger Teschke, Durs Grünbein und Michael Hagnerzum Online-Extra: Gespräch mit Durs Grünbein und Michael Hagner | |
Ausland | Seite 38 |
Verbrechen und ZornIn Bulgarien ist 2013 das Jahr der Proteste: Schluss mit der Mafia, heißt es. Auch das Theater mischt kräftig mit – indem es Geschichten sammmelt, die auf der Straße liegenvon Dorte Lena Eilerszum Online-Extra: Interviews mit Samuel Finzi, Nikolay Yordanov und Neda Sokolovska zu den Protesten in Bulgarien |
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