Heft 01/2011
Vision Ciulli
Der Gründer des Theater an der Ruhr in Mülheim Roberto Ciulli
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Allenthalben finden wir in diesen Tagen Diskussionen zum Thema Theater und Krise angesetzt. Gemeint ist kein ästhetisches Desaster, sondern der nackte Mann Kommune, dem man bekanntlich nicht in die Tasche greifen kann. Fällig wäre eine Diskussion über eine Strukturreform des Theaters, werden doch längst rund 90 Prozent der Subventionen nicht von der Kunst, sondern vom Apparat verschlungen. „Das ist ungesund!“, sagten sich vor 30 Jahren Roberto Ciulli und Helmut Schäfer und fuhren das Verhältnis am Theater an der Ruhr in Mülheim auf balancierte 50 : 50 zurück. Wird aus dem Symptom Ciulli die Vision Ciulli?, fragte sich Frank Raddatz und diskutierte mit Mülheims Nestor die Zukunftsfähigkeit des deutschen Stadttheaters: Wie könnte gerade die Bühne jene kollektive Intelligenz hervorbringen, die auf die Ära der Ichlinge (Opaschowski) folgt? Während Ciulli das Eis der Restaurationsepoche leise knirschen hört, fegt der Tauwind auch durch das Gespräch von Klaus Theweleit und Frank Raddatz, die anlässlich von Raddatz’ neuem Buch über Brecht und Müller von Kathrin Tiedemann ans FFT Düsseldorf geladen wurden, um über die Neuformulierung des politischen Theaters zu sprechen.
Einen Beitrag dazu stellen auch Claudia Bosses „Vampires of the 21st Century“ im FFT Juta in Düsseldorf und im Kartographischen Institut in Wien dar. Die Abart der derridaschen Gespenster erobert das performative Drahtseil, welches in diesem Fall ein Rhizom aus akustischen Hörsträngen ist, wie Sebastian Kirsch überrascht feststellt. Das Gespenst, das sich durch die Gehörgänge der Jetztkarte windet, ist vielleicht mit jenem Khu oder Ka verwandt, das Eingeweihte aus der ägyptischen Seelenwanderungslehre kennen. Jene von sieben Seelen des alten Ägypters, auf die es ankommt und die maßgeblich an der Mutter aller Revolutionen beteiligt war, als es den randalierenden Massen gelang, Unsterblichkeit für alle durchzusetzen. „Khu“ heißt denn auch die neueste Kunstaktion des Performancekünstlers Matthew Barney und seines Komponisten Jonathan Bepler, ein rite de passage, der uns in ein zeitgemäßes Reich der Toten führt, das sich mitten in Detroit, der Stadt der Autos, zentriert, wie Jörg von Brincken schreibt.
Wer bedauert, nicht dabei gewesen sein zu können, kann sich mit William Burroughs’ Poproman „Western Lands“ trösten. Auf wen das zu depressiv wirkt, der kann sich mit Ralph Hammerthaler in Sibirien auf die Spur Dostojewskis begeben, sibirische Schönheiten bewundern, die sich im Oktober Gras kauend auf die Wiese legen und gegenüber allem Trunkenen ein großes Herz hegen. Vom Irtysch geht es im Fahrwasser der Dichtung weiter: „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, ein Roßhändler“ – mit diesem legendären Satz der Prosa Kohlhaas’ startet Theater der Zeit ins Superkleistjahr. Monatlich berichten wir, was sich im Kleist-Universum Nennenswertes zuträgt, und schwenken wohlgelaunt die Fahne des Prinzips Hoffnung, auf dass es am Ende nicht heißen möge: „Das war nicht Kleist, sondern Kleister!“ Holger Teschke jedenfalls gelingt es, mit dem der Industriespionage verdächtigen Kleist die Prämissen der Wachstumsgesellschaft in Frage zu stellen. Ganz so stürmisch geht es in Naumburg nicht zu. Auch wenn der Polizeipräsident an der Saale den Nietzsche-Preis nicht persönlich verleiht, lässt er es sich doch nicht nehmen, an der Verleihung teilzunehmen. Ob das Theater in Naumburg noch Reste des philosophischen Explosionsstoffes – „Ich bin Dynamit!“ (Nietzsche) – zur Zündung bringt, untersucht Lena Schneider. In Lüneburg überzeugt sich Gunnar Decker persönlich, was es von der neuen Intendanz und der Dramaturgie zu vermelden gibt, und findet keinen Grund, seine Exkursion zu bereuen.
Freuen wir uns auf ein Jahr, in dem es auf dem Kontinent mächtig knirschen wird, was ja die Kunst, die bekanntlich von der Bewegung lebt, vom Zufall und der Gunst des Augenblicks, nur bereichern kann.
Die Redaktion
PS: Eben erreicht uns eine Botschaft von Deutschlands Ägyptologie-Star Jan Assmann. Ka, die Doppelgängerseele, ist keineswegs mit Khu, dem Totengeistvogel, verwandt. Und der heißt eigentlich auch „Ach“, wie die Forschung seit dem 20. Jahrhundert weiß. Matthew Barney, der sich auf Norman Mailer bezieht, sitzt hier anscheinend einer überholten Lesart auf.
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Künstlerinsert | Seite 2 |
„Khu“,der zweite Akt des Performance-Zyklus „Ancient Evenings“ von Matthew Barney und Jonathan Bepler | |
Porträt | Seite 8 |
Staubwind anderer WeltenDer Performancekünstler Matthew Barney betreibt mit „Khu“ die Reinkarnation altägyptischer Mythen in den Wastelands der Industrienekropole Detroitvon Jörg von Brincken | |
Debatte | Seite 12 |
Vision CiulliRoberto Ciulli, Gründer des Theater an der Ruhr in Mülheim, über die Dummheit der Mehrheit, die kollektive Intelligenz des Theaters und den Mut zum Unvorhersehbaren im Gesprächvon Frank M. Raddatz und Roberto Ciulli | |
Aktuelle Inszenierung | |
Auf der Kippe spielenDie Jelinek-Inszenierungen „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Hermann Schmidt-Rahmer in Düsseldorf und „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“ von Karin Beier in Kölnvon Ulrike Haß | Seite 16 |
Die Gegenwart ist ein weißer FleckClaudia Bosses „Vampires of the 21st Century oder Was also tun?” im FFT Düsseldorf und im Kartographischen Institut Wien fragt nach den Orten der Zeitvon Sebastian Kirsch | Seite 20 |
Kleist 2011 | Seite 22 |
Recht schaffenKleist 2011 (1) Gedanken beim Wiederlesen von Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“von Holger Teschke | |
Neustart | |
Guckt euch selbst anDie neuen Schauspieldirektoren Kay Voges in Dortmund und Matthias Gehrt in Krefeld-Mönchengladbach betreiben Standortanamnese und finden doch auch Fremdesvon Friederike Felbeck | Seite 25 |
Wissen macht nicht immer klugUnter der neuen Intendanz von Hajo Fouquet bricht das Theater Lüneburg mit Altbekanntemvon Gunnar Decker | Seite 28 |
Gespräch | Seite 30 |
Der doppelte BlickKlaus Theweleit und Frank Raddatz über Heiner Müllers Sturm auf den Brecht-Thron im Gespräch mit Kathrin Tiedemannvon Frank M. Raddatz, Klaus Theweleit und Kathrin Tiedemann | |
TdZ entdeckt | |
Hinter der Wohlfühl-FolieAusstatterin Sophie du Vinage sorgt für atmosphärische Raumerlebnisse, die nur vordergründig heimelig sindvon Michael Helbing | Seite 34 |
Panzer einer sensiblen SeeleDer Schauspieler Nico Holonics gibt seine großen Dramenhelden äußerlich aalglatt, aber doch unruhig in ihrer existenziellen Verlorenheitvon Christoph Leibold | Seite 35 |
Hausporträt | |
Uta und die AndereNaumburg an der Saale hat nicht nur mittelalterliche Perlen zu bieten – sondern jetzt auch wieder eine Bühne, die der Beamtenresidenz Stadttheater sein willvon Lena Schneider | Seite 36 |
Die Spurensucher aus dem SüdenDas Theater Freiburg feiert seinen 100. Geburtstagvon Bodo Blitz | Seite 38 |
Ausland | Seite 40 |
Das sibirische GefühlDiesseits von Dostojewski – Warum man in Omsk glücklich sein kann wie ein Idiotvon Ralph Hammerthaler | |
Autorengespräch | Seite 44 |
Die magische Gabe, seltsam zu seinDer russische Autor Michail Durnenkow über das Verborgene der russischen Gesellschaft und die mystischen Momente des Alltags im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Michail Durnenkow | |
Stück | Seite 46 |
Kulturschichtvon Wjatscheslaw Durnenkow und Michail Durnenkow | |
Auftritt | |
Basel - Im Sprachlabor der SinneTheater Basel: „Meine faire Dame – Ein Sprachlabor“ (UA) von Christoph Marthaler. Regie Christoph Marthaler, Bühne Anna Viebrock, Kostüme Sarah Schittekvon Dominique Spirgi | Seite 54 |
Frankfurt am Main - Kammerspiel für eine LeicheSchauspiel Frankfurt: „Die Ängstlichen und die Brutalen“ (UA) von Nis-Momme Stockmann. Regie Martin Kloepfer, Ausstattung Esther Hottenrottvon Shirin Sojitrawalla | Seite 55 |
Leipzig - Blubbernde Krankheit KriegCentraltheater: „Der Zauberberg“ nach Thomas Mann. Regie und Bühne Sebastian Hartmann, Kostüme Adriana Braga Peretzkivon Johanna Lemke | Seite 56 |
Weimar - Rettungsversuch für HugoDeutsches Nationaltheater Weimar: „Die schmutzigen Hände“ von Jean-Paul Sartre. Regie Nora Schlocker, Ausstattung Jessica Rockstrohvon Michael Helbing | Seite 57 |
Kommentar | Seite 59 |
Ungarn: Die Rechte auf dem Eroberungszugvon Andrea Tompa | |
Lesarten | Seite 60 |
William Shakespeare: „Timon von Athen“gelesen von Holger Teschkevon Holger Teschke | |
Kolumne | Seite 61 |
Ich suche nicht, ich findevon Thomas Thieme | |
Magazin | |
Ganz und gar nicht ridikül60 Jahre und kein bisschen grau – das Theater an der Parkaue in Berlinvon Gunnar Decker | Seite 62 |
Herr Chu und der ewige FrühlingDas Dong-Xuan-Festival in Berlin-Lichtenberg: Ein Erlebnisbericht über ein Theaterprojekt auf dem größten vietnamesischen Einkaufsmarkt in Deutschlandvon Nora Bussenius | Seite 64 |
Dem Inseldasein ein Ende setzenDie Deutsche Theaterwoche in Havanna liefert der kubanischen Theaterszene neue Impulsevon Mehdi Moradpour | Seite 65 |
Ruhm oder Geld?Das Dortmunder Festival Favoriten 2010 sucht nach neuen Formen urbanen Lebens – und wird fündigvon Kim Stapelfeldt | Seite 66 |
Ecce homoOpfer unserer Blicke, Erwiderer unseres Blicks – Romeo Castelluccis „On the concept of the face, regarding the son of God“ erzählt eine Leidensgeschichte ohne Erlösungvon Eleni Papalexiou | Seite 67 |
Dem Leben abgelauschtDie Bürgerbühne des Staatsschauspiel Dresden gibt Menschen Raum für ihre eigenen Geschichtenvon Andreas Herrmann | Seite 68 |
Kunst mit und zwischen den KulturenDer 3. Bundesfachkongress Interkultur „Offen für Vielfalt – Zukunft der Kultur“ in Bochumvon Azadeh Sharifi | Seite 69 |
Wie geht’s? Was soll’s? Wo knallt’s?Die ASSITEJ-Konferenz „Theater und Schule“ in Münchenvon Sabine Leucht | Seite 70 |
Der ModellbauerZum Tod des Regisseurs der „Linie 1“ Wolfgang Kolnedervon Wolfgang Schneider | Seite 71 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | |
Insa Wilke: Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch.Matthes & Seitz, Berlin 2010, 319 S., 29,90 EUR, ISBN 978-3-88221-540-3von Frauke Pahlke | Seite 72 |
Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren.transcript Verlag, Bielefeld 2010, 240 S., 26,80 EUR, ISBN 978-3-8376-1274-5von Tom Mustroph | Seite 73 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 74 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 75 |
(31): Castorf redivivus oder Gibt es noch eine Chance für das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, bevor es zum Tanzpalast umfunktioniert wird? Ein Hoffnungsschimmervon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 76 |
Sachsen: Protest gegen faktische Kulturraumkürzungenvon Michael Bartsch | |
Potsdam: Theater in Not und erfinderischvon Roland Schneider | |
Meldungen | Seite 77 |
Premieren | Seite 78 |
Januar 2011 | |
Jahresindex | Seite 80 |
2010 | |
Vorschau | Seite 87 |
Autoren | Seite 87 |
Impressum | Seite 87 |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Anna Viebrock?von Ute Müller-Tischler und Anna Viebrock |
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Nora Bussenius
Roberto Ciulli
Gunnar Decker
Michail Durnenkow
Wjatscheslaw Durnenkow
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Ralph Hammerthaler
Ulrike Haß
Michael Helbing
Andreas Herrmann
Sebastian Kirsch
Christoph Leibold
Johanna Lemke
Sabine Leucht
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
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