Kraftfeld Chor
Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek
von Ulrike Haß
Taschenbuch mit 360 Seiten, Format: 135 x 215 mm
ISBN 978-3-95749-279-1, Mit zahlreichen Abbildungen
Aus den älteren, weit verzweigten ländlichen Dionysien mit ihren kultischen Tanzplätzen macht sich der Chor auf, um im fünften vorchristlichen Jahrhundert in der griechischen Polis zu erscheinen. Demokratie, Tragödie und die genealogische Ordnung im Namen des Mannes entstehen zur selben Zeit. Sie gründen sich als je zweifache Gliederung von Polis und Oikos, Skene und Orchestra, Protagonist und Chor, Mann und Frau. Ihre Asymmetrie bewirkt, dass sich diese hybriden Gliederungen nicht schließen können. Am Ort des Chores artikulieren sich Bezugnahmen auf kosmologische Wirkungsgefüge, Umweltsphären und nicht-genealogische Zusammenhangsformen. Chorische Beziehungsweisen bilden ein Kraftwerk, denn der Chor, der nicht aus dem Theater kommt, führt über dieses hinaus und erneuert es auf je einzigartige Weise.
Ohne Anfang ohne Ende
Alle Versuche, den Anfang des Chors zu ermitteln, laufen ins Leere. Sie stoßen zwar auf eine Vielzahl von Ursprungsherden in den ländlichen Dionysien und Agrarkulten, aber diese verzweigen sich weit über das archaische Zeitalter hinaus und schließlich verlieren sie sich. Für die Anfänge des Chors gibt es keine Zeitangabe, kein Datum. Der Chor hat weder Adresse noch Urheber. Kein Dichter hat ihn sich ausgedacht. Sicher ist nur, dass der Name chorus zunächst einen Tanzplatz bezeichnete, einen simplen Treffpunkt für all jene, die sich zu den großen Frühlingsfesten versammelten, um tage- und nächtelang zu singen und zu tanzen. Die Feste galten den Wiedergeburten des Gottes Dionysos wie auch der Erde. Denn beide haben ihr eigenes Leben, das endet und das wiedergeboren wird und das in allem schlicht das Nichtidentische bezeichnet, dem Menschen begegnen, ohne die Möglichkeit, es einzusehen oder zu verstehen. Diesseits einer naiven Mimetik von Naturprozessen und ebenso diesseits eines verschwommenen, kosmischen Organizismus kannten archaische Gesellschaften das Opfer, mit dem sie die Fremdheit des Lebens heiligten. Heilig machen, sacrum facere, heißt, eine andere Welt mittels eines Opfers in ihrer Unzugänglichkeit zu würdigen; es heißt, eine Grenze zu markieren und diese festlich zu achten. Dazu wurde ein Opfer der Zugehörigkeit zu dieser Welt ausgesetzt. Die Fremdheit der fremden Erde ist absolut unberührbar, kein Mensch langt dahin.
Im siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert, die von der klassischen Archäologie als archaische Epoche zusammengefasst werden, bilden sich tyrannische Könige heraus, die wesentlich zur Entmachtung konkurrierender aristokratischer Sippen und Clans beigetragen haben. Im Umfeld dieser Tyrannen entstehen im Übergang zum fünften Jahrhundert Stadtstaaten, die sich von den ländlichen, älteren Götter- und Umweltbezügen ablösen. Griechenland erlebt einen regelrechten Gründerboom. Die attische Polis, in der freie Männer das Wort führen – und frei sind, weil sie durch Sklaven von der Arbeit und durch Frauen von der Sorge um das Haus entlastet sind –, beruht auf einer Reihe präziser Trennungen, mit denen sich die Polis gegen ihr Außen zu verschließen sucht. Zugangs-, Besitz- und Wohnrechte werden eigens geregelt. Für den städtischen Binnenraum wird eine Zweigliederung maßgeblich, die mit den Begriffen Polis und Oikos eine strenge institutionelle Scheidung von öffentlicher und häuslicher Sphäre bezeichnet. Doch mit dieser Zweigliederung geht ein wichtiger missing link einher. Was zwischen den Zweien verlorengeht, insofern ihm keine eigene Stelle mehr eingeräumt wird, ist kein uranfängliches Chaos, sondern die Ordnung des Kosmos mitsamt seiner Osmosen. Die Metamorphosen und befremdenden Eruptionen der ländlichen Dionysien werden allmählich vergessen.
Erst einmal gegründet, differenziert sich die Polis mit atemberaubender Geschwindigkeit in ihrem Innern. Neben der Agora, dem zentralen öffentlichen Platz der Gerichtsbarkeit und der offiziellen Verlautbarungen, entstehen Gymnasien, Sportanlagen und Theater. Die Polis richtet alljährlich große städtische Dionysien aus. Für diese Festspiele im Frühjahr des Polis-Kalenders löst sich die chorische Form von ihren ländlich weit verstreuten Tanzplätzen. Sie erbt vom Tanzplatz ihren Namen und zieht als chorus in die Polis ein, die für den Chor im staatlichen Rahmen ihrer Festspiele verschiedene Funktionen in der festlichen Eröffnung und eine neu installierte Tanzplatte vorsieht: die Orchestra. In der Polis setzt sich ein Chor aus Einwohnern der Stadt zusammen, die von einem Chorführer (koryphäe) in Gesang, Stimme und Tanz unterrichtet werden. Für ihren Unterhalt kommen reiche Bürger der Polis auf. Die Festspiele werden als Theaterwettbewerb durchgeführt. Die Annahme eines Stücks wird damit besiegelt, dass dem Dramatiker für die Aufführung von der staatlichen Organisation der Festspiele ein Chor zur Verfügung gestellt wird.
Während wir es im Fall des Chors mit einem veritablen Umzug zu tun haben, über den wir im Einzelnen wenig wissen, lässt sich für die Theaterfigur des Protagonisten ein relativ exaktes Gründungsmoment feststellen, das von verschiedenen Texten überliefert wird, die auf ein Datum und einen Einzelnamen hinweisen: Thespis, der Berater des Tyrannen Peisistratos, habe um 534 v. Chr. dem Chor zum ersten Mal einen ‚Haupthandelnden‘ gegenübergestellt und damit die tragische Form ‚erfunden‘. Lassen wir die Erfindungsrhetorik beiseite, so lässt sich zumindest festhalten, dass die Figur des Protagonisten mit den staatlichen Gründungsenergien der Polis und ihren neuartigen Repräsentationslogiken im späten sechsten Jahrhundert verbunden ist und mit diesen zusammen entsteht. Dem Theaterort Orchestra wird zum Teil erst später, wie im Fall des Dionysos-Theaters in Athen, ein Bühnenhaus (Skene) mit einem davorliegenden Podest (Proskenion) für den Auftritt der Protagonisten angefügt. Mit der Addition dieser beiden Orte, Orchestra und Skene, liegt die asymmetrische Bühnengliederung des antiken Theaters vollständig vor. Beide Bühnenorte tangieren einander. Aber sie überschneiden sich nicht und werden sich als Auftrittsorte für die beiden Körper des Theaters, Chor und Protagonist, nicht vermischen.
Der Chor in der Orchestra ist ein anderer als der in den ländlichen Dionysien. Obwohl ihm ein Bühnenort zugewiesen ist, wird der Chor in der Polis nicht einfach heimisch. Seine Fremdheit und seine Andersheit kommen in zahlreichen formalen Aspekten zum Ausdruck, das heißt, sie werden geachtet. Der Chor ist vorgängig, er kommt von woanders her. Daher können die Werke der großen Tragiker auch als Versuche gelten, die Figur des Chors zu begreifen und am Ort der Tragödie zu bestimmen. Dabei treten zwischen Aischylos, Sophokles und Euripides starke Unterschiede zutage. Trotz aller Differenzen wird jedoch ein Grundmuster eingehalten, mit dem die Dichter variantenreich spielen. Das Muster sieht vor, dass der Chor durch jenes der beiden Tore, das zum umgebenen Land (chōra) zeigt, in das Theater einzieht und es mit seinem Eingangslied eröffnet. Ebenso beschließt er es mit einem Schlusslied und seinen Auszug durch das zur Polis weisende Tor. Sowohl die zeremonielle Praxis der Theaterfeste als auch die Werke der Tragiker zeigen uns den Chor als einen Ort, der dem Theater vorausgeht und an dem sich im Herzen der Polis eine Bezugnahme auf jene Außen- und Umweltsphären artikuliert, von denen sich die Stadtstaaten abwandten, um sich zu gründen.
Im Übergang von der sogenannten Archaik zur klassischen Epoche Griechenlands trennen sich nicht nur ,Stadt und Land’, es trennen sich Zeitalter voneinander. Der Übergang kommt mit einem Weltformwechsel überein, in dem sich nach und nach eine Tradi - tionslinie der europäischen Souveränität herauskristallisiert. Sie manifestiert sich zunächst in den griechischen Stadtstaaten und deren Einrichtungen und konsolidiert sich in dem Maße, in dem diese sich gegen eine konstitutive Umweltlichkeit überindividuellen und transhumanen Lebens verschließen. Ein solcher Schließungsversuch richtet sich gegen die Abhängigkeit menschlicher Einrichtungen von allem, was mit deren vorgeformten Konzepten nicht übereinstimmt. Er geht von der Beherrschbarkeit primärer Abhängigkeiten aus. Damit handelt es sich jedoch um ein maßloses oder, wie die antiken Autoren sagen, hybrides Unterfangen. Im Zuge heutiger, vor allem technologisch und ökologisch bedingter Transformationen offenbart sich dieser Schließungsversuch als vollständig vergeblich. Er ist am Ende, das ohne Ende ist. Und die griechischen Tragödien zeigen uns, dass es sich von Anfang an so verhalten hat. Sie insistieren und weisen uns auf eine latente Korrespondenz hin, die den antiken Weltformwechsel mit unserer Zeit verbindet, in der sich die Welt gegenwärtig auf eine unüberschaubare Weise neuerlich transformiert. Die für menschliches Wissen und Können undurchdringlichen Zusammenhänge, die in Phänomene wie zum Beispiel die Erderwärmung oder das Artensterben eingehen, sind in ihrer Fremdheit anzuerkennen. Weder sind solche hyperkomplexen Zusammenhänge auf das Taschenformat eines umgebenden Mediums zu verkleinern noch irgendeiner menschlichen Rettungsaktion zugänglich. Aber sie geben uns eine Erfahrung davon, dass sich die Menschenwelt am Rand sehr viel größerer, transhumaner Räume und Prozesse abspielt, in die sie schon immer verstrickt ist. Auch darauf weist uns der chorische Körper des Theaters hin: dass wir derart Umwelt nicht haben, sondern Umwelt sind. Wir sind symbiontische Wesen, mit anderen Symbionten verstrickt.
Der Chor vermittelt im Übergang vom sechsten zum fünften Jahrhundert nicht zwischen Religion und Polis, wie manchmal behauptet wird. Er vermittelt auch nicht zwischen Polis, Politik und Theater, wie andere sagen, und ebenso wenig zwischen Publikum und Darstellung. Immer wieder ist der Chor als Vermittlungsfigur zwischen allen möglichen Polen und Sphären lokalisiert worden. Aber damit ist man nur einer Beschreibung des Chorkörpers ausgewichen und hat nicht danach gefragt, was ihn überhaupt dazu befähigt, vorübergehend einen Zusammenhang auszubilden. Man hat nicht nach den Besonderheiten dieser Zusammenhangsform gefragt, in der sich mehrere Körper und Stimmen auf Zeit miteinander verknüpfen. Ebenso wenig hat man versucht, die Beziehungsweise zu beschreiben, um die es sich hier offenkundig handelt. Sie mag diesseits manifester Sichtbarkeiten oder Sagbarkeiten spielen, aber sie ist deswegen nicht ohne Ausdruck, eigene Merkmale und Regelhaftigkeiten. Gegenüber binären Paarbildungen ist der Chor als andere Beziehungsweise und gegenüber familiären Verwand tschaftsbildungen als grundlegend andere Zusammenhangsform in Betracht zu ziehen.
Sicherlich ist das Theater, wie Bertolt Brecht notiert, Theater dadurch geworden, dass es den Kult verlassen hat. Doch mit dem Chor, der definitiv nicht aus dem Theater kommt und ihm niemals ganz zugehörte, stützt sich Theater auch weiterhin auf das kultische Dispositiv. Wenn Jean-Luc Nancy zufolge alle Künste einen heiligen Ursprung haben, weil sie aus dem Kult hervorgegangen sind, dann wird genau dieser Zusammenhang im Theater vollständig bewahrt. Theater ist eine Zusammensetzung. Das zusammengesetzte Ding des Theaters beginnt in der griechischen Antike mit einer Figur der Pluralität, der Vielstimmigkeit und des Mehrfachen, die in jedem Fall vor der Eins einsetzt. An die Eins mögen sich die Namen von Protagonisten oder die Titel von Tragödien heften, aber der Name der Tragödie, der sich aus tragos (Bock) und ōdē (Gesang) zusammensetzt, ist der Name dionysischer Kultlieder. Wenn also im Theater stets auch etwas geschieht, das von ‚daher‘ kommt, so liegt das sicherlich an der anderen Verfasstheit jenes dionysischen Tanzplatzes, der mit dem Chor in das Theater einzieht.
Begreifen wir das Heilige hier nicht in den Registern der Religion, sondern in den Registern kultischer Praktiken, die geeignet waren, die unberührbare Fremdheit des Fremden zu würdigen, so nähern wir uns einem „Theater als Kunst des Bezugs“ (Nancy). Eine solche Kunst richtet sich nicht an den Nächsten und nicht an den anderen. Sie ist vielmehr heterogen, vielfältig, und ausdrücklich nicht gerichtet: intraaktiv, also chorisch verfasst. Solch eine Kunst ermöglicht, dass Bezüge und Bezugnahmen statthaben. Sie ist Stätte der Bezugnahme und deren Affirmation, noch vor ihrer Verwirklichung in Beziehungen, die sich jeweils so oder so konkretisieren. Kennzeichnen wir das Theater als einen solchen Ort der Bezugnahme, tritt das Nichtkomprimierbare in den Beziehungen selbst hervor. Sie zeigen sich dann als reines Einander-beigefügt-Sein, das nicht begründbar ist (weil) und sich weder ideell noch gegenständlich berechnend (für etwas) schließen lässt.
Der Chor zieht aus den vegetativen Zyklen der Landschaften in die Stadt, aus einer Welt, die das Opfer kannte, in eine Polis-Welt der gleichsam säkularisierten Opfer. Aus dieser Passage geht seine unaufhebbare Janusköpfigkeit hervor. Der Chor weist eine dem Kollektiv der Polis und ihrem lógos zugewandte Seite auf und eine von der Polis abgewandte Seite, die mit einer außerordentlichen dýnamis verbunden ist, mit den Kräften der Mannigfaltigkeit: zwei Seiten, die Sebastian Kirsch als choro-logische und choro-nomische Dimension unterscheidet. Die Passage einer Grenze zeichnet die Körper, die sie überqueren. Chorkörper verwahren an ihren äußersten Enden eine Erfahrung des Angrenzens an eine absolute und unverfügbare Fremdheit. Der Chor wird uns von den Tragikern daher als ein für die Erinnerung äußerst begabtes Wesen gezeigt, dem noch immer etwas von seiner Zugehörigkeit zur Landschaft anhaftet, bewahrt von einem selbst rätselhaften Körper-Gedächtnis.
Demgegenüber ist die Stadtgründung a priori mit dem Problem ihres Erhalts verbunden. Die Gründung ginge verloren, wenn sich nicht Wege fänden, ihr über den Tod ihrer ersten Bürger hinaus Bestand zu geben. Jede Gründung ist daher mit Fragen der Fortsetzung verknüpft, die in den Registern von Filiation, Genealogie, Herkunft und Abstammung einer ‚Lösung‘ zugeführt werden. In diesem Zusammenhang wird die Einheit eines Vorfahren bedeutend, denn nur von ihm aus lässt sich Abstammung zählen. Ursprünge müssen gelernt werden. Doch zuvor müssen sie sauber voneinander getrennt werden, denn die Zeiten mannigfaltiger und vermischter Herkünfte liegen noch nicht so lange zurück. Unordentliche und vermischte Herkünfte müssen zugunsten genealogischer Ordnung explizit verworfen werden. Abstammung und Filiation liegen nicht einfach als Naturtatsachen vor, sondern müssen in Erfahrung gebracht und gelernt werden, wie der Fall des Findelkindes Ödipus zeigt. Die Verwandtschaftsbeziehungen ordnen sich unter der Maßgabe, dass es eine männliche Fruchtbarkeit und einen männlichen Anteil an der Zeugung gibt, welche zur ersten Bezugsgröße für Abstammungslinien gemacht werden. Das geht mit heftigen Turbulenzen vor sich, wie die Tragiker zeigen, zumal ein Erzeuger noch längst keinen Vater hergibt (wie der brüderlich zeugende Ödipus beweist).
Diese gewaltigen Transformationen vollziehen sich gleichzeitig mit einer Verdrängung jener Kulte, die kosmischen Milieus galten, in denen das Lebendige als unendliches Wirkungsgefüge begriffen wurde. Fragmente aus der chorlyrischen Tradition (Alkman) belegen die Hauptrolle, die jungen Mädchen und Frauen in der Entstehungszeit von Chören zukam. In seinen großen theatralen und diskursiven Untersuchungen zum Chor hat Einar Schleef immer wieder darauf hingewiesen, dass der Frau und den jungen Mädchen eine Hauptrolle bei der Konstitution des Chors zukommt. Sie haben ihn in der Gesamtheit seiner überdauernden Eigenschaften geprägt. Umgekehrt ist Chor-Verdrängung mit einer Vertreibung der Frau aus dem tragischen Konflikt verknüpft. Die beiden Thematiken Frau und Pluralität sind innig miteinander verbunden. Anders als die Körper der patrilinearen Genealogie, die Abstammungslinien pflanzen wollen, ist der Körper des Chors jeweils begrenzt (für die Dauer eines Festes, einer Aufführung), aber auch immer wieder von neuem ein anderer, sodass er sich selbst niemals ähnlich werden kann. Er hat in der Orchestra seinen Platz, aber dieser Ort behaust ihn nicht. Ein Chor wohnt nicht. Der Chor ist schlicht ein Wesen, das immerfort Grenzen ein- und ausfaltet und auf diese Weise ins Spiel bringt. Dem Chor kommt noch nicht einmal das Aktivum der Aufteilung zu. Was er teilt, ist schon da als aufgeteilt, ist schon da als Stimmen und Körper, die einander nicht ähnlich sind. Als in sich geöffneter Körper verräumlicht der Chor mehrfache Gegenwarten gleichzeitig. Das ist auch ein anderer Name für Situation. Chöre stehen definitiv nicht auf Seiten der Gründung und sie wollen auch nichts gründen: kein Haus, keine Stadt, keinen Bund, kein Familienwerk. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass die Anfänge des europäischen Theaters mit einer Standardisierung jener genealogischen Ordnung einhergingen, die sich unter der Ägide des Mannes etablierte.
Von daher verwundert es nicht, dass im Theater immer dann Rückbesinnungen und Neuentdeckungen des Chors stattfinden, wenn Zusammenhangsbildungen nach dem Muster genealogischer Ordnung nicht mehr gelingen. Haben sich die Institution und der Name des Vaters als unhaltbar erwiesen und ist keine väterliche Instanz durch Bittflehen mehr zu erreichen, wird unweigerlich der Saum des Chors berührt (Kleist). Hat sich eine inklusive Mehrheit als Standard etabliert und schweigt wie die deutsche Mehrheit nach 1945, wird ihr Standard als absolutes Vakuum kenntlich, dann geht das Bestreben dahin, sich der Eins und dem Protagonisten zu entziehen und ihre Logik vollends zu erschöpfen (Beckett). Der Chor ist niemals die Mehrheit, sondern das Vielfache, das Vielstimmige und Universelle im Sinn der Minderen und all derer, die der Standard ins Abseits verweist. In den Fluchtlinien eines bodenlosen, sich nach Art des Chors unablässig verzweigenden Werdens geht es darum, die Zwei der Geschlechter aufzukündigen (Jelinek).
Auf allen diesen Feldern wirkt sich die Kraft einer Asymmetrie aus, die mit der antiken Konstellation zwischen Chor und Protagonist anhebt. Diese Asymmetrie ist, anders als es zunächst klingt, nicht einfach gestrickt. Sie wirkt sich heute in technologischen, ökologischen und queeren Auseinandersetzungen aus und sie dauert in diesen Auseinandersetzungen an, die kein Ende nehmen. Doch es ist an der Zeit, sich den Stücken zuzuwenden.
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Ohne Anfang ohne Endevon Ulrike Haß | Seite 7 |
I Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen | |
Gattungs-troublevon Ulrike Haß | Seite 16 |
Fragment-Bewusstseinvon Ulrike Haß | Seite 37 |
Topologie des Chorsvon Ulrike Haß | Seite 64 |
Der andere Körper des Theatersvon Ulrike Haß | Seite 98 |
II Kleist / Abfall der Könige, Fürsten und Väter | |
Um 1800von Ulrike Haß | Seite 128 |
Das Guiskard-Fragmentvon Ulrike Haß | Seite 142 |
Der Prinz in der Orchestravon Ulrike Haß | Seite 164 |
III Beckett / Kein dramatisches Vakuum ohne Chor | |
Spiele mit Zuschauernvon Ulrike Haß | Seite 202 |
„Ne travaillez jamais!“von Ulrike Haß | Seite 241 |
IV Jelinek / Abfall von der Rolle Frau und von allem | |
Die Rolle verwerfenvon Ulrike Haß | Seite 270 |
Im AbseitsTheater schreibenvon Ulrike Haß | Seite 294 |
Altes Liedvon Ulrike Haß | Seite 319 |
Zum Schluss, vorerstvon Ulrike Haß | Seite 333 |
Endnotenvon Ulrike Haß | Seite 336 |
Abbildungsverzeichnisvon Ulrike Haß | Seite 356 |
Danksagungvon Ulrike Haß | Seite 357 |
Zur Autorin | Seite 359 |
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Beiträge von Ulrike Haß finden Sie in folgenden Publikationen:
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Hofmann&Lindholm
Nachgestellte Szene
Heft 09/2019
Miser Felix Austria
Martin Kušej über seinen Start am Burgtheater
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