Heft 09/2021
Es ist ein Kreuz
Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani
Broschur mit 120 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
„Politik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte.“ Dieser Satz stammt von der SPD-Abgeordneten Käte Strobel, geäußert zu einer Zeit, in der man Frauen im Deutschen Bundestag noch suchen musste. 16 Jahre Merkel-Regierung waren so gesehen ein echter Erfolg. Die Politikmüdigkeit jedoch konnte auch ihre Kanzlerschaft nicht beheben. Etwa ein Viertel aller Wahlberechtigten, so Schätzungen, werden am 26. September nicht zur Wahlurne gehen. Ja, es ist ein Kreuz mit den blumigen Versprechen der Politik. Aber ist diese nicht auch viel zu ernst, als dass man sie sich selbst überlassen sollte?
Als Zeitschrift für Theater und Politik finden wir natürlich: Ja. Sie ist viel zu wichtig, als dass man sich klammheimlich davonstehlen dürfte. Für unseren Schwerpunkt zu den Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag haben wir daher Stimmen versammelt, die den politischen Schlagabtausch nicht scheuen. So stellt die in Syrien geborene Autorin Luna Ali mit Hannah Arendt im Gepäck gleich mal ein paar Grundsätze unserer repräsentativen Demokratie zur Debatte. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in unserem Grundgesetz. Was aber, wenn ein nicht geringer Prozentsatz dieses „Volkes“ gar nicht an die Wahlurnen darf? Was ist mit all jenen, die zwar seit Jahren in Deutschland leben, arbeiten und Steuern zahlen, aufgrund ihres Passes im Deutschen Bundestag aber nicht repräsentiert sind? „Wenn die Legitimität einer Demokratie auf dem Wahlrecht beruht“, schreibt Luna Ali, „dann scheint der Ausschluss von circa zwölf Prozent der Bevölkerung ein klares Demokratiedefizit zu sein.“
Eklatante Defizite benennt auch Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch im Gespräch mit Christine Wahl. Keine der Spitzenparteien verfüge über ein wirklich umfassendes Rezept, mit dem die Zukunftsherausforderungen, sei es Klimaschutz oder die soziale Frage, zu bewältigen seien, so Klepsch. Hinzu komme eine „derartige Atomisierung von Meinungen“ in der Gesellschaft, dass es nahezu unmöglich geworden sei, zu einem Thema eine größere Gruppe hinter sich zu versammeln. Und wer soll dies alles am Ende kitten? Natürlich: Bildung und Kultur. Eher absurd, findet der Soziologe Aladin El-Mafaalani, mit dem Dorte Lena Eilers über sein Buch „Mythos Bildung“ und die produktive Entzauberung symbolpolitischer Sonntagsreden sprach.
Alle Staatsgewalt geht vom Staate aus. Diese Perversion von Herrschaft erleben derzeit die Menschen in Belarus. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im August 2020, den landesweiten Protesten und der brutalen Niederschlagung durch Diktator Lukaschenko befinden sich viele Belarussinnen und Belarussen im Exil. So auch Andrej Kurejtschik, dessen Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ wir in diesem Heft drucken. Im Gespräch mit Patrick Wildermann berichtet der Autor und Dramatiker von den großen Hoffnungen, die er vor den fingierten Wahlen hegte – und dem großen Entsetzen danach. „Auf der Straße haben sich bürgerkriegsartige Szenen abgespielt, ich hätte nie gedacht, dass so etwas im Europa des 21. Jahrhunderts möglich ist.“
Die großen Verwerfungen im Osten hatte in all den Jahren seiner Volksbühnenintendanz auch Frank Castorf regelmäßig im Auge. Dennoch musste er scheinbar zunächst in die entgegengesetzte Richtung reisen, um unserem Kolumnisten Ralph Hammerthaler in Rom ein Geheimnis zu erzählen – nur so viel sei hier verraten: Um Frauen geht es dabei nicht. Lieber Frank Castorf, wir gratulieren ganz herzlich zum 70. Geburtstag!
Einen Meistertitel in Sachen Verschwiegenheit scheint indes auch die Truppe um René Pollesch anstreben zu wollen. Während allerorten die Theater mit ihren Plänen für die kommende Spielzeit aufwarten, wartet man auf Neuigkeiten, den Intendanzneustart der Saison betreffend, vergeblich. Die Volksbühne schweigt – während es hinter den Mauern offenbar brodelt. Einst groß angekündigt, werden die Gesamtkunstwerker Vegard Vinge und Ida Müller nun doch nicht zum Team gehören. Was ist passiert? Tom Mustroph hat recherchiert.
Man muss am Ende nicht Corona bemühen, um von den Künstlerinnen und Künstlern zu erzählen, die sich in ihren Arbeiten auf wundersame und wunderbare Weise mit dem menschlichen Körper befassen. Im Kunstinsert porträtiert Sascha Westphal die bildende Künstlerin Mariechen Danz, die sich in ihren Installationen und Performances mit dem Werden und Vergehen des Menschen auseinandersetzt. Heinz-Norbert Jocks erinnert in einem 2011 geführten Interview an den im Juli verstorbenen Meister des Verschwindens Christian Boltanski, während Johannes Odenthal des bereits im Mai verschiedenen Tänzers und Choreografen Raimund Hoghe gedenkt. „Nicht nur Wörter schreiben einen Text“, hatte Hoghe einst erklärt. „Auch Körper erzählen eine Geschichte … Wie Pier Paolo Pasolini sagte: ,Den Körper in den Kampf werfen.‘“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Installationenvon Mariechen Danz | Seite 14 |
Die Reise beginntDie Künstlerin Mariechen Danz hinterfragt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen akademische und gesellschaftliche Gewissheitenvon Sascha Westphal | Seite 18 |
Thema: Bundestagswahlen | |
Ein Wahlrecht für alle, überall!Über die fehlenden zwölf Prozent, das unzeitgemäße Konstrukt der Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Menschenrechtevon Luna Ali | Seite 21 |
Mehr Mut zur Kontroverse!Die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Die Linke) über ihre Ratlosigkeit zur bevorstehenden Bundestagswahl, die drohende Atomisierung der Gesellschaft und Kultureinrichtungen als Debatvon Christine Wahl und Annekatrin Klepsch | Seite 24 |
Lasst uns streiten!Der Soziologe und Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani über Irrungen und Wirrungen der Symbolpolitik, fatale Romantisierungen und die Produktivität des Streitsvon Dorte Lena Eilers und Aladin El-Mafaalani | Seite 28 |
Kolumne | Seite 33 |
Mmh, WidersprücheFrank Mario Castorf soll ja jetzt siebzig seinvon Ralph Hammerthaler | |
Exklusiver Vorabdruck | Seite 39 |
Die andere Wahrheitvon Wolfgang Engler | |
Festivals | |
Jenseits des NagelstudiosNach Monaten der Isolation und Selbstbezüglichkeit sendet das Festival Theater der Welt in Düsseldorf vitale Lebenszeichen aus der internationalen Theaterszenevon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Menetekel einer destruktiven GesellschaftUngeschönt und eindringlich blicken die Wiener Festwochen auf Arbeit, Armut und moderne Sklaverei in einer von Produktivitätssteigerung besessenen Weltvon Margarete Affenzeller | Seite 46 |
Endspiel unter TageDie Salzburger Festspiele graben mit „Das Bergwerk zu Falun“ in der Regie von Jossi Wieler ein Frühwerk Hugo von Hofmannsthals wieder ausvon Otto Paul Burkhardt | Seite 50 |
Fernbeziehung zum TheaterDas Impulse Festival in NRW arbeitet engagiert die Checkliste gesellschaftspolitischer Themen ab – im digitalen Raum wird daraus jedoch leicht konsumierbare Kritikvon Lara Wenzel | Seite 51 |
Ein Festival für KilljoysAnna Mülter, neue Künstlerische Leiterin der Theaterformen in Hannover, setzt auf Veränderung durch Widerstand – und blockiert sogleich eine ganze Hochstraßevon Theresa Schütz | Seite 54 |
Zwei Revolver und eine Handvoll KritikDas africologne Festival in Köln stößt seit zehn Jahren Diskussionen über neokoloniale Verhältnisse an, um Vorurteile auf beiden Seiten abzubauenvon Sascha Westphal | Seite 57 |
Wanderer im NebelDie Landesbühnentage in Schwedt zeigen ein lebendiges Programm in voller Präsenz – Zukunftssorgen gibt es dennochvon Elisabeth Maier | Seite 59 |
Protagonisten | Seite 68 |
Das Jahr des EismannsRaus aus dem Schneckenhaus des Ichs – Neue Romane von Ferdinand Schmalz, Roland Schimmelpfennig, Rebekka Kricheldorf und Michel Decarvon Dorte Lena Eilers | |
Kommentar | Seite 74 |
Rückwärts nimmer?Coming soon, aber ohne Ida Müller und Vegard Vinge – Die Berliner Volksbühne gibt unmittelbar vor dem Neustart unter René Pollesch Rätsel aufvon Tom Mustroph | |
Abschied | |
Die Behauptung einer anderen SchönheitEin Nachruf auf den Schriftsteller, Tänzer und Choreografen Raimund Hoghevon Johannes Odenthal | Seite 76 |
Mit jedem Herzschlag dem Tod ein bisschen näherDer bildende Künstler Christian Boltanski (1944–2021) über das Spiel mit dem Verschwinden. Ein Wiederabdruck in Gedenken an einen großen Spurensuchervon Heinz-Norbert Jocks | Seite 78 |
Stück | |
Mein Anwalt sagte: Du solltest sofort gehen!Der Dramatiker Andrej Kurejtschik über die Situation in Belarus, sein Leben im Exil und sein Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Andrej Kurejtschik | Seite 86 |
Die Beleidigten. Belarus(sland)von Andrej Kurejtschik | Seite 88 |
Magazin | |
Ode ans ObjektDas CircusDanceFestival Köln versteht sich als Motor für die Entwicklung des zeitgenössischen Zirkusvon Tom Mustroph | Seite 101 |
Verschmelzung im HybridenDas Hildesheimer Transeuropa-Festival zeigt sich wegweisend für die performativen Künstevon Lina Wölfel | Seite 102 |
Ein Angriff auf Augen und OhrenDas Theaterfestival im italienischen Santarcangelo erfindet sich immer wieder neuvon Renate Klett | Seite 103 |
Die Kunst der MontageThomas Köck erhält für „Atlas“ den Hörspielpreis der Kriegsblindenvon Thomas Irmer | Seite 104 |
Die Schönheit im ScheiternZum Tod des Regisseurs Jarg Patakivon Viola Hasselberg | Seite 105 |
Visionär der TextergründungEin Nachruf auf den Regisseur Rolf Winkelgrundvon Thomas Irmer | Seite 105 |
Chronist einer OpernepocheIm Gedenken an den Theater-der-Zeit-Redakteur Wolfgang Langevon Friedrich Dieckmann | Seite 106 |
Wahrhaftiges SpielStefan Tigges: Jürgen Gosch / Johannes Schütz Theater. transcript Verlag, Bielefeld 2021, 616 S., 49,99 EUR.von Theresa Schütz | Seite 108 |
EinzelkämpferRudolf Rach: gleich nebenan. Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln 2020, 293 S., 22 EURvon Ute Nyssen | Seite 109 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 110 |
PremierenSeptember 2021 | Seite 112 |
Impressum/Vorschau | Seite 115 |
Autorinnen und Autoren September 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 116 |
Was macht das Theater, Ulrich Matthes?von Ulrich Matthes und Patrick Wildermann |
Margarete Affenzeller
Luna Ali
Otto Paul Burkhardt
Mariechen Danz
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Aladin El-Mafaalani
Wolfgang Engler
Ralph Hammerthaler
Viola Hasselberg
Thomas Irmer
Heinz-Norbert Jocks
Annekatrin Klepsch
Renate Klett
Martin Krumbholz
Andrej Kurejtschik
Elisabeth Maier
Ulrich Matthes
Tom Mustroph
Ute Nyssen
Johannes Odenthal
Theresa Schütz
Christine Wahl
Lara Wenzel
Sascha Westphal
Patrick Wildermann
Lina Wölfel
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