Heft 10/2020
House of Arts
Über Macht und Struktur am Theater
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
So weit nach oben wie für Frank Underwood, der sich in der Netflix-Serie „House of Cards“ vom Kongressabgeordneten bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten emporintrigiert und dabei einen guten Schuss „Macbeth“ und „Richard III.“ erkennen lässt, führt der Weg im Theaterbetrieb gewöhnlich nicht. Und natürlich geht es nicht so blutig zu. Aber Throne werden auch hier besetzt – im buchstäblichen Sinne. Ausgerechnet am Theater, das sich gern gesellschaftskritisch gibt und insbesondere die Könige des dramatischen Kanons in Grund und Boden ironisiert, herrschen vorsintflutliche Leitungsstrukturen. Immer wieder hört man von Machtmissbrauch und einem angstbesetzten Arbeitsklima; zuletzt vom Badischen Staatstheater Karlsruhe, wo Teile der Belegschaft sich öffentlich gegen den Intendanten Peter Spuhler gestellt haben.
Dass sich dringend etwas ändern muss im House of Arts, darüber ist man sich weitgehend einig. Nur wie? In unserem Schwerpunkt über Macht und Struktur am Theater sprechen Dorte Lena Eilers und Christine Wahl mit Expertinnen und Experten, die aus verschiedenen Perspektiven auf die Problematik schauen. Sven Schlötcke, der Künstlerische Leiter und Geschäftsführer des Mülheimer Theaters an der Ruhr, hält Kollektivleitungen für eine gute Lösung – die Schauspielerin Wiebke Puls setzt prompt dagegen, aus ihren bisherigen Arbeitszusammenhängen besonders glückliche Erinnerungen an eine „klar patriarchal-hierarchische Struktur mit einer großartigen Führungspersönlichkeit“ zu besitzen. Kunstschädlich ist für Puls vor allem der aberwitzige Erwartungsdruck von Kulturpolitik, Presse und Publikum. Während der Coach Stefan Bartling, bei dem schon viele Theaterleute in Führungskräfteseminaren saßen, wiederum die „Zielabsprachen“ in der Branche „oft zu wachsweich“ findet und die Leipziger Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke für eine strikte Differenzierung zwischen „Führungsstruktur“ und „Führungskultur“ plädiert.
Fest steht: Über die Zustände hinter den Kulissen wird – und muss – weiter debattiert werden. Auf der Bühne herrscht unterdessen fast schon wieder Post-Shutdown-Normalbetrieb – unter Corona-Bedingungen. Schnell hat man sich daran gewöhnt, mit Mund-Nasen-Bedeckung durchs Foyer an seinen Platz zu huschen, wo man wegen der Abstandsregeln jetzt endlich die Beinfreiheit hat, von der man seit Jahren träumt – und sich nach den Nahkämpfen zurücksehnt, die man mit seinen Sitznachbarinnen und Sitznachbarn um den Gliedmaßenradius und die gemeinsamen Armlehnen geführt hat.
Immerhin sieht es bislang nicht so aus, als würde sich flächendeckend „Korona“ durchsetzen, die neue „Seuchen“-Kunst, die Josef Bierbichler am Werke sieht und in seiner Kolumne sachkundig auseinandernimmt. Auch die Befürchtung, der postpandemische Wiedereröffnungsspielplan werde sich auf „Die Pest“ beschränken, hat sich nicht bewahrheitet. Am Schauspielhaus Hamburg steht statt Camus ein neuer Rainald Goetz auf dem Programm – der erste seit „Jeff Koons“, mithin seit über zwanzig Jahren. „Reich des Todes“, ein Stück über den 11. September und seine Folgen, verteidigt die Notwendigkeit des Blickes auf die Täter, schreibt Jakob Hayner in seiner Kritik zu Karin Beiers Uraufführung.
Neue Stücke – von Sibylle Berg über Falk Richter bis zu Theresia Walser – dominierten auch das Kunstfest Weimar, dem Thomas Irmer bescheinigt, sich „als erstes deutsches Großfestival unter Corona-Bedingungen bewährt“ zu haben. Es gibt also guten Grund zur Hoffnung, dass die Ruhrtriennale das letzte abgesagte Theaterfestival war. Martin Krumbholz porträtiert den Künstler Julius von Bismarck, der dort eine Performance mit Polizeirobotern präsentiert hätte. Diese und andere Arbeiten zeigen wir in unserem Künstlerinsert.
Die Polizeipräsenz ist generell hoch in diesem Heft. Ralf Mohn war Ende August, als Teilnehmer einer Berliner Anti-Corona-Demonstration versuchten, die Stufen des Reichtags zu ersteigen, vor Ort und erinnert sich an andere „Stürme“, die er dort erlebt hat – zum Beispiel den theatralen von Milo Rau vor drei Jahren.
Polizeieinsätze der gnadenlosen Art erleben gerade die Menschen, die in Minsk gegen den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko protestieren, darunter viele Kultur- und Theaterleute. Johannes Kirsten beschreibt in seinem Report eine große Aufbruchsstimmung – und fühlt sich an 1989 erinnert.
Das ist inzwischen schon über drei Jahrzehnte her. Friedrich Dieckmann blickt anlässlich des Wiedervereinigungsjubiläums noch einmal auf die „Faust“-Rezeption in der DDR zurück, Thomas Wieck denkt über die Spezifik des Theaters von Alexander Lang nach, der diesen Monat den Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste erhält. Thomas Freyer spannt in seinem Stück „Stummes Land“, das wir in dieser Ausgabe drucken, den Bogen von der DDR-Geschichte ins Heute, und der Soziologe Steffen Mau erklärt, warum viele Ostdeutsche 1990 „in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“ wollten. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Videoarbeiten und Installationenvon Julius von Bismarck | Seite 6 |
Blick in den Glutkern der ExistenzDer Künstler Julius von Bismarck vergleicht sein Verfahren mit dem psychologischen Rorschachtestvon Martin Krumbholz | Seite 10 |
Thema | |
House of ArtsSkadi Jennicke, Wiebke Puls und Sven Schlötcke über Machtmissbrauch an Theatern im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahlvon Dorte Lena Eilers, Christine Wahl, Sven Schlötcke, Skadi Jennicke und Wiebke Puls | Seite 13 |
Postheroische FührungDer Coach Stefan Bartling über den notwendigen Kulturwandel am Theater im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahlvon Dorte Lena Eilers, Christine Wahl und Stefan Bartling | Seite 18 |
Kommentar | Seite 22 |
Die Treppe der anderenThema mit Variationen: Der Sturm auf den Reichstag und sein tanztheaterähnliches Momentvon Ralf Mohn | |
Protagonisten | Seite 24 |
Weil es böse istRainald Goetz hat ein neues Stück über den 11. September und die Folgen geschrieben – Ein Bericht von der Hamburger Uraufführungvon Jakob Hayner | |
Ausland | Seite 26 |
Wir glauben! Wir können! Wir siegen!Ein Report über die belarussische Kultur- und Theaterszene, die im Zentrum der Proteste gegen Staatschef Lukaschenko stehtvon Johannes Kirsten | |
Kolumne | Seite 31 |
Die Dialektik des ElfenbeinturmsÜber die Seuchen-Kunst Korona und ihre Kritikervon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | |
Die Eigen-Art mobilisierenAlexander Langs Weg vom Schauspieler zum Regisseur – Eine biografische Skizze anlässlich der Verleihung des Konrad-Wolf-Preises in der Berliner Akademie der Künstevon Thomas Wieck | Seite 32 |
Und was machen wir mit Mephisto?Goethes „Faust“ im deutschen Staatssozialismusvon Friedrich Dieckmann | Seite 34 |
Festivals | Seite 38 |
Am Wochenende keine Drogen nehmenDas Kunstfest Weimar bewährt sich als erstes deutsches Großfestival unter Corona-Bedingungenvon Thomas Irmer | |
Auftritt | |
Bochum: Ein bitterer Abgesang auf die FamilieSchauspielhaus Bochum: „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüme Greta Goirisvon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Bielefeld: In der Mühle des LebensTheater Bielefeld: „Deinen Platz in der Welt“ (UA) von Dominik Busch. Regie Dariusch Yazdkhasti, Bühne Anna Bergemann, Kostüme Clemens Leandervon Sascha Westphal | Seite 43 |
Hamburg: Der gute Mensch im DschungelcampThalia Theater: „Paradies (fluten / hungern / spielen)“ von Thomas Köck. Regie Christopher Rüping, Bühne Peter Baur, Kostüme Lene Schwindvon Anke Dürr | Seite 44 |
Hamburg: Die Moral ist ein schlüpfriges DingStaatsoper Hamburg: „molto agitato“ mit Werken von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill. Regie Frank Castorf, musikalische Leitung Kent Nagano, Bühne Aleksandar Denićvon Dorte Lena Eilers | Seite 45 |
Neubrandenburg: Traurige Komödie der verschwundenen JugendTheater und Orchester Neubrandenburg Neustrelitz: „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer. Regie Andreas Kloos, Ausstattung Esther Bätschmannvon Thomas Irmer | Seite 47 |
Wien / Hamburg: Rausch und KontrolleWiener Festwochen / Internationales Sommerfestival auf Kampnagel: „Die Goldberg Variationen, BWV 988“ (UA) von Anne Teresa De Keersmaeker; „Mal – Embriaguez Divina“ (UA) von Marlene Monteiro Freitasvon Helmut Ploebst | Seite 48 |
Wiesbaden: Es lebe die vorrevolutionäre Zeit!Hessisches Staatstheater Wiesbaden: „Die Küste Utopias“ (DSE) von Tom Stoppard Deutsch von Wolf Christian Schröder. Regie Henriette Hörnigk, Bühne Gisbert Jäkel, Kostüme Claudia Charlotte Burchardvon Shirin Sojitrawalla | Seite 50 |
Stück | |
„Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“Aus Anlass von Thomas Freyers neuestem Stück „Stummes Land“: Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahlvon Christine Wahl und Steffen Mauzum Online-Extra: „Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“. Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahl | Seite 52 |
Stummes Landvon Thomas Freyer | Seite 54 |
Magazin | |
Ambivalente KarrierenIn Frankfurt am Main eröffnet das erste „Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ von Joana Tischkau, Elisabeth Hampe, Frieder Blume und Anta Helena Reckevon Shirin Sojitrawalla | Seite 69 |
Leben und Liebe zwischen Küche und FabrikZum Tod des Dramatikers Karl Otto Mühlvon Martin Krumbholz | Seite 70 |
„Heil COCA COLA“Heiner Müller: Der amerikanische Leviathan. Ein Lexikon. Hg. von Frank Raddatz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 341 S., 18 EUR.von Thomas Irmer | Seite 72 |
Erfahrungen des GestischenGestische Forschung: Praktiken und Perspektiven. Hg. von Veronika Darian und Peer de Smit, Neofelis Verlag, Berlin 2020, 348, S. 28 EUR.von Lara Wenzel | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenOktober 2020 | Seite 76 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autorinnen und Autoren Oktober 2020 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Kornél Mundruczó?von Tom Mustroph und Kornél Mundruczó |
Stefan Bartling
Josef Bierbichler
Friedrich Dieckmann
Anke Dürr
Dorte Lena Eilers
Thomas Freyer
Jakob Hayner
Thomas Irmer
Skadi Jennicke
Johannes Kirsten
Martin Krumbholz
Steffen Mau
Ralf Mohn
Kornél Mundruczó
Tom Mustroph
Helmut Ploebst
Wiebke Puls
Sven Schlötcke
Shirin Sojitrawalla
Julius von Bismarck
Christine Wahl
Lara Wenzel
Sascha Westphal
Thomas Wieck
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Stück | Seite 52 |
„Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“Aus Anlass von Thomas Freyers neuestem Stück „Stummes Land“: Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahlvon Christine Wahl und Steffen Mauzum Online-Extra: „Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“. Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahl |
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