„Die Göttin Kunst! Und hier ist ihre Stätte!“

Zur Baugeschichte des Theaters Stralsund

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Bei aller Theaterliebe, aber ein Krankenhaus verkaufen und damit das Stadttheater sanieren – ist das nicht ein bisschen dekadent? Viele Mitglieder der Stralsunder Bürgerschaft waren am 10. März 2005 stolz auf die politische Mehrheit, die diese Entscheidung trug. Ein klares Statement. Eine kleine Stadt in Vorpommern rettet mit einem originellen Schritt sein Stadttheater. Und sich selbst vor dem kulturellen Abgesang. Die Altstadt Stralsunds ist UNESCO-Weltkulturerbe. Kann es da sein, dass vor der Stadtmauer ein Theater vor sich hin verfällt? Letztlich bekam das Theater nur 16 von 60 Krankenhaus-Millionen. Aber so viel Geld in Zeiten chronisch klammer Stadtkassen für die Kultur in die Hand zu nehmen, das ist mutig. Das Wurschteln in dem dringend sanierungsbedürftigen Haus hatte ein Ende. Ein Pinsel hier, ein Hammer da, ein Antrag, weil eine Heizung tropft – so werden Theater bis zum letzten Atemzug still vor sich hin repariert und zugrunde gespart. Stralsund aber krempelte die Hemdsärmel hoch und verteilte 90 Jahre gesammelten Theaterinhalts über die ganze Stadt. Intendant Rüdiger Bloch schob programmatisch einen Besen über die Bühne, „Auskehren“ hieß der letzte Akt in diesem Theater. Eine Reihe städtischer Immobilien wurde zweckentfremdet und zu interessanten Ersatzspielorten und Verwaltungsgebäuden erklärt. Und schon bekamen die Bagger ihren Auftritt …

Die Stadt und die SES Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund mbH hatten das Architekturbüro Springer aus Berlin mit der Sanierung beauftragt. Jörg Springer sah man im schwarzen Rollkragen und dunklen Anzug, grau meliert und mit einem Ordner unter dem Arm in den nächsten zwei Jahren mit langen Schritten vorauseilen, wenn Delegationen und Gästen die größte Baustelle der Stadt gezeigt wurde. Peter Boie, Geschäftsführer der SES, hatte mit gewissenhaftem Blick die Bauphasen im Augenwinkel. Während Anton Nekovar, seinerzeit Intendant, gestikulierend und ganz Prinzipal voller Enthusiasmus auch im völlig entkernten Gebäude - zustand mitreißend Opern und Philharmoniekonzerte auf die nicht vorhandene Bühne fantasierte, so dass man bei genauem Hinhören die silbrigen Violinen der „Lohengrin“- Ouvertüre zu hören glaubte.

Großbaustelle – ganz ähnlich muss es 1913 am selben Ort ausgesehen haben. „Mit welcher herzlichen Freude führte uns der alte Direktor Treutler in dem neuen Hause herum, stolz bewegt ob des viel schöneren und leistungsfähigeren, das der Rahmen werden sollte für das neue Feld seiner Tätigkeit. Alles wies er uns und alles sahen wir gern mit gleicher Freude für die Stadt, die wir liebgewonnen hatten: vom Heizkeller zum Schnürboden, vom Orchesterraum, aus dem Treutler schon ‚Meistersinger- Musik‘ zu hören hoffte.“ (Pooth, S. 127) Seit 1900 war Ludwig Treutler Direktor im Schauspielhaus am Alten Markt, und er war das mit aller Leidenschaft und hatte eine offensichtlich glückliche Hand mit der Stralsunder Bürgerschaft, wusste sie zu motivieren und bei Laune zu halten.

Treutler sollte das neue Haus übernehmen. Er brachte beratend all seine Theatererfahrungen, Wünsche und Visionen in diesen Bau mit ein. Federführend in allem sonst war der Kölner Regierungsbaumeister Carl Moritz, Architekt von bisher sechs Theatern. Zeitgleich entstand das Theater in Bochum, das wie fast alle Theater dieses Architekten im Zweiten Weltkrieg zerstört werden sollte. Stralsund war das siebte und letzte der Reihe, hier flossen alle seine bisherigen Erfahrungen ein. Anfang Mai 1913, wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag, bekam er den Auftrag und 500 000 Mark pauschal aus der Stadtkasse. Schon am 1. Juli wurde der erste von insgesamt 800 Eichenpfählen auf einer erhöhten Parkfläche vor dem Kniepertor in den Boden gerammt, da man erst in neun Metern Tiefe auf festen Baugrund stieß. Noch heute steht das Theater auf diesem alten Fundament. Wie auf den Grünen Hügel in Bayreuth sollte der Zuschauer sinnierend vor die Stadt spazieren, Alltag und Geschäft der Stadt hinter sich lassen und sich so wandelnd auf den Abend einstimmen.

Moritz errichtete nicht einfach nur ein Theatergebäude. Er versuchte, sein Ideal eines Theaters zu verwirklichen. In seiner programmatischen Abhandlung „Vom modernen Theaterbau“, die 1906 in den Flugblättern für künstlerische Kultur erschien, entwickelte er über das Ausschlussverfahren seine Theorie des Theaters: Er erregt sich über eine Reihe von Pfuschern des Illusionstheaters, die dem Theater der bürgerlichen Aufklärung und dessen innerer Wahrhaftigkeit den Niedergang beschert hätten. Zu denen gehört für ihn trotz aller Verehrung auch Richard Wagner, dessen illusionistische Bühnenästhetik eine Entwicklung auf die nächsten hundert Jahre ausgebremst habe. „Wer hat nicht schon, ergriffen von der dramatischen Gewalt der Wagnerschen Musik, den brennenden Wunsch empfunden, wenn doch nicht die Szenerie in ihrer krassen Aufdringlichkeit stören wollte.“ (Moritz, S.18) Theater finde eigentlich nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum statt, in den Herzen der Menschen. Theater ist Wahrnehmung. Und so öffnet er die Bühne für den Zuschauerraum, entwickelt eine ideale Einheit zwischen Bühne und Schauraum. Der Zuschauer produziert mit. Stralsund hat also nicht irgendein Gebrauchstheater, sondern eines, das die Quintessenz eines fortschrittlichen, aufgeklärten Theaterideals beinhaltet.

Mitte August 1913 – also bereits nach anderthalb Monaten! – waren die Außenmauern neun Meter hoch, die Bodenplatten von Parkett und Bühnenhaus fertig und man baute mit wilder Entschlossenheit, so dass nach der Winterpause im Februar 1914 das Gebäude außen fertiggestellt war, und der Eröffnungstermin im Herbst hätte eingehalten werden können.

Am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. „Der König rief und alle, alle kamen. Deine Freude würde groß sein, wenn Du sehen könntest, wie auch in Stralsund alles freudig und voll Gottvertrauen zu den Waffen will. Es haben sich mehr junge wie alte Leute freiwillig gestellt als erwartet war, denn in Stralsund sind jetzt etwa 50 Mann überzählig. Hier sammelten sich aber auch 20 000 Soldaten. Viele meiner Bekannten haben schon des Königs Rock angezogen. Die ganze Prima des Gymnasiums, mit Ausnahme von zwei Schülern, die nicht tauglich sind, spaziert schon auf dem Kasernenhof. […] Wenn man sieht, wie freudig die Freiwilligen ihren Dienst versehen, wie freudig auch unsere 42er zur französischen Grenze fuhren, dann muss man sagen: es ist nicht auszudenken, dass ein Volk, das so begeistert in den Kampf zieht wie wir, zu Grund gehen kann.“ (Aus einem Brief vom 9. August 1914 aus Stralsund, in: Schiel, S. 21) Aber schon Mitte August druckten die Zeitungen vorsichtig die ersten Todesanzeigen gefallener Soldaten. Die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende starb mit jedem Gefallenen. Die Bauarbeiten wurden bis auf Weiteres eingestellt.

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