Theater_Macht_Politik

Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert

von

Mein erstes großes Theatererlebnis hatte ich im Herbst 1969 am Schauspiel in Nürnberg.

Mit meiner Schulklasse war ich „ins Landheim“ gefahren, wir hatten zahlreiche Museen besichtigt und am Abend war der Deutschlehrer mit uns in das Theaterstück Masse Mensch von Ernst Toller gegangen. Das Einlasspersonal trug damals noch Uniformen, einer der Platzanweiser hielt in den Händen das Programmheft. „Alle Macht den Räten“ stand darauf und zudem noch eine geballte Faust. Allein dieser Anblick hatte für uns Schüler etwas Erstaunliches, denn dieser verkleidete Angestellte und die Faust der Räterepublik erschienen uns wie ein Widerspruch – und er war doch möglich, weil er gestaltet war. Auf der Bühne fand etwas statt, wovon wir in der Provinz nur träumten. Große Konflikte wurden verhandelt und überall wehten rote Fahnen, die Guten unterlagen und der Dichter Erich Mühsam musste fliehen. Wir waren verwirrt.

Am nächsten Morgen bildete sich vor dem Bahnhof eine große Menschenmenge. Die Leute demonstrierten gegen die Bombardierung Vietnams, sie zogen vor das amerikanische Konsulat und verbrannten die amerikanische Flagge. Das Theater war auf die Straße zurückgekehrt und die politische Manifestation war eine Form von Theater. Das Politische erschien untrennbar verbunden mit dem Theater, die Alltagszene mit der Theaterszene, mit Vorgängen des Protestes. Verhandelt wurde der Tod unschuldiger Menschen. Noch etwas ist in Erinnerung geblieben: Die Teilnehmer der Demonstration waren ältere Männer und Frauen, Arbeiter und Angestellte mit Taschen und Arbeitskleidung. Sie sahen aus wie die Arbeiter aus der Heiligen Johanna der Schlachthöfe.

1.1 Ausgangslage, Fragestellung und These

Seit dieser Zeit ist für mich und einen Teil meiner Generation das Theater mit dem Politischen untrennbar verbunden. Diese Alltagserfahrung unserer Schulklasse aber entsprach dem Erfahrungshorizont einer ganzen Generation.

Als wir 1980 das Theater am Turm in Frankfurt verließen und begannen freies Theater zu machen, war für uns der Zusammenhang zwischen Theater und Politik selbstverständlich.1

Seit den späten sechziger Jahren taucht in den theaterwissenschaftlichen Diskursen und Debatten das Zwillingspaar von Theater und Politik auf.2 Die Rückkehr zum Politischen stellt im 21. Jahrhundert aber keine Rückkehr zum realistischen, aufklärerischen Theater der sechziger Jahre dar, denn die politischen Verhältnisse sind andere geworden.

Wenn Politik [heute] zur bloßen Verwaltung des Bestehenden wird, verliert sie ihre Funktion als Ort von Utopie. Das kritische „Politisieren“ im Theater, das selten mehr als ein halbinformiertes und emotionales Nachplappern von Klischees ist, verstärkt diese Entwicklung. Sich dem zu verweigern und eine solche Logik von Politik als Sinnproduktion mit der Produktion des Sinnlichen zu beantworten, ist die Antwort zeitgenössischer Darstellender Künstler auf diese Situation.3

Zwar ist die Idee vom organischen Intellektuellen und Künstler, der um die gesellschaftlichen Verhältnisse weiß, nicht gänzlich verschwunden, doch der Typus des Künstlers hat sich verändert. Mag der Theaterkünstler den Verlust von Utopie oder den der Fähigkeit von Kunst, überhaupt Einfluss auf gesellschaftliche Realitäten zu nehmen, auch bedauern,4 so sind dennoch die Änderungen gesellschaftlicher Realitäten durchaus mächtiger, als es der empfundene Verlust von Utopie in den Köpfen zeitgenössischer Theatermacher ist.

So sehr die „Rückkehr des Politischen“ von Theaterfunktionären beschworen wird,5 so sehr nimmt selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Kenntnis, dass Europa – das Mutterland von Polis und Monade, von Demokratie und Tragödie – längst begonnen hat, die Demokratie abzuschaffen.6

Europa ist der Kontinent der Demokratie. Das feierliche Selbst - bewusstsein, das von dieser Überzeugung ausgeht, gehört unverbrüchlich zum europäischen Projekt. Der Wohlstand wurde in soliden Demokratien erwirtschaftet. Und die Anziehungskraft der Volkssouveränität im Westen – nicht nur der Reichtum – hat den Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus nach 1989 erst herbeigeführt. Doch die Zeiten ändern sich: Ein gutes halbes Jahrhundert nach der Formierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit Hilfe der Römischen Verträge und gut zwanzig Jahre nach dem trium phalen Beitritt junger Demokratien wie Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien befindet sich der Kontinent in einer schweren Verfassungskrise. Dass die mangelnde Legitimation ihrer politischen Entscheidungen unter dem Deckmantel einer anderen, nämlich einer staatlichen Konkursverschleppungskrise verschleiert wird, macht die Lage nicht gerade angenehmer: Das Projekt Europa als friedlicher Zusammenschluss unabhängiger Nationen ist gerade dabei, sich abzuschaffen.7

Der Begriff der Postdemokratie ist zu einem Gegenstand der politischen Wissenschaften und damit auch zum Thema unserer Forschung über Theaterpolitik im 21. Jahrhundert geworden. Eine der zentralen Thesen in den aktuellen Diskussionen über Postdemokratie besagt, dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von privilegierten Eliten kontrolliert werden. Die Umsetzung neoliberaler Politik habe zu einer „Kolonisierung“ des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden geführt, so dass wichtige politische Entscheidungen heute außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt würden. Der Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen zeige sich in einer zunehmenden Entpolitisierung.8

Wir könnten es mit einer ungleichzeitigen Entwicklung zu tun haben. Einerseits wird das Politische im Theater von seinen Funktionären und Dramatikern wieder betont, andererseits hat der neoliberale Globalisierungsprozess so stark gewirkt, dass jede Rückkehr des emanzipativen Politischen in der Kunst wirkungslos bleiben wird. Colin Crouch stellt die These auf:

[…] je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.9

Folgt man ihr, so würde der Widerspruch zwischen dem Theater als politischem Ort und der postdemokratischen Gesellschaft als gewollt entpolitisiertem Feld entpolitisierter affirmativer Akteure größer, möglicherweise aber auch dramatischer werden. Die nach wie vor bestehende kulturpolitische Tendenz, Theater auch in der Bundesrepublik schließen zu wollen, entlarvt sich vor diesem Hintergrund als nicht primär fiskalische Entscheidung. Es geht im Theater natürlich um Inhalte, aber heute ist weniger der alte aufklärerische Ansatz, dass Theater über Unterdrückung und seine konkreten Mechanismen den Zuschauer aufklärt, gefragt. Es geht heute weniger darum, politisches Theater zu machen, als vielmehr Theater politisch zu machen. Wir verfolgen daher den Prozess einer Verschiebung, wir wollen wissen, wie im Verhältnis von Theater, Recht und Politik der neoliberale Einfluss gewirkt haben wird.

Das aktuelle Verhältnis von Theater und gesellschaftlichem Raum phänomenologisch zu untersuchen, um zu ergründen, ob es und von wem es gewollt ist, wer als political player in Betracht kommt und wie sich die Kulturpolitik gewählter Vertreter und die Kultur des Politischen zueinander verhalten, ist eine zentrale Fragestellung dieser Arbeit.

Ausgehend von Ernst Blochs Konzept der Ungleichzeitigkeit10 stellt diese Forschung die These auf, dass es kein eindimensionales Abbildungsverhältnis mehr von Gesellschaft und Theater gibt; die Tendenzen zur Entpolitisierung der Gesellschaft und des Theaters sind unverkennbar. Dennoch zeigt sich am Horizont eine Gegenbewegung. Obwohl sich in vielen Stadttheatern die Spielpläne und Inszenierungsweisen an affirmativen Kultur- und Herrschaftsformen orientieren, wird Theater da wieder politisch, wo die Produktionsform das Kollektive zu entwickeln hilft.11

Außerhalb des Theaters aber stellt sich die kommunale Kulturpolitik als drängende Kraft der Entpolitisierung dar – sowohl was die Rahmenbedingungen als auch was die Binnenebene betrifft. Die Vertreter dieser entpolitisierenden Prozesse, die Protagonisten und Akteure, sind die Kulturreferenten und Dezernenten, die Geschäftsführenden Direktoren, kurzum die „Kulturangestellten neuen Typus“. Zwar existieren in den Äußerungen einzelner Theater- und Kulturpolitiker rhetorische Hülsen, die das Theater als aufklärerischen Ort propagieren, letztlich aber sind die praktische Politik und ihre Vertreter weder Willens noch in der Lage, das Theater in der Stadtkultur als philosophischen und widerständigen Ort zu akzeptieren.

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