Protagonisten
Die Fragmente des Lebens
Utopie & Ernüchterung: Am 19. Dezember 2015 feiert Tankred Dorst seinen 90. Geburtstag
Es herrschte Winter in Kiew, Mitte der 1990er Jahre. Die Hangstraßen waren vereist, und die Autos kamen nur schlingernd voran. Im Kleinbus des Les Ukraine Theaters saßen wir, versteckt hinter blauen Vorhängen, wie eine Gruppe von Verschwörern. Plötzlich rutschte der Bus bergab, der Fahrer drehte wie wild am Steuer, rechtsrum, linksrum, uns stockte der Atem, keiner sprach, bis der Bus, ich wusste nicht, wie, zum Stehen kam. Lange Sekunden fiel kein Wort. Dann erfasste Tankred die Lage und sagte: Der Fahrer ist gut.
Damals spielten sie in Kiew Tankred Dorsts 300 Seiten langes Stück „Merlin“, wie so oft bearbeitet und gekürzt, sowie sein Kammerspiel „Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben“, in dem ein reicher Geschäftsmann seine Frau, da er sie an eine Affäre zu verlieren droht, ins Irrenhaus steckt. Auch so lassen sich Probleme einer Ehe lösen. In jenen Tagen trug Tankred einen poppigen Wintermantel, der wie aufgeplustert wirkte, ebenso wie seine Frau Ursula. Ich glaube, der eine Mantel war blau, der andere rot. Sie sahen aus wie Fantasy-Figuren von der lustigen Sorte. Kurz vor dem Rückflug signierten sie mein „Merlin“-Taschenbuch. Tankred schrieb: „Zur Erinnerung an den Flughafen von Kiew und auch sonst“.
Vor zwei Jahren sind sie nach Berlin gezogen. Als ich im November dort bin, schaue ich nach, wo der Apothekerschrank steht. Es ist ein Schrank mit fünfzig Schubladen. Darin liegen Notizen, Zeitungsschnipsel, Fundstücke, jede Schublade ein mögliches Projekt. Genau betrachtet ist es ein Schrank der Utopien, was man sich am besten auf der Zunge zergehen lässt, denn Tankreds Werk erzählt vom Scheitern aller Zukunftsentwürfe. Im Ritterdrama „Merlin“ etwa missglückt das Modell einer am Konsens orientierten Tafelrunde und weicht der Katastrophe, wie sie im Untertitel anklingt: „Das wüste Land“.