Heft 03/2015
Die Bibliothek des Körpers
Der Tänzer-Choreograf Ismael Ivo
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Fokus Tanz: Pina Bausch, Ismael Ivo, VA Wölfl
Man stelle sich vor: Es gibt jemand ein Porträt von sich bei Georg Baselitz in Auftrag. Und als es fertig ist, bemerkt er konsterniert: ‚Das Bild steht ja auf dem Kopf!‘“ Absurd? Bezogen auf den realen Fall, der für diese Analogie Pate gestanden hat, allemal: Frank Castorf inszeniert am Münchner Residenztheater Brechts Baal. Und wie das so ist, wenn er inszeniert, stellt er dabei ein Stück auch gern mal auf den Kopf. Ein Regiestil, der nicht erst seit gestern bekannt ist. „Umso verwunderlicher“, schreibt Christoph Leibold, „ist nun die Empörung des Suhrkamp Verlags und der Brecht-Erbin Barbara Brecht-Schall.“ Sie zogen vor Gericht, um das, was in ihren Augen nicht das ist, was es sein sollte, verbieten zu lassen. Absurd?
„Der Schutz geistigen Eigentums“, fährt Christoph Leibold fort, „ist wichtig. Im Copy-and-paste-Zeitalter sogar wichtiger denn je.“ Aber das Residenztheater zahle ja Tantiemen und klaue nichts. Das Fragwürdige sei hier die Deutungshoheit, die aus diesem Recht abgeleitet werde. Warum solle Barbara Brecht-Schall besser über „Baal“ Bescheid wissen als Frank Castorf? „Dramen“, schließt unser München-Korrespondent in seinem Kommentar, „brauchen Gedankenfreiheit, um auf der Bühne lebendig zu werden.“ Wobei „lebendig werden“ eben auch das bedeutet: den Glutkern freilegen, den Schmerz, die Kritik.
Wer sich auf Konzepte von Antonin Artaud bezieht, auf die Dramatik Heiner Müllers oder Körperkonstruktionen eines Francis Bacon, gehört wie Frank Castorf zu ebenjenen Künstlern, die dies nicht scheuen. Der brasilianische Tänzer-Choreograf Ismael Ivo zählt schon lange zu den gefragtesten und zugleich radikalsten Protagonisten der internationalen Tanzszene. Seine Haltung, schreibt Johannes Odenthal, sei immer kämpferisch, seine Arbeit auf Themen wie Gewalt, Rassismus oder Unterdrückung bezogen. Wo aber steht der zeitgenössische Tanz heute? Wie verfahren wir mit herausragenden Gesamtwerken, die zwar fortgeschrieben werden, deren Protagonisten aber nicht mehr zu einer jungen, aufbrechenden Tanzszene gehören? Und wie kann der zeitgenössische Tanz seine gesellschaftspolitische Bedeutung behaupten? Dies erkunden wir im Schwerpunkt dieses Heftes anhand der Werke von Ismael Ivo, Arbeiten von VA Wölfl und des Erbes von Pina Bausch.
Mit dem Thema Erbe setzt sich auch die israelische Regisseurin Yael Ronen auseinander. Ihr Stück „Dritte Generation“ mit israelischen, palästinensischen und deutschen Schauspielern machte sie bekannt. Mit „Common Ground“, einem Stück, bei dem Schauspieler mit Wurzeln in Bosnien, Serbien und Kroatien zusammen auf der Bühne stehen, ist sie nun zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Christoph Leibold porträtiert die Regisseurin, deren entwaffnende Stärke es ist, mit beißendem Witz Klischees zum Explodieren zu bringen.
„Wo ist unsere Wut hin? Sie scheint nicht mehr jene in Farbprismen zerlegbare Wut zu sein, sondern eine schwarze Wut (…)“, die stets Verbindungen unterhalte zu dem Hauptgefühl unserer Zeit: Angst. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla zählt zu den schärfsten Beobachtern unserer Zeit. In ihrer Essenpoetik, einer dreiteiligen Vorlesungsreihe, die sie im Wintersemester 2014/15 an der Universität Duisburg-Essen hielt, gibt sie Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt aus diesem Text, der vorausblicken soll auf eine Diskursreihe, in der sich Theater der Zeit ab Mai dem Thema Neuer Realismus widmet.
Ein Mann. Ein Keyboard. So beginnt unser Stückabdruck im März, Ralph Hammerthalers Alleinunterhalter, der ab Mai 2015 am Neuen Theater Halle gezeigt werden wird. Es spielt: der Intendant selbst, Matthias Brenner. Der Theaterleiter als Alleinunterhalter? „Die Sehnsüchte und Nöte des allein vor einem Publikum stehenden Auftrittskünstlers kenne ich“, sagte er im Gespräch mit Gunnar Decker. Dabei scheinen für die Politik diejenigen, die auf der Bühne stehen, immer am leichtesten entbehrlich, weshalb für Theater, vor allem auch in kleineren Städten, die wichtigste Aufgabe sei, Wertediskussionen anzustoßen, die in der Gesellschaft sonst kaum geführt werden. „Das bloße Erfolgreich- sein-Wollen reicht doch nicht.“ Die Trivialisierung ist die Apokalypse. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | Seite 4 |
„Chor(e)ographien“von VA Wölfl / Neuer Tanz | |
Thema: tanzen, forschen, weitergehen | |
TransformationenWie der zeitgenössische Tanz seine ästhetische und politische Bedeutung behauptet. Eine Fallstudie zu den Schlüsselwerken von Pina Bausch, VA Wölfl / NEUER TANZ und Ismael Ivovon Johannes Odenthal | Seite 8 |
Licht in die Welt bringenWie VA Wölfl mit den Mitteln der bildenden Kunst die Bühne erfindetvon Johannes Odenthal | Seite 11 |
Bibliothek des KörpersDer Tänzer-Choreograf Ismael Ivo ist nicht nur ein einzigartiger Performer, sondern auch ein engagierter Vermittlervon Karlheinz Roschitz | Seite 14 |
Ein Tanzerbe wählenÜber Verantwortung im Umgang mit dem Werk von Pina Bauschvon Gabriele Klein | Seite 20 |
Aktuelle Inszenierung | |
BuschkriegFrank Castorf verlegt am Münchner Residenztheater Brechts „Baal“ nach Vietnam – der Skandal: Der Suhrkamp Verlag und die Brecht-Erben haben diese sensationelle Kolonialismusparaphrase gestopptvon Christoph Leibold | Seite 26 |
Theater brauchen Gedankenfreiheitvon Christoph Leibold | Seite 27 |
Protagonisten | |
Die UnbeugsameDie israelische Regisseurin Yael Ronen bringt mit beißendem Witz Klischees zum Explodieren – erst so, sagt sie, werden politische Konflikte auf der Bühne verhandelbarvon Christoph Leibold | Seite 29 |
SuchbilderÜber Strategien eines literarischen Schreibens, das die durch Katastrophengrammatik und Facebook-Talk verzerrte Realität wieder zu fassen bekommtvon Kathrin Röggla | Seite 32 |
Kolumne | Seite 35 |
Das große O der OperGlanz & Krawall mit der jungen Regisseurin Marielle Sterravon Ralph Hammerthaler | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 36 |
Levée (2014)von Boris Charmatz und César Vayssié | |
Levée des conflits (2010)Performance für 24 TänzerInnenvon Boris Charmatz | |
Was wollen die Dinge?Dynamische Ontologie und die Zukunft der Performancevon Boyan Manchev | |
Protagonisten | |
Global GodsUnter dem Motto „Neugier“ startet Manuel Soubeyrand an der Neuen Bühne Senftenberg – nun gilt es, auch der Gier nach Neuem nachzugehenvon Theresa Schütz | Seite 36 |
Bekenntnis zur BanlieueAm Stadtrand von Wien fusionieren die beiden Theaterorte Garage X und Palais Kabelwerk zum neuen Werk Xvon Margarete Affenzeller | Seite 38 |
Ausland | Seite 40 |
Die neuen AlchemistenDas diesjährige Fajr-Festival in Teheran zeigt, wie junge Theaterschaffende trotz finanzieller und staatlicher Reglementierungen an einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse arbeitenvon Mehdi Moradpour | |
Look Out | |
Schweigen und ProtestDer Regisseur und Altphilologe Achim Lenz überführt Sujets vom antiken Epos bis zur Operette in kraftvolles Chortheatervon Friederike Felbeck | Seite 44 |
In mehreren Welten zu HauseDie Regisseurin Katrin Plötner nimmt die Distanz zu Theatertexten ernstvon Margarete Affenzeller | Seite 45 |
Auftritt | |
Detmold: Ohne WendemöglichkeitLandestheater Detmold: „Herzog Theodor von Gothland“ von Christian Dietrich Grabbe. Regie Tatjana Rese, Ausstattung Reiner Wiesemesvon Joachim F. Tornau | Seite 47 |
Düsseldorf: Macbeth im ParkhausDüsseldorfer Schauspielhaus: „Kreise/Visionen“ (DE) von Joël Pommerat. Regie Hans-Ulrich Becker, Bühne Alexander Müller-Elmau, Kostüme Stefanie Seitzvon Martin Krumbholz | Seite 48 |
Konstanz: Geister schlafloser NächteTheater Konstanz: „El Cimarrón“ (UA) nach Miguel Ángel Barnet Lanza. Regie Wolfram Mehring, Ausstattung Dorothee Neulingvon Björn Hayer | Seite 49 |
Paris: Ein Zaungast gehtOdéon – Théâtre de l’Europe: „Iwanow“ von Anton Tschechow. Regie Luc Bondy, Bühne Richard Peduzzi, Kostüme Moidele Bickelvon Lena Schneider | Seite 50 |
Rudolstadt: Der StudierstubenhockerTheater Rudolstadt: „Faust_Eins“ von Johann Wolfgang von Goethe. Regie Steffen Mensching und Michael Kliefert, Ausstattung Frank Hänigvon Frank Quilitzsch | Seite 51 |
Saarbrücken: In der MenschenfabrikSaarländisches Staatstheater: „Wunsch und Wunder“ (UA) von Felicia Zeller. Regie Marcus Lobbes, Ausstattung Wolf Gutjahrvon Björn Hayer | Seite 52 |
St. Gallen: Am epischen Rand: das ZentrumTheater St. Gallen: „Frühling der Barbaren“ nach Jonas Lüscher. Regie Tim Kramer, Bühne Michael Kraus, Kostüme Stefan Röhrlevon Harald Müller | Seite 53 |
Stralsund: Lamenti und GebrabbelTheater Vorpommern: „Was zu sagen wäre warum“ (UA) von Oliver Kluck. Regie André Rößler, Ausstattung Lisa Rohdevon Theresa Schütz | Seite 54 |
Weimar: Interessen statt IdeenDeutsches Nationaltheater Weimar: „Wallenstein“ von Friedrich Schiller. Regie Hasko Weber, Ausstattung Thilo Reuthervon Gunnar Decker | Seite 55 |
Stück | |
Die Trivialisierung ist die ApokalypseMatthias Brenner über Ralph Hammerthalers „Alleinunterhalter“ im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Matthias Brenner | Seite 56 |
Alleinunterhaltervon Ralph Hammerthaler | Seite 58 |
Magazin | |
Bodensatz der GeschichteArmin Petras’ „Der geteilte Himmel“ und Sebastian Baumgartens „Zement“ beschwören an der Schaubühne und am Maxim Gorki Theater Berlin die Toten, damit sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begrabevon Gunnar Decker | Seite 65 |
Der ökologische Schauspieler?Die International Platform for Performer Training fragt in Zürich danach, wie schon die Ausbildung an einem Theater der Zukunft mitwirken kannvon Nicole Gronemeyer | Seite 67 |
Der SchatzsucherWolfgang Trautwein, der Direktor des Archivs der Akademie der Künste Berlin, wird verabschiedetvon Friedrich Dieckmann | Seite 68 |
kirschs kontexte: Und Susiskanes war auch dabeiÜberlegungen zum aischyleischen Charakter des Ruhrgebietsvon Sebastian Kirsch | Seite 69 |
Angewandte PataphysikAlastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben. Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2014, 552 S., 44,70 EUR.von Lilly Busch | Seite 70 |
Die Agonie okkupierter HerzenSofi Oksanen: Als die Tauben verschwanden. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 432 S., 19,99 EUR.von Kerstin Car | Seite 71 |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Jeder für sich und Gott gegen allevon Ralf Schenk | Seite 74 |
Literatur: Meyer, Alphatiervon Katrin Schuster | Seite 74 |
Kunst: Sonic Textvon Bona Facius | Seite 75 |
Musik: Flüssige Räume und Bummeltechnovon Otto Paul Burkhardt | Seite 75 |
Aktuell | Seite 76 |
PremierenMärz 2015 | |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Tdz on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Stefan Tilch?von Stefan Tilch und Christoph Leibold |
Margarete Affenzeller
Matthias Brenner
Otto Paul Burkhardt
Lilly Busch
Kerstin Car
Boris Charmatz
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Bona Facius
Friederike Felbeck
Nicole Gronemeyer
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Sebastian Kirsch
Gabriele Klein
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Boyan Manchev
Mehdi Moradpour
Harald Müller
Johannes Odenthal
Frank Quilitzsch
Kathrin Röggla
Karlheinz Roschitz
Ralf Schenk
Lena Schneider
Katrin Schuster
Theresa Schütz
Stefan Tilch
Joachim F. Tornau
VA Wölfl / Neuer Tanz
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