Heft 12/2014
Jammer und Glorie
Der Regisseur Krzysztof Warlikowski
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Als Krzysztof Warlikowski im Juli 2013 im Warschauer Nowy Teatr sein „Kabaret Warszawski“ aufführte, ein Stück, in dem er Künstler als Ausgeschlossene darstellt, die in den Untergrund gedrängt werden, hielt die Kritik dies für eine hysterische Überzeichnung. „Ein Jahr später“, so berichtet unsere Polenkorrespondentin Anna R. Burzynska, „verbreiten die Presseagenturen Bilder, auf denen eine aggressive Menschenmenge das Nowy Teatr belagert.“ Beschimpfungen, tätliche Angriffe, Morddrohungen – die Situation im Nachbarland Polen ist heikel. Zunehmend sehen sich bildende Künstler, Theaterleute und Intellektuelle Anfeindungen von rechtsgerichteten, nationalistischen und/oder katholischen Gruppierungen ausgesetzt. Woher kommen diese Aggressionen, die einen, wie Jan Klata, Intendant des Narodowy Stary Teatr in Krakau, im Gespräch mit Thomas Irmer schildert, mitunter völlig willkürlich, ja zufällig treffen?
In unserem Polen-Schwerpunkt versuchen wir zu ergründen, welch fatale gesellschaftspolitische Dynamik das Land ergriffen hat, die einen Großteil der Bevölkerung immer stärker nach rechts driften lässt, während sich die Kunstszene immer weiter nach links bewegt. Lange taten sich Künstler schwer, auf die Anfeindungen zu reagieren. Erst nach der Absage von Rodrigo Garcías „Golgota Picnic“ beim diesjährigen Malta Festival in Poznań, bei dem Anna Volkland für uns vor Ort war, kam es zu landesweiten Gegenaktionen. Am besten habe Krystian Lupa, schreibt Anna R. Burzyńska, die Situation auf den Punkt gebracht: „Niemand betreibt aggressive Blasphemie, niemand dringt mit antichristlichen Symbolen in Kirchen ein (…). Warum, woher diese Passion (…)? Vielleicht ist unsere innere Leere der Grund (…)? Wenn es in dir nichts gibt, musst du dir einen Feind suchen, um jemand zu sein.“
„Wer von sich sagt, er wisse die Wahrheit, lügt.“ Dies ist einer der Sätze, um die die Arbeit des in Berlin lebenden bulgarischen Regisseurs und Autors Ivan Panteleev kreist. Mit „Warten auf Godot“, einer Inszenierung, die ursprünglich der im Oktober 2013 verstorbene Dimiter Gotscheff übernehmen sollte, hat er kürzlich am Deutschen Theater Berlin einen denkwürdigen Abend gestaltet. Eine Feier der inneren Leere, in der ein Gedanke den anderen jagt, ein ständiges Grübeln in Paradoxen. „Ja, Wladimir und Estragon sind ohnmächtig. Das ist richtig. Aber ihre Ohnmacht macht sie erst frei. Frei zu sein bedeutet nicht, alle Möglichkeiten zu haben. Frei zu sein bedeutet, den Raum des Möglichen zu durchqueren, um für das Unmögliche bereit zu sein“, erklärt der Regisseur in dem Porträt von Gunnar Decker.
Von Ohnmacht handelt auch „Pfisters Mühle“, eine Erzählung von Wilhelm Raabe, die als erster Umweltroman der deutschen Literatur gilt. Der Autor berichtet darin von einer neu errichteten Zuckerfabrik, die mit ihren Abwässern einen Fluss in eine stinkende, schleimige Kloake verwandelt. Armin Petras hat diesen Roman am Schauspiel Stuttgart auf die Bühne gebracht und sich dafür einen der derzeit wohl radikalsten Bühnenbildner geholt – der eigentlich gar kein Bühnenbildner ist: Martin Eder. Der bildende Künstler und Musiker, dem wir in diesem Heft unser Künstlerinsert widmen, hat für „Pfisters Mühle“ einen gigantischen Abflusskanal kreiert, so Otto Paul Burkhardt, „ein riesiges schwarzes, gähnendes Loch“ von rund acht Metern Durchmesser, das wiederum Teil einer 18 Meter hohen Betonwand ist – „trostlos, abgeranzt, verwittert“. Die Idylle, sagt Eder, sei ein zentrales Thema hier. Vor allem aber: der Horror der Idylle.
Verabschieden müssen wir uns von einer Jahrhundertgestalt des europäischen Theaters: Juri Ljubimow, Gründer des Moskauer Taganka-Theaters, der im Oktober 97-jährig verstarb. Friedrich Dieckmann erinnert an diesen großen Regisseur, dessen Theater „lustvoll und hartnäckig“ vom „Widerstand gegen eine gesellschaftliche Verelendung inspiriert war“. Wir wünschen allen unseren Leserinnen und Lesern ein besinnliches Fest und einen guten Start ins neue Jahr. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Arbeitenvon Martin Eder | Seite 4 |
Der Horror der IdylleDer bildende Künstler und Musiker Martin Eder arbeitet für Armin Petras’ Stuttgarter Inszenierung von „Pfisters Mühle“ erstmals als Bühnenbildnervon Otto Paul Burkhardt | Seite 8 |
Thema: Theaterland Polen | |
Der KreuzzugWie in Polen das Theater der Politik als Sündenbock dientvon Anna R. Burzyńska | Seite 12 |
Jammer und GlorieDas Theater des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski kommt nicht mit heiligem Pathos, sondern sexy und unverschämt dahervon Renate Klett | Seite 16 |
Anger is an EnergyJan Klata, Intendant und Regisseur des Narodowy Stary Teatr in Krakau, über die Angriffe auf sein Theater, im Gespräch mit Thomas Irmervon Thomas Irmer und Jan Klata | Seite 20 |
Volk und VaterlandWährend des Malta Festivals in Poznań zeigt sich das Theater kämpferisch – vor allem, wenn es um die Dekonstruktion nationalistischer Heroismen gehtvon Anna Volkland | Seite 22 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 24 |
Endlose AgonieAn der Berliner Volksbühne schließt Frank Castorf mit „Kaputt“ von Curzio Malaparte den Kreis seiner großen Menschheitserzählungenvon Gunnar Decker | |
Abschied | |
Die Lust der RebellionZum Tod Juri Ljubimowsvon Friedrich Dieckmann | Seite 26 |
Algebra der Harmonie (1974)von Juri Ljubimow | Seite 28 |
Kolumne | Seite 29 |
Zettelwirtschaftvon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | Seite 30 |
Dunkler DialektikerDer Regisseur und Autor Ivan Panteleev feiert das Paradoxvon Gunnar Decker | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 33 |
Opening (Stadt) Parcours | |
Opening (Stadt) ParcoursEin Herbst, eine Jugendvon Anna Mendelssohn | |
Opening (Stadt) ParcoursEin kobaltblauer Tellervon Ana Hoffner | |
Opening (Stadt) ParcoursAngst-Hasen an der Leinevon Thomas J. Jelinek | |
Opening (Stadt) ParcoursGuter Weltuntergangvon Florian Kmet | |
Opening (Stadt) ParcoursMilli Bitterli — »Ich stehe und staune.«von Milli Bitterli | |
Protagonisten | |
Das Wahre, Schräge, GuteDas Staatstheater Mainz führt unter seinem neuen Intendanten Markus Müller die große mit der kleinen Welt engvon Shirin Sojitrawalla | Seite 34 |
Das Lächeln regiertErich Siedler, neuer Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, bekennt sich zum Erzähltheater – zum Saisonstart zündet das nur manchmalvon Joachim F. Tornau | Seite 36 |
Beleuchtungsweisen des TragischenZu Hans-Thies Lehmanns „Tragödie und dramatisches Theater“von Joachim Fiebach | Seite 38 |
Look Out | |
So tun, als ob man so tutAuf der Flucht vor der Hölle des Relativierens – Das Kollektiv Fake[to]Pretend ringt um klare Aussagenvon Christoph Leibold | Seite 40 |
Kindsköpfiger BettelprophetImpulsiv, nervös, elektrisch – Wie der Düsseldorfer Schauspieler Edgar Eckert seine Bühnenfiguren auflädtvon Martin Krumbholz | Seite 41 |
Auftritt | |
Dortmund: Die Liebe der PrälatenTheater Dortmund: „Komm in meinen Wigwam“ (UA) von Wenzel Storch. Regie Wenzel Storch, Ausstattung Pia Maria Mackertvon Mirka Döring | Seite 43 |
Leipzig: Hochtouriges EinfallstouretteSchauspiel: „Das Tierreich“ (UA) von Nolte Decar. Regie Gordon Kämmerer, Bühne Jana Wassong, Kostüme Josa David Marxvon Mirka Döring | Seite 44 |
Magdeburg: Das Lied vom TodTheater Magdeburg: „Spur der Steine“ nach dem Roman von Erik Neutsch. Regie Cornelia Crombholz, Ausstattung Marion Hauervon Gunnar Decker | Seite 45 |
Memmingen: Bibelschinken mit Bombast-MuckeLandestheater Schwaben: „Kanaan – Die Geschichte des Abraham“ von Walter Weyers, Kobi Farhi und Erez Yohanan. Regie W. Weyers und P. Kesten, Bühne Loomit und S. Manteuffel, Kostüme F. Harbortvon Christoph Leibold | Seite 46 |
Münster: Raubkunst der ExpressionistenWolfgang Borchert Theater: „Die letzte Soirée“ (UA) von Arna Aley. Regie Meinhard Zanger, Ausstattung Darko Petrovicvon Friederike Felbeck | Seite 47 |
Stockholm: Die unzulängliche Rendite unserer SehnsuchtDramaten : „[ungefahr gleich]“ (UA) von Jonas Hassen Khemiri. Regie Farnaz Arbabi, Buhne Jenny Kronberg, Kostume Lena Lindgrenvon Kerstin Car | Seite 49 |
Trier: Die Schlacht der SandkastenstrategenTheater Trier: „‚Wahnsinn wäscht die Hände …‘ – Europa macht mobil“ von G. Weber und P. Larsen. „Aufmarsch Trier – ‚So bitte ich Sie, auch meiner zu gedenken‘“ von P. Oppermann und St. Poppvon Björn Hayer | Seite 50 |
Wien: Die gleichgültige Rotation der WeltBurgtheater: „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Regie Jan Bosse, Bühne Stéphane Laimé, Kostüme Kathrin Plathvon Christoph Leibold | Seite 51 |
Stück | |
Heul doch!Bonn Park, Autor von „Traurigkeit & Melancholie“, über komische Zufälle und deprimierende Vergleiche mit Max Mustermann im Gespräch mit Mirka Döringvon Mirka Döring und Bonn Park | Seite 52 |
Traurigkeit & Melancholie oder Der aller aller einsamste George aller aller ZeitenFragmentvon Bonn Park | Seite 54 |
Magazin | |
Hase und TeeBeim dritten Münchner Rodeo-Festival der freien Szene sind die Kleinen die Größtenvon Sabine Leucht | Seite 63 |
Schöpfung und FallDie Landesbühnen Sachsen durchforsten mit ihrem Eröffnungsspektakel „Irrtümer 1 – Familien-Wahn-Sinn“ die Dialektik des Paradiesesvon Gunnar Decker | Seite 64 |
Ohne michDer steirische herbst 2014 umspielt die Kunst der Verweigerungvon Hermann Götz | Seite 66 |
Theatrales MinderheitenvotumDie Bautzener Odyssey bildet den Auftakt zu einem biennalen Festivalvon Michael Bartsch | Seite 68 |
kirschs kontexte: Fresse halten? Bloß nicht!von Sebastian Kirsch | Seite 69 |
Schiffbruch an versunkener KüsteTom Stoppard: Die Küste Utopias. Jussenhoven & Fischer, Köln 2013, 328 S., 16,90 EUR.von Holger Teschke | Seite 70 |
Diven in FeldgrauJ. B. Köhne, B. Lange, A. Vetter (Hg.): Mein Kamerad – Die Diva. Theater an der Front und in den Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. edition text + kritik, München 2014, 131 S., 19,80 EUR.von Tom Mustroph | Seite 70 |
Die Hölle im Triebwesen MenschVolker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, C.H. Beck Verlag, München 2014, 464 S., 26,95 EUR.von Gunnar Decker | Seite 71 |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
FilmIn Wüsten und Wäldernvon Ralf Schenk | Seite 74 |
LiteraturVom letzten Wollen und Sagenvon Katrin Schuster | Seite 74 |
KunstHyperhorrorvon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
MusikTrocken serviertvon Ulrike Rechel | Seite 75 |
Aktuell | |
PremierenDezember 2014 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Thomas Heise?von Thomas Heise und Matthias Dell |
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Milli Bitterli
Otto Paul Burkhardt
Anna R. Burzyńska
Kerstin Car
Gunnar Decker
Matthias Dell
Friedrich Dieckmann
Mirka Döring
Martin Eder
Friederike Felbeck
Joachim Fiebach
Hermann Götz
Björn Hayer
Thomas Heise
Ana Hoffner
Thomas Irmer
Thomas J. Jelinek
Sebastian Kirsch
Jan Klata
Renate Klett
Florian Kmet
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Juri Ljubimow
Anna Mendelssohn
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Bonn Park
Ulrike Rechel
Ralf Schenk
Katrin Schuster
Shirin Sojitrawalla
Holger Teschke
Joachim F. Tornau
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