Bauen in zerstörten Städten

von

III
Was sich damals hervortat und heute vielfach unter denselben theoretischen Drapierungen erscheint, ist ein Totalitätsanspruch der Moderne, vorgetragen von einzelnen theoretisierenden und praktizierenden Protagonisten; wie jeder Totalitätsanspruch zeugt auch dieser von einem unbewältigten Minderwertigkeitskomplex. Die zeitgenössische Architektur weiß, was ihr fehlt gegenüber der Formensprache älterer und alter Zeiten; sie weiß um die Verarmung und Radikalisierung, die die ästhetische ebenso wie die technologische Entwicklung ihr auferlegt haben. Daß sie Qualitäten anderer Art entwickelte, liegt auf der Hand, aber sie können die verschwundenen nicht ersetzen und nicht kompensieren; auch ist die grundsätzliche Differenz so groß, daß es besonderer Fühlsamkeit bedarf, das eine mit dem andern zu verbinden. Fühlsamkeit aber ist genau die Kategorie, mit der große Teile der zeitgenössischen Architektur auf dem Kriegsfuß stehen. Aus allen diesen Gründen sind ihre Protagonisten oft so empfindlich gegenüber dem Gedanken, daß in der Architektur, ganz ähnlich wie in der Musik, die materielle Wiedervergegenwärtigung des vor Zeiten Gelungenen nicht nur möglich, sondern vielfach geboten ist, natürlich unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen das Vorhandensein der Partituren – also von Unterlagen und Dokumentationen der Originale – und die Authentizität des Bauplatzes zählt.

Die fachmännische Überwachung solcher Iterationen ist in jedem Fall von größter Bedeutung; sie fällt in die Verantwortung der kommunalen bzw. staatlichen Instanzen. Es darf nicht dem jeweiligen Bauherrn überlassen bleiben, wie getreu und mit welchen Materialien er eine alte Fassade wiedererstehen läßt. Gerade der irrationale Widerstand, den das iterative Verfahren als solches immer noch findet, führt häufig dazu, daß seine Anwendung in das Belieben der Investoren gestellt wird. Handhaben diese es oberflächlich, dann ist nicht das Verfahren als solches in Frage zu stellen, sondern die Sorglosigkeit der Behörden. Das beginnt bei der Vergabe der betreffenden Grundstücke, für die die Kommunen vielfach so hohe Preise fordern, daß der architektonischen Qualität von vornherein Grenzen gesetzt sind.

Es ist eine beliebte Irreführung, die Befürworter der prinzipiellen Zulässigkeit solcher Iterationen zu Gegnern der zeitgenössischen Architektur zu erklären. Dabei geht es einzig darum, deren Totalitätsanspruch abzuwehren. Es fehlt nicht an guter neuer Architektur in unserer Zeit und immer wieder gibt es auch die exzellente; zugleich ist deutlich: es gibt kein Gelingen an sich, sondern nur an einem bestimmten Platz, in der Zuordnung zu dem, was schon dasteht. Wenn dieser Bauplatz wie im Fall des Dresdner Neumarkts durch einen Wiederaufbau bestimmt wird, der als archäologisch getreue Neuerrichtung einer berühmten alten Kirche zum Staunen und zu der Freude der Welt geglückt ist, dann ist die Vorstellung zwingend, daß die bauliche Umfassung eines solchen Wunderwerks schöpferischer Reproduktion auf dessen Gestalt Rücksicht zu nehmen habe. Das ist ringsum in großem Umfang geschehen, sowohl mit erneuerten alten Fassaden, die sich dem früh gefundenen Prinzip des Leitbaus immerhin annähern, wie mit kompletten Neubauten, deren Außenseite sich ideenreich in Reih und Glied der vorgegebenen Parzellenstruktur stellt.

Wenn hinter den erneuerten alten Fassaden dann mit andern Nutzungen andere bauliche Strukturen Raum greifen, dann entspricht das den Prinzipien, nach denen in den Jahrzehnten nach dem Krieg Theater, Museen und andere öffentliche Gebäude wiederaufgebaut wurden. Nur bei Kirchen war es manchmal möglich, Innen und Außen in das alte Verhältnis zu setzen. In Dresden beispielsweise wären weder das Albertinum noch das Schauspielhaus noch das augusteische Blockhaus und auch nicht die Semperoper wiedererstanden, wenn man nach jener puristischen Maxime verfahren wäre, die das Unmögliche, nämlich die totale oder auch archäologische Rekonstruktion, fordert, um das Mögliche zu verhindern. Es ist nicht einzusehen, warum privat finanzierte Neuerrichtungen weniger pragmatisch verfahren sollten als jene öffentlich finanzierten Wiederaufbauten, ohne die wir uns unsere Städte gar nicht vorstellen können. Abweichungen zwischen Innen- und Außengestalt zeigten auch die alten Häuser selbst, als es sie noch gab; alte Dresdner wissen, daß die barocken Geschäftshäuser inwendig oft weitgehend umgestaltet waren. Wenn die alte Stadt selbst verloren ist, dann ist es – das zeigen auch Warschau und Danzig – wichtig genug, an exponierten Stellen wenigstens teilweise ihr Bild und damit zugleich ein Vorbild ästhetischen Gelingens und menschengerechter Proportionen wiederzugewinnen, insbesondere dort, wo es, wie in Dresden, gilt, einem nun tatsächlich archäologisch exakten Neu- und Wiederaufbau städtebaulich gerecht zu werden.

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