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Die Zeit als Sinnverdichter

Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach

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De- und Rekontextualisierungsstrategien. In „Wir sind das Volk“ kehrt das Heiner-Müller-Programm von Laibach ans HAU zurück, hier: Agnes Mann. Foto Sašo Podgoršek
De- und Rekontextualisierungsstrategien. In „Wir sind das Volk“ kehrt das Heiner-Müller-Programm von Laibach ans HAU zurück, hier: Agnes Mann. Foto Sašo Podgoršek

Die in der beginnenden Pandemie halb vergessene Produktion „Wir sind das Volk“ von der Band Laibach mit Texten von Heiner Müller wird urplötzlich zum aktuellen Stück zur Lage. Gesagtes, Geschriebenes und auch Gesun­genes ändern sich, wenn die Kontexte sich ändern. Diese Erfahrung durfte man beim musikalisch-theatralen Industrial-Event „Wir sind das Volk“ machen, den die slowenische Konzept-Band Laibach mit sehr deutschen Texten von den Gebrüdern Grimm über Adolf Hitler bis Heiner Müller im Berliner HAU veranstaltete. Das war nicht ganz unerwartet, weil mit Laibach und Müller nicht nur De- und ­Rekontextualisierungsstrategen aufeinandertrafen. Auch die per Tondokument eingespielte nationalsozialistische Rhetorik ist mit seinen antikapitalistischen Momenten sehr schillernd. Und Grimm’sche Märchen sind per se deutungsoffen in ganz viele Richtungen.

Aber als Glanzstück der Rekontextualisierung erwies sich dann doch das Müller-­Zitat „Ich will ein Deutscher sein“. Es wurde von Cveto Kobal, unterstützt von einem Streicherquartett und den Perkussionsperformern von The Stroj, in der Manier eines Schlagerbarden vorgetragen. Bei der ersten Aufführungsserie im fernen Jahr 2020 löste der in Dauerschleife gesungene Satz beim Ironie-seligen und postdramatisch konditionierten HAU-Publikum noch hübsches Gelächter aus; in Unkenntnis des Müller’schen Kontextes mochte man sich da noch Zwerchfell bebend von jedem Deutschsein-Wollen distanzieren. Müller entnahm den Satz ursprünglich dem Tagebuch eines jüdischen Jungen, der im Warschauer Ghetto umkam. Knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zwei Jahre nach der Uraufführung von „Wir sind das Volk“ und wenige Wochen nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine erreicht der Satz nun neue Bedeutungshorizonte. Die Deutschen sind plötzlich die Guten, die nicht irgendwo einmarschieren, sondern ganz im Gegenteil Opfern helfen. Und wenn Cveto Kobal dann auch noch das ursprünglich von Hans Albers vorgetragene „Fliegerlied“ anstimmt, das einst Tausende blonde Burschen von der Flieger-HJ begeistert in die NS-Luftwaffe trieb, dann sind die Flugrouten, die die Videoprojektion an den Himmel des ­altehrwürdigen Hebbel-Theaters wirft, nicht mehr Metapher für deutsche Bomberrouten. Nein, jetzt scheinen es russische Bomber, die am Himmel Linien ziehen. Und im Dunkel des Zuschauerraums in Berlin fühlt man sich beklemmend nah an Kiews Bombenkellern.

Die Künstler haben die Szene von 2020 zu jetzt nicht verändert, versichert Laibach-Mitglied Ivan Novak gegenüber Theater der Zeit. „Wir wollen weder diesen Krieg ‚ausnutzen‘ noch irgendeinen Profit daraus ziehen“, sagt Novak und verweist auf ein anderes, mittlerweile ebenfalls furchtbar aktuell aufgeladenes acht Jahre altes Stück von ­ihnen. Im Video „Iron Sky – The Coming Race“ (www.youtube.com/watch?v=­OSHaVHHhfI) ist ein Wladimir Putin am Kartentisch zu sehen, der Land um Land dem Territorium Russlands hinzufügt und dazu ein spektakuläres Tanzsolo, eine Hybride aus Ballett und Kosakentanz, auf die Bretter legt. „Es ist für uns jetzt schwer genug, dass wir das bereits 2014 vorausgesehen haben“, meint Novak.

Auch „Wir sind das Volk“ wird zu einem seherischen Abend. Allerdings in vielerlei Richtungen. Der ewig ausgestreckte Arm eines Kindes im Grimm’schen Märchen erinnert an rechtsextremistisches Gedankengut in diesem Land, das durch den Ukraine-Krieg ja nicht einfach verschwunden, sondern bestenfalls überdeckt, aber wohl eher anders amalgamiert ist. Die neuen Rüstungsmilliarden vom „Bazooka“-Kanzler Olaf Scholz jagen unter dem Fliegerhimmel einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Die auf Stahlfässer herabkrachenden Trommelstöcke erzeugen nicht nur den alten Sound der Industrialisierung; sie tragen in sich auch die Wucht von Militär­märschen. Das war einst der Sound von Macht und Stärke – und vom Bewusstsein, mit vor Stolz geweiteter Brust auf der richtigen Seite zu stehen. An diese illusionierenden Zustände knüpft Laibach musikalisch dekonstruierend an. Müllers Texte erzählen den Krieg dann vom Ende her, von der Zerstörung und Verstörung aus, vom Vertriebensein, vom Fremdsein des Einzelnen.

„Wir sind ein Volk“, entstanden auf Initiative von Anja Quickert von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft, ist ein störrischer Abend. Er bewegt sich zwischen den Genres, ist mehr installatives Konzert denn Musical. Das Statische auf der Bühne lässt aber auch den Geist frei wandern. Und vielleicht ist es genau richtig, dass fast vier Jahrzehnte nach der ersten Begegnung zwischen Müller und der Band erst jetzt dieses Werk zustande kommt. Im März 2022 kam auch der dazugehörige Tonträger auf den Markt. //

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